„Damals, als dein Herr aus den Kindern Adams, aus ihren Lenden ihre Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich zeugen ließ: ‚Bin ich nicht euer Herr?‘. Da sprachen sie: ‚Jawohl, wir bezeugen es!‘. Damit ihr nicht am Tag der Auferstehung sagt: ‚Wir wussten nichts davon!‘“ (Q 7:172).
Im Vers 172 der siebten Sure des Korans („Die Höhen“) wird beschrieben, wie Gott mit der ganzen Menschheit einen Bund schließt. Er entnimmt aus den Kindern Adams ihre Nachkommenschaft und lässt sie bezeugen, dass Gott ihr Herr ist. Gleich darauf wird gewarnt, dass danach keiner mehr eine Ausrede hat, dass Gottes Zusage ihn nicht erreicht hat. Die traditionelle muslimische Koranexegese hat zu bestimmen versucht, wann und mit wem Gott diesen Bund geschlossen hat: Sind hier konkrete Gruppen gemeint oder die ganze Menschheit? Zu welchem Zeitpunkt hat Gott diesen Bund geschlossen? Etwa bei der Erschaffung Adams? Tatsächlich trägt die hier besprochene koranische Szene die Züge einer mythischen Vorzeit. Ganz bewusst scheint der Vers von jeglichen räumlichen und zeitlichen Koordinaten enthoben. Die konkrete Identifizierung einer Gruppe oder Person scheint hier gar nicht gewollt zu sein. Vielmehr ist die gesamte Charakteristik des Verses dem Gedanken von Gottes ewiger Zusage an die ganze Menschheit verpflichtet. Von menschlicher Perspektive lässt sich dieses Verhältnis in zeitlichen Kategorien schwerlich fassen: In welcher Relation steht das endliche Leben des Einzelnen zum ewigen Gott? Und welcher Moment in der Geschichte begründet das Gott-menschliche Verhältnis? Vers 172 scheint genau diese Fragen durch ein mythisches Bild zu fokussieren: Gottes ewige Zusage an die Menschheit wird in einem einzigen überzeitlichenMoment gefasst. Dieser Moment ist jeglicher zeitlicher und räumlicher Koordinate enthoben. Denn Gottes Zusage besteht seit ewiger Zeit und ist universal: Sie umfasst Adam, seine Nachkommen und dessen Nachkommen. Es ist nicht ein konkreterMoment in der Geschichte der Menschheit, der dieses Gott-menschliche Verhältnis begründet. Vielmehr kann sich jeder Mensch gewiss sein, dass für ihn immer schon die Zusage Gottes besteht und dass er diese freiheitlich annehmen kann.
Dr. Zishan Ghaffar ist Vertretungsprofessor für Koranexegese – Seminar für Islamische Theologie Koranwissenschaften – an der Universität Paderborn.
Ursprünglich sollte dieser Eintrag von der Grundsteinlegung des House of One in Berlin berichten, dem Bet- und Lehrhaus dreier Religionen, in dem auch Menschen Platz finden, die „nichts mit Religion am Hut haben“. Wie das Team der Stiftung jedoch vor kurzem bekannt gab, kann die Grundsteinlegung aufgrund der aktuellen Situation nicht wie ursprünglich geplant am 14.04.2020 stattfinden. Gleichzeitig wird durch die Mitteilung aber auch ein Blick darauf gegeben, was uns erwartet hätte und was uns noch erwarten wird: eine „festliche Veranstaltung“ in Verbindung mit einer zweitätigen Tagung über „Religionen als Brückenbauer“ unter Beteiligung von Vertretern der internationalen Partnerprojekte uvm. Dieser kleine Teaser über die ursprünglich geplanten Bestandteile lässt bereits erahnen, wie breit das House of One schon jetzt aufgestellt ist. Eine Internationalisierung, die mit dem Architekturwettbewerb 2012 begann und sich in den letzten Jahren zu zahlreichen internationalen Beziehungen, Partnerprojekten und Projektbotschaftern entwickelte.
