Geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Ukraine – ein Ankommen voller Barrieren?

Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine kommen täglich Tausende geflüchtete Menschen in Deutschland an. Unter ihnen auch viele, die eine spezielle Hilfe benötigen. Laut Angaben der Lebenshilfe gibt es in der Ukraine offiziell mehr als 261.000 Menschen mit einer Behinderung, davon sind mindestens 159.000 Kinder (vgl. https://www.lebenshilfe.de/informieren/familie/krieg-in-der-ukraine#menschen-mit-behinderung-d-rfen-nicht-vergessen-werden).

Marie Horsthemke (Von Studierenden für Studierende)

Die Menschen in der Ukraine kämpfen mit allen Facetten des Krieges, eine zerstörte Heimat und verletzte oder getötete Familienmitglieder sind hier nur die Spitze eines Eisberges voller Leid. Tausende Menschen flüchten aus der Ukraine und suchen Sicherheit in anderen Ländern. Die Situation in der Ukraine und eine mögliche Flucht hat für Menschen mit Behinderung noch weitere Dimensionen. In der Ukraine selbst gibt es aufgrund des Krieges keine Sprach- oder Physiotherapie mehr, an einen geregelten Alltag ist nicht mehr zu denken. Die überlebenswichtige Routine für so viele Menschen fällt weg (vgl. https://taz.de/Gefluechtete-aus-Ukraine-mit-Behinderung/!5843376/). Alle Tageszentren sind geschlossen, die gemeindenahen Dienste wurden bereits eingestellt (vgl. https://www.lebenshilfe.de/informieren/familie/krieg-in-der-ukraine#menschen-mit-behinderung-d-rfen-nicht-vergessen-werden). Die Familien sind erschöpft, viele von Krankheiten betroffen. Hinzu kommen Angriffe, Lebensmittelknappheit, fehlender Zugang zu medizinischen Leistungen – lebensnotwendige Medikamente für Menschen mit Behinderung sind nicht mehr gesichert. Auch an Aspekte wie die Beweglichkeit muss gedacht werden. So können Menschen, die in einem Rollstuhl sitzen, nicht einfach in einen Luftschutzkeller ein- und ausgehen. Sie sind quasi zu Hause und in ihren Wohnungen eingeschlossen – ein oft vergessenes Risiko (vgl. https://www.dw.com/de/ukrainische-flüchtlinge-mit-behinderung-brauchen-besondere-hilfe/a-61636374).

Entschließen Menschen mit Behinderungen sich dann zur Flucht, kommen die nächsten Barrieren auf sie zu. Die Fluchtwege sind zerstört, Fluchtrouten und Transportmittel nicht barrierefrei. Dazu kommen stundenlange Wartezeiten an Grenzübergängen und überfüllte Züge (vgl. https://taz.de/Gefluechtete-aus-Ukraine-mit-Behinderung/!5847142/).

Die Sammelunterkünfte sind in der Regel nicht inklusiv, die Ankunft in Deutschland nicht so barrierefrei wie erhofft und notwendig. Anja Köhne, ehrenamtliche Helferin am Berliner Hauptbahnhof kritisiert: „Für queere Menschen und für Menschen of Colour gibt es am Berliner Hauptbahnhof Empfangsstellen. Das ist richtig und wichtig. Es gibt allerdings keine Anlaufstellen für Menschen mit Behinderung. Die Menschen kommen an und sind erst mal verloren.“ Es mangelt an Fachkräften, freien Betten, Informationen in Gebärdensprache und Dolmetscher:innen.

Die Forderungen sind klar und wurden von mehreren Stellen deutlich formuliert. Die „unmittelbare Bereitstellung dringend erforderlicher Hilfsmittel“ und eine „bedarfsgerechte Unterbringung, möglichst außerhalb von Sammelunterkünften“, fordern die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern (vgl. https://taz.de/Gefluechtete-aus-Ukraine-mit-Behinderung/!5843376/).

Natalia Dengler, Geschäftsführerin eines Vereins, der russischsprachige Eltern mit behinderten Kindern berät und vernetzt, fordert für die vom Krieg traumatisierten und neu angekommenen Migrant:innen unbedingt Unterstützung in ihrem Kampf um eine Standardversorgung (vgl. https://taz.de/Gefluechtete-aus-Ukraine-mit-Behinderung/!5847142/).

Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordert rasch niedrigschwellige Hilfen in ukrainischer und russischer Sprache (vgl. https://www.mdr.de/religion/gefluechtete-ukraine-behinderungen-100.html).

