Chancengleichheit – das leere Versprechen des deutschen Schulsystems

Wenn über das deutsche Schulsystem gesprochen wird, fällt immer wieder der Begriff der Chancengleichheit. Deutschland bemüht sich diese zu realisieren, aber gelingt dies auch? PISA-Studien, Bildungsforscher*innen und auch das Bundesverfassungsgericht sind klar der Meinung: Chancengleichheit gibt es im deutschen Schulsystem nicht. Immer noch bestimmen zu viele Zufälle über den Erfolg der schulischen Laufbahn deutscher Schüler:innen. Das Problem liegt in der mangelnden Garantie, dass ein hohes Bildungsangebot als Mindeststandard gesehen wird. Somit können  auch Rücktritte oder Fördermaßnahmen keine Besserung der Chancengleichheit erzielen, wie ein neuer Beitrag des Spiegel Panoramas zeigt (Chancengleichheit: Das leere Versprechen des deutschen Schulsystems,  https://www.spiegel.de/panorama/bildung/chancengleichheit-das-leere-versprechen-des-deutschen-schulsystems-a-1fe759aa-f275-4aff-99d5-b6160fd7df23).

Ines Finke (Von Studierenden für Studierende)

Seit dem PISA-Schock im Jahre 2000 steht fest: ein Viertel der getesteten 15-jährigen Schüler:innen erreichen nicht einmal die unterste Kompetenzstufe. Zusätzlich muss hier betont werden, dass Schüler:innen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, nicht mitberechnet werden. Die eigentliche Zahl an Jugendlichen, die diese Stufe nicht erreichen, liegt daher vermutlich um einiges höher. Immerhin haben etwa 10% eines Schuljahrganges einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Um einer familiären Ungleichheit nun entgegenzuwirken, reagiert das deutsche Schulsystem mit Rücktritten, Fördermaßnahmen, Nachteilsausgleichen oder ähnlichem. Diese führen laut aktuellen Forschungen allerdings nicht zum Erfolg. Die einzige Lösung sei demnach die Anforderung an ein höheres Bildungsangebot als Mindeststandards des deutschen Schulsystems, so Professorin Vera Moser, Gründungsdirektorin des Zentrums für Inklusionsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Im November 2021 hat das Bundesverfassungsgericht nun entschieden, dass alle Kinder einen „Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“ (Chancengleichheit: Das leere Versprechen des deutschen Schulsystems – DER SPIEGEL) haben.  Wie das jetzt allerdings genau aussehen soll, bleibt zunächst offen. Kritisiert wird weiterhin, dass zwar viel geforscht worden sei, es aber nie zu einer Debatte zu diesem Thema gekommen sei, obwohl diese für mindestens die letzten beiden Schulreformen (Inklusion und Digitalisierung) von großer Bedeutung gewesen wäre.

Ein großes Thema im Bereich der Chancengleichheit ist der inklusive Unterricht. Spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention hat dieser Themenbereich einen großen Stellenwert erlangt. Doch auch gut 13 Jahre später gibt es keine Möglichkeiten, inklusiven Unterricht empirisch darzulegen. Einheitliche Kriterien hierzu gibt es nicht.

Die Chancenungleichheit zeigt sich auch im Bereich der Schulabschlüsse. 71% der Schüler:innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die an Förderschulen unterrichtet werden, erlangen keinen Schulabschluss. An Regelschulen in Hamburg oder Thüringen liegt dieser Wert bei 29% beziehungsweise 36%. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Schüler:innen an Regelschulen deutlich bessere Chancen für ihre Zukunft haben als Schüler:innen an Förderschulen. Ähnliches zeigt sich in den Corona-Lockdowns. Ob die Schüler:innen einen adäquaten Unterricht erhielten war nicht nur schul-, sondern auch lehrkräfteabhängig, wodurch die zuvor genannten Zufälle ins Spiel kommen.

Die Lösung sei daher eine qualitative Untersuchung des Unterrichts an deutschen Schulen. Hierzu gab es Versuche eine Schulinspektion einzuführen, diese scheiterten jedoch. Externe Evaluationen sind beispielsweise in Hessen oder Sachsen ausgesetzt und durch interne Evaluationen ersetzt worden. Ebenso sind die Qualitätsmerkmale der Qualitätsrahmung in den einzelnen Bundesländern fraglich. Die Qualitätsbereiche schwanken zwischen sechs (Brandenburg) und drei (Thüringen). Auch hier zeigen sich keine einheitlichen Regelungen, die zu einer deutschlandweiten Chancengleichheit beitragen würden.

Der Ruf nach national einheitlichen Rahmungen zur Schulqualität und Mindestanforderungen wird lauter. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern sind zu groß, als dass Chancengleichheit aktuell  überhaupt stattfinden kann.