Aber es gibt noch mehr Komponenten, die in der kurzen Ankündigung enthalten sind: Es geht nicht nur darum, die Grundsteinlegung zu „vollziehen“, um mit dem Bau starten zu können; vielmehr ist das Ziel, einen Schritt von vielen noch folgenden Schritten zu gehen, bei dem Gäste der Veranstaltung und Projektbeteiligte ins Gespräch kommen mit Vertreter*innen verschiedenster Religionsgemeinschaften, mit den internationalen Projektbotschafter*innen u.a. aus New York, Amman, Bangui und Tirana – und: dabei geht es immer auch um Ästhetik, darum, einen Raum zu bieten für eine ästhetische und kommunikative Praxis, kraft derer die Potenziale von Religion in die Gesellschaft hineingespiegelt werden und in der Religionen gemeinsam existieren, ohne künstlich in Einklang gebracht zu werden.
Angesichts der aktuellen Krise prasseln durch Social Media täglich eine Vielzahl von Informationen, Meinungen, Fragen, vermeintlichen Antworten, Prognosen, Horrorszenarien, Selfcare-Ratschlägen und Corona-Memes auf uns ein. Der folgende Tweet ist erst einmal recht unspektakulär, aber hat mich eine ganze Weile beschäftigt:
„I just don’t understand y’all academics who are writing/reading/working right now. I spend all day in ball of anxiety. Nothing matters anymore. The world is literally on fire. People are dead. How do you manage to give one fuck about journal reviews?“
Dieser Beitrag einer Soziologin aus den USA wurde zwei Tage nach Absetzen des Tweets 2000mal geteilt und beinahe 19.000mal geliked. Eine beträchtliche Anzahl der 500 Kommentare verweist darauf, dass die hohe Produktivität selbst in Zeiten der Krise den Menschen dabei hilft, irgendwie mit der Situation umzugehen und so etwas wie Normalität zu generieren. Coping-Strategie ist hier das Zauberwort. Der Nine-to-Five-Arbeitstag und das Einhalten von Deadlines hilft dabei, sich von der Welt, die „on fire“ ist, von den eigenen existentiellen Ängsten und Unsicherheiten abzulenken. Besorgniserregend ist, dass das Produktiv-sein-müssen für viele die ganz gewöhnliche Art und Weise, sozusagen ein eingefleischter Mechanismus, zu sein scheint, mit Krisen umzugehen. Angst wird nicht zugelassen, weil Angst gesellschaftlich nicht akzeptabel ist. In diesen Tagen ist die Angst allerdings für viele zur Grundkonstanten des Alltags geworden und derart nahe gerückt, dass die alten Strategien und Ablenkungsmanöver nicht mehr funktionieren. Und auch außerhalb des Privaten ist Angst plötzlich „gesellschaftsfähig geworden“. So verwundert es nicht, dass die Angst auch das zentrale Thema der Predigt des Papstes anlässlich des außerordentlichen „Urbi et Orbi“-Segens auf dem Petersplatz am 27. März ist. „Fürchtet euch nicht!“ ist die Botschaft des Evangeliums, ist die Botschaft Weihnachtens und die Botschaft des kommenden Osterfestes. Angst gehört angesichts der Zerbrechlichkeit des Lebens allerdings zum Menschsein hinzu und lässt sich nicht einfach und auf Dauer abstellen oder verleugnen. So sagt uns die Botschaft eigentlich: „Es ist ok, dass ihr euch fürchtet, lasst die Furcht zu, aber lasst die Furcht nicht das letzte Wort über euch und euer Handeln haben.“ Das gilt in Zeiten der Krise, das gilt aber auch in Zeiten der Normalität.
Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie – Systematische Theologie – der Universität Paderborn.
Für viele Gläubige ist das sonntägliche Hochamt viel mehr als das Ausüben ihres Glaubens. Es das Miteinander in der Gemeinschaft eines Rituals und dessen Tradition; das vor oder nach dem Gottesdienst stattfindende Gespräch sowie das Herauskommen aus manch sozialer Isolierung. In Zeiten von Corona ist auch die Glaubensgemeinschaft vor neue Herausforderungen gestellt.
Seit Jahresbeginn beherrscht die Pandemie weltweit die Medien und wir haben lange nur nach China geschaut. Ende Januar kam Europa auch nach Deutschland und seit zwei Wochen beherrscht Corona vollends unseren sozialen Alltag. Schulen und Unternehmen wurden geschlossen, das soziale Leben ist nahezu auf nicht vorhanden heruntergefahren. Wie äußern sich diese Einschränkungen bei der Ausübung des Glaubens? Kann man ohne das Gemeindegefühl, ohne die Gemeinschaft der Kirche, den Glauben weiterhin aktiv gemeinsam leben?