Die Menschen brauchen eine behindertengerechte Unterbringung, in der sie zur Ruhe kommen können und das Erlebte verarbeiten können, so die immer lauter werdenden Forderungen. Inclusion Europe ist eine europäische Interessenorganisation für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien. Mitglied ist, neben der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Deutschland, auch die VGO-Koalition in der Ukraine. Die VGO-Koalition ist ein Netzwerk aus 118 ukrainischen Nichtregierungsorganisationen für Menschen mit geistiger Behinderung, die etwa 14.000 Familien aus allen Regionen der Ukraine vertreten. Diese fordern

  1. Die konsequente Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) in nationales Recht. Das bedeutet insbesondere auch die Erhebung des Merkmals Behinderung bei der Aufnahme und die Ermittlung der Unterstützungsbedarfe (Art 21 und Art. 22 Abs. 1 der RiLi).
  2. Das Aufheben der aufenthaltsrechtlichen Zugangsbeschränkungen zu den Leistungen auf Rehabilitation und Teilhabe und die Streichung des § 100 Abs. 2 im SGB IX.  
  3. Ein umfassendes Beratungs- und fachlich begleitetes Selbsthilfeangebot in den Muttersprachen der in Deutschland befindlichen geflüchteten und vertriebenen Menschen mit Behinderung (vgl. https://www.lebenshilfe.de/informieren/familie/krieg-in-der-ukraine#menschen-mit-behinderung-d-rfen-nicht-vergessen-werden).

Doch wie sieht die Situation derweil in Deutschland aus?

Die ehrenamtliche Helferin Anja Köhne berichtet: „Die Menschen, die hier ankommen, sind schwer traumatisiert. Sie haben spezielle Bedürfnisse, die gerade jetzt beachtet werden müssen. Dafür fehlen die Kapazitäten“. Viele Helfer:innen und Verantwortliche fühlen sich alleine gelassen. Die Betreuungsstrukturen für Menschen mit Behinderung seien restlos überstrapaziert, „die Leute kommen in Deutschland in einem System an, das in sich zusammenfällt. Es wird zu 80 Prozent von ehrenamtlichen Strukturen getragen, der kleine Rest sind staatliche Träger“, beklagen sich ehrenamtliche Helfer:innen.

Die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern appellieren in ihrem Schreiben an die amtierende Regierung, dass die Situation von geflüchteten Menschen mit Behinderung in Deutschland derzeit katastrophal sei. Zurzeit ist der einzige russischsprachige Verein in ganz Deutschland, der Kinder mit Behinderung unterstützt, die Sputniks e.V.  Dieser Verein wird getragen von Ehrenamtlichen, die selbst aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und Kinder mit Behinderungen haben. Seit 2009 ist dieser Verein aktiv und stößt derzeit selbst an seine Grenzen. Es haben sich bereits Tausende Familien aus der Ukraine bei ihnen gemeldet und benötigen Hilfe, vor allem bei Sprachbarrieren, langen Wartezeiten und fehlenden Betreuungskapazitäten (vgl. https://taz.de/Gefluechtete-aus-Ukraine-mit-Behinderung/!5843376/). Der Bund hat eine Kontaktstelle für Geflüchtete mit Behinderung eingerichtet. Diese soll zwischen Organisationen, die Menschen mit Pflegebedarf oder Behinderung aus der Ukraine evakuieren und Einrichtungen in Deutschland, die diese Menschen aufnehmen können, vermitteln. Das Deutsche Rote Kreuz ist der Partner dieser Organisation. Den größten Anteil machen jedoch weiterhin die vielen kleinen Einzelinitiativen aus, welche Hilfe bei der Flucht und auch Hilfe direkt vor Ort für behinderte Menschen leisten. Sie werden mit hunderten bis tausenden Anfragen konfrontiert. Reiner Delgado, Vorsitzender des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, kritisiert, dass es sich hier um Aufgaben handele, für die die Struktur der kleinen Vereine nicht ausgelegt sei. Ein großer Träger, der die Arbeit übernimmt, sei in seinem Verein nicht gefunden worden: „Das frustriert“ (vgl. https://www.mdr.de/religion/gefluechtete-ukraine-behinderungen-100.html).

Die Geflüchteten bräuchten vor allem auch einen Platz, an dem sie zur Ruhe kommen können, so Ulrike Lessig, Vorsitzende des Berliner Vereins „Be an angel“. „Diese Menschen waren viele Stunden unterwegs. Sie mussten alles zurücklassen, ihr komplettes Leben und alles drumherum. Einige Freunde und Familienmitglieder, die Männer, mussten vielleicht in der Ukraine bleiben. […]  Da ist Krieg. Diese Menschen kommen nicht hierher, um eine Kur zu machen. Es ist Krieg.“ (vgl. https://www.dw.com/de/ukrainische-flüchtlinge-mit-behinderung-brauchen-besondere-hilfe/a-61636374).