Die Kirche hat gemeinsame Gottesdienste, Hochzeiten, Taufen und sogar die Feier der Ersten Hl. Kommunion abgesagt. Beerdigungen finden nur noch im allerkleinsten Kreise statt. Die Erstkommunion ist auf die zweite Jahreshälfte verschoben – natürlich unter Vorbehalt. Auch die Bibelstunden, gemeinsame Lesestunden oder das Kaffeetrinken für Ältere Menschen findet nicht mehr statt. Einschränkungen und Maßnahmen, die Gläubige massiv in ihrer Religionsausübung treffen.
Viele Gemeinden bieten ihre Gottesdienste nun online auf verschiedenen Wegen an. Dieses Angebot ist nicht nur von der katholischen oder evangelischen Kirche, sondern auch muslimische Gemeinden halten ihre Feiern online. Kirchengemeinden werden aktiv kreativ, indem sie Andachtsblätter per Schnur vor der Kirche zum Mitnehmen aufhängen oder Lokalradios senden wöchentlich die Andacht im Bürgerradio. Doch ersetzen diese Alternativen den Gottesdienst in der Kirche und das Gemeindeleben?
Die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sind weitreichend und schränken das Recht und die Freiheit auf Religionsausübung ein. Bischof Rudolf Voderholzer hat dazu am Freitag, 27.03.2020 in seinem Hirtenbrief geschrieben, dass Vernunft und Nächstenliebe zu Distanz zwingen und eine Verringerung sozialer Kontakte zwingendes Gebot der Vernunft und christlicher Nächstenliebe sei. Die Kirche ist nicht nur system-, sondern auch heilsrelevant.
Somit ist die physische Distanz derzeit oberstes Gebot. Obgleich man bei den „medialen Events“ mit allen und doch niemandem in Verbindung steht, rufen Gemeinden zur traditionellen „geistigen Kommunion“ auf, die Thomas von Aquin schon im Mittelalter thematisierte. Wer aus Gründen nicht zur Kirche konnte, um die Eucharistie zu empfangen, kann so dem inneren Verlangen nach der Eucharistie Ausdruck verleihen – an einem Ort seiner Wahl.
Sicherlich ist diese mittelalterliche Tradition kein Ersatz für das Konsumieren des Brotes in der Gemeinschaft der Gläubigen während einer Messe, allerdings versucht die Kirche durch die neuen Medien nicht nur modern zu erscheinen, sondern auch in diesen schwierigen Zeiten den Gläubigen bei der Sehnsucht nach Gott Nähe und Beistand zu schenken.
Stephanie Theus ist Mitarbeiterin am ZeKK und Studentin der Katholischen Theologie im Lehramt an der Universität Paderborn.
Das Judentum wird nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur oder eine Zivilisation die „use magnificient the narrative to explore great normative questions“ (Robert Cover)Die großen jüdischen Erzählungen finden sich in der Bibel (Thora) und organisieren eine Weltanschauung auf eine bestimmte und kohärente Weise, die Sinn und Identität vermitteln. Diese sind: die Geschichte der Erschaffung der Welt (Bereshit / Genesis), die Geschichte von Abram, der das Land seiner Vorfahren (Lech Lecha) verlässt, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten (EXODUS) und die Geschichte der Übergabe der Tora auf den Berg Sinai. Jede dieser Erzählungen entfaltet eine Reihe von Werten und Konzepten, die ein einzigartiges und originelles Gewebe bilden, das sich von anderen benachbarten Kulturen unterscheidet und sich über mehrere Jahrtausende entwickelt und erweitert hat, ohne seine urwüchsigen Knoten zu brechen.
Angesichts der Nähe der Pesach-Feier (die mit dem Beginn des Frühlings in der nördlichen Hemisphäre beginnt, in diesem Jahr vom 08.-16.04.2020), nutze ich diese Gelegenheit die Bedeutung der Erzählung des Auszuges aus Ägypten, des Höhepunkts der göttlichen Offenbarung und der Übergabe des Gesetzes zu untersuchen, grundlegende Geschichten, sowohl in der Konstruktion des kollektives Gedächtnis, und von der (Selbst-) Identität und Ethos als Volk.
Der Exodus, der Auszug der Kinder Israel aus der vom Pharao auferlegten Sklaverei in Ägypten, war das Werk des Gottes Israels, von Moses seinem ersten Propheten vermittelt. Es ist die erste Geschichte, in der ein Kollektiv auftaucht, davor liegen die Tage der intimen Familiengeschichten von Jakob und seinen Kindern: ein versklavtes Volk, das den Launen seine Tyrannen ausgesetzt ist. Ein traumatisiertes Volk, schlägt die Geschichte vor, deren Kinder in den Nil geworfen wurden und riesige architektonische Werke für die Herren bauten. In einer Handlung, in der Gottes aggressives Eingreifen die Natur und ihre Manifestationen wesentlich veränderte, und die in der Ermordung der erstgeborenen Ägypter gipfelte, wird erreicht, was politische Verhandlungen nicht erreicht hatten: Die Kinder Israels verlassen Ägypten.
Ein ängstliches Volk geht in Richtung eines unbekannten Epos, folgt einem Versprechen, überquert das Rote Meer und rückt in die herausforderndste Geographie vor: die Wüste. Die Entstehungsgeschichte dieses Volk ist weder mit edlen Ursprüngen noch mit mythischen und heldenhaften Schlachten geschmückt: Der Ursprung ist die Sklaverei, die Unterwerfung, die Hilflosigkeit. Aus dem am meisten diskreditierten sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Zustand wird ein Volk geboren. Der Zustand der Sklaverei naturalisiert ein Rechtssystem, von dem angenommen wird, dass es Männer und Frauen mit verschiedenen Rechten und Privilegien gibt, eigentlich zeigt es, dass es Männer und Frauen gibt, die die Kategorie der Männer und Frauen nicht erreichen: Sie sind zu Dingen, zu Werkzeuge und Tiere degradiert. Sklaven sind Gebrauchs- und Konsumgegenstände, werden gekauft, verkauft und weggeworfen. Dem System liegt die Macht des Herrn zugrunde, Eigentümer von Leben und Schicksalen. Auf der anderen Seite könnte nur die Tat eines allmächtigen Gottes, der unermessliche Wunder tut, die Sklaverei brechen, die der Sklavenkörper grundsätzlich benutzt, aber definitiv sich in seiner Psyche einnistet.
In My Bondage and my Freedom, schafft es Frederik Douglas, ein schwarzer Sklave aus den südlichen USA, in den Norden zu fliehen. Ein imaginärer Dialog mit seinem Sklavenhalter (1855) verdeutlicht seine Argumentation, die ihn in die Freiheit führte:
„ I’m myself, you are yourself; we are two distinct persons, two equal persons. You are a man and so am I. God created both and made us separate things. I´m not by nature bond to you or you to me. Nature doesn´t make your existence depend upon me, or mine to depend upon yours. I cannot walk upon your legs or you upon mine. I cannot breathe for you, and you for me; I must breathe by myself and you for yourself (…)
Die Kinder Israels reisten nicht umsonst vierzig Jahre durch die Wüste: Die Generation Ägyptens konnte kaum von den Traumata der Sklaverei geheilt werden, aber vielleicht ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder. Auf dem Weg passiert was die nächste große Erzählung aufdeckt: Die Offenbarung Gottes erfolgt in einem direkten Dialog mit dem Volk Israel durch ein System von Gesetzen, den Dekalog. Matan Tora, buchstäblich die Übergabe der Thora: Jedes Gebot organisiert die Sklavenmentalität der Kinder Israel. Gott stellt sich vor, lehnt andere Götter und Herren im zweiten Gebot ab, verlangt den höchsten Respekt für seinen Namen, für den Schabbat und für die Zeit als solche; für die Eltern und für die Grundlagen des Zusammenlebens: nicht töten, nicht stehlen und kein falsches Zeugnis auflegen. Und dann die ethischen Gebote: du wirst nicht begehren was der andere hat …
Der Dekalog ist ein Versuch, die Sklaverei in den Köpfen zu beseitigen: wo es vorher einen Herrn gab, wird es jetzt Gott geben, wo es keine Zeit gab, wird es Schabbat geben, wo die Familie auseinander gerissen zerstückelt wurde, gibt es jetzt Vater und Mutter, wo es kein Gesetz gab, wird es eins geben und Laune und Gier werden jetzt kontrolliert. Die biblische und rabbinische Weisheit vereinte die Erzählung des Exodus und die der Tora-Übergabe in (Ex. 32,16)
„Und die Tafeln waren ein Werk Gottes; und die Schrift war eine Schrift Gottes eingegraben in die Tafeln“
In einem Kommentar im Pirkei Avot (Sprüche der Vater)
(…) Lies nicht Charut (geschnitzter Text), sondern Cheirut (Freiheit), dass es keinen Menschen gibt, der freier ist als derjenige, der sich mit dem Studium der Tora befasst.
Auch wenn die Bibel uns klar macht, dass der Text des Dekalogs selbst von der göttlichen Hand geschrieben wurde, „Auf den Tafeln geschnitzt“ (auf Hebräisch Charut), gehen die Weisen noch einen Schritt weiter. Sie schlagen vor, dass der Text behauptet, dass das Gesetz im Wesentlichen von der Freiheit des Individuums (Cheirut) spricht, indem er betont, dass es kein freieres Individuum geben würde als dasjenige, das die Tora studiert. Der Unterschied zwischen Charut (geschnitzt) und Cheirut, das „i“ (Jod), das die Zahl zehn darstellt (die Buchstaben auf Hebräisch besitzen einen numerischen Wert) wären die Zehn Gebote, die im Sinai offenbart wurden. Klarstellung für eine Gruppe ehemaliger Sklaven, die misstrauisch sind und sich fürchten aus einer Sklaverei zu entfliehen, um in eine andere einzutreten. Das Gesetz befreit uns, sagt der Text. Nur wenn das Gesetz nicht regiert, ist eine Sklaverei, wie die von Ägypten wieder möglich.
Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.
„Hell is other people,” says Sartre in his well-known play Huis Clos (1944). The “other” is often the source of fear, the “not-us” that is frightening, but at the same time necessary and constitutive for our self-identity.
“Hell isn’t other people. Hell is yourself,” is quoted from Wittgenstein, and never more than today could it be felt with flesh and blood, now that we are faced with a threat, the medium of which is “us”. I am talking about the new epidemic, the so-called coronavirus. It is true that the threatening “other” is still playing an important role there – for he/ she is infecting me with the disease – but the virus would not work if I – better said “my body” – is not cooperating. The virus is best transferred by our hands; they should constantly be washed and disinfected, we are told. “My body” is turned into my enemy. The enemy is no longer the “other,” who is going to threaten my “culture” with his/ her (to me fully unknown) culture – religion, language, value system, habits etc. The enemy is me.
And unlike other instances of evil that are exclusively confined to a certain social class, or race, or religion, or country – like poverty, social injustice, slavery, colonialism, genocide, racial or religious discrimination or persecution etc. – this one knows no borders. It infects everyone – regardless of any classifications – and with our help; through us. Our bodies turn into death-mediums for others as well as ourselves – without us wanting and willing it. We turn into the “mediums of evil”, without intending to be so. Thus, demonstrating to us, more than ever before, that the actual threat is not “the other” but ourselves. We can turn into the hell for ourselves and to the world.
These days, hearing constantly the alarming news of the fast spread of the epidemic worldwide, and the lack of certain goods in the market – which is due to people’s onrush to the supermarkets, in order to buy antiseptics and disinfectants, masks, and food, mostly to store, out of the fear of the imminent “apocalypse” (!) – I cannot help but being reminded of the Portuguese author, José Saramago’s novel, Blindness (1995). It is the story of an epidemic of blindness afflicting people, one after the other, in an unnamed city, following a swift social breakdown. The epidemic starts with one person suddenly going blind, and then fastly spreading around, without any clear reason or explanation. In panic, morality and ethics fail; people literally kill each other in order to survive.
We are for the most part the source of evil, neither “God” nor “others” – and the most tragic part is that we do not realize it, as is clear in the case of mediating this virus. We harm others without realizing it. However, most of the times the evil comes or is sustained through our inaction. But is the situation this hopeless? Could anything be done against it? Or are we doomed? My response is: Yes, by realizing the source of true evil in “us”, and while taking responsibility, going for action. Like Dr. Rieux in Albert Camus’ La Peste (1947), in a plague-stricken world, all the more absurd it seems, we have to fight against the evil: “I have no idea what’s awaiting me, or what will happen when this all ends. For the moment I know this: there are sick people and they need curing.”
In the face of this horrendous evil, possessing nothing but this flawed and broken existence, how are we to bear The Unbearable Lightness of Being? (the title of a novel by the Czech author Milan Kundera) What to do with this feeling of absurdity, despair and meaninglessness in the face of evil? There, maybe, faith can help us; a kind of belief and hope in a higher being – call it God if you may – out of pure pragmatic reasons, that can give meaning to our life and work as a source of energy to act – no longer faith for the purpose of escapism, or over/ underestimating man’s role in the evil of the world. Therefore, I agree with the American philosopher John Caputo in that: we need to believe in God, not “in spite of” evil, but exactly “because of” it – and I would add: and in order to fight against it.
Saida Mirsadri ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.
Ob in der Industrie, der Wirtschaft, im Bereich Kultur oder im Bildungskontext – ohne digitales Marketing, digitale Medien, digitale Netzwerke und digitale Kommunikation scheint unser Alltag, unsere Arbeit nicht mehr denkbar. Digitale Technologien und ‚smarte‘ Software ermöglichen die Speicherung, Organisation und Verarbeitung großer Datenmengen und unterstützen die Präzisierung und Automatisierung von komplexen Prozessen und Abläufen. Die damit einhergehende Systementlastung soll neue Räume für kreatives und innovatives Denken und Handeln schaffen. Auch die Möglichkeit unabhängig von Zeit und Raum miteinander in Verbindung treten bzw. bleiben zu können, sowie die logistisch-koordinative Erleichterung unserer Planungen durch softwaregestützte Karten, Zeittafeln oder Kalender fasziniert. Neben der reinen Nützlichkeit, lassen sich durch digitale Medien zudem auch Potentiale entdecken, die für spätmoderne Gesellschaften wertvolle Möglichkeiten für emanzipatorisch-demokratische Vergesellschaftung verheißen: So scheinen mit smarten Technologien, deren intuitiver Verständlichkeit und anwendungsfreundlichen Designs diskriminierende lebensweltliche Kategorien überwunden. Zumindest erweist sich die Zugänglichkeit zu virtuellen Welten, die Teilhabe an ihnen, sowie deren Nutzung in Form von Partizipation und kreativer Weiterentwicklung als grundsätzlich unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, Alter, Geschlecht, kultureller, ethnischem oder religiösem Hintergrund. Zudem deutet sich in dem hoch diversifizierten, bunten Angebot an, wie unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse einer heterogenen, perspektivenpluralen Gesellschaft nebeneinander bestehen und eine Eigenlogik entfalten können. Auch im Blick auf den Netzaktivismus, wie er sich in spontaner politischer Mobilisierung gerade zu ökologischen Themen andeutet, lässt vermuten, dass die digitale Öffentlichkeit von den diskursiven Ermüdungserscheinungen der analogen Welt noch nicht heimgesucht wurde.
Es mag vor diesem Hintergrund also nicht verwundern, dass auch politische Agenden, Städteentwicklungspläne, Bildungsinstitutionen und selbst religiöse Institutionen sich zunehmend digital profilieren (wollen), ihre Inhalte und Anliegen digital präsentieren und mit Digitalisierung werben, ja eine viel offenere und fokussierter Entwicklung in Deutschland fordern – nicht nur, um Bürger*innen, Nutzer*innen, Auszubildende oder Gläubige digital zu ermächtigen, sondern auch um beim globalen Vergleich mithalten, international wettbewerbsfähig sein zu können.
Gegen diese Stimmen und Programme, die digitalen Transformationsprozessen kategorisch mit Demokratie und Empowerment gleichsetzen, ja manchmal in allem Digitalen eine Form der Erlösung wahrnehmen, erheben sich wiederum zunehmend solche Stimmen und Positionen, die diesem Prozess äußerst skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn man in der digitalen Transformation nicht die Apokalypse sehen muss und die Annahme die regelmäßige Nutzung digitaler Technologien führe notwendig zu einem Ausverkauf der Menschlichkeit, (wahlweise einer Verdummung, Verrohung und Verstummung der Welt) an der Realität vorbeigeht, so ist die Skepsis gegenüber einer rein positivistischen Lesart nicht unbegründet:
Denn sicherlich haben gerade digitale Medien demokratische Potentiale. Fakt ist aber auch, dass die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, d.h. die Aktivierung dieser Potenziale voraussetzungsreicher ist, als zunächst angenommen. So braucht es einerseits lebensweltliches Orientierungswissen, d.h. Kenntnisse im Umgang mit den Technologien, der angemessenen Verarbeitung und Deutung von Informationen, Argumenten, wie auch die Kenntnisse und Einübung von Tugenden respektvoller Diskurskultur. Andererseits hat sich bereits in der Technikkritik sehr deutlich gezeigt, dass jedes Werkzeug – egal ob der Hammer oder das Smartphone – ambivalent ist, d.h. dessen konkrete Nutzung immer auch durch in Gesellschaft und Kultur habitualisierte Wertesysteme und Menschenbilder, aber auch Ideen vorn Fortschritt und Bildungen getragen wird. Verweist man zudem auf die neusten Nutzungszahlen und -Verhalten, so zeigt sich schnell, dass die demokratisch-emanzipatorischen Potentiale durch die für digitale Räume charakteristische Anonymität und Unverbindlichkeit nur schleppend eingeholt werden. Im Gegenteil, die leicht zu ermittelnde Beliebtheit bestimmter Inhalte lässt vielmehr vermuten, dass besonders solche Inhalte und Seiten oder Apps frequentiert werden, die entweder implizit und explizit diskriminierende Menschen-, Rollen- und Weltdeutungen anbieten oder aber durch die spezifisch dahinterstehende Nutzungsoberfläche eine Konsumhaltung auch Menschen gegenüber verstetigen. Nicht zuletzt eröffnen sich in diesem Zusammenhang und unter den Bedingungen kapitalistischer und politischer Interessen auch in der digitalen Welt neue Räume für Manipulation und Vermachtung – bis hin zu einer strategischen Verbreitung und Eingewöhnung anti-demokratischer Ideologien.
Diese Dynamiken prägen dabei nicht nur die Lebenswelt der Gläubigen und markieren die ‚Zeichen der Zeit mit denen Theologien konfrontiert sind. Auch generieren diese Entwicklungen einen neuen Marktplatz, auf dem auch Theologien sich positionieren müssen. Ob dies angemessen passiert indem man sich ebenfalls einen attraktiven Marktstand zimmert und mindestens so laut brüllt, wie die lautesten Marktschreier – oder, ob eine solche Vorgehensweise durch die Anpassung an die Logik des Marktes letztlich zum Ausverkauf der Botschaften führen, sollte dringend bedacht und beantwortet werden. Ein Seitenblick auf den feministischen Diskurs, der seit einigen Jahren zu diesen Themen geführt wird, kann bei der Suche nach solchen Antworten möglicherweise helfen. Zumindest haben feministisch engagierte Frauen, Männer und Dritte ein gutes Gespür für mögliche ambivalente, diskriminierende, anti-emanzipatorische Dynamiken entwickelt und bestehen bereits mit eigenen Projekten in der digitalen Welt.
Die vom Gleichstellungsbüro der Stadt Paderborn ausgerichteten Veranstaltungen zum diesjährigen Weltfrauentag (https://www.paderborn.de/rathaus-service/stadtverwaltung/gleichstellungsstelle/aktuelles/internationaler-frauentag-2020.php) beschäftigen sich mit diesen Themen. Ein Besuch lohnt sich auch deshalb, weil neben der kritisch-differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Fragen dort ebenso kreative Antworten, Angebote und Ideen gesponnen und diskutiert werden, um Freiheit, Gerechtigkeit und Empowerment auch in der digitalen Welt nachhaltig ermöglicht werden.
Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.
Gerade lese ich ein Buch von Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Mutig, phantasievoll und bisweilen kühn entwirft er positive Zukunftsszenarien, die auf einer genauen Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichgewichte und ökologischen Herausforderungen beruhen. Gemäß seinem Leitsatz Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen macht er auf die Handlungsspielräume aufmerksam, die jede und jeder von uns in ihren und seinen täglichen Lebensvollzügen hat. Dabei predigt er keinen asketischen Weltverzicht, sondern möchte Lust machen, Neues auszuprobieren, neue Wege zu gehen, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Beispiele konkreten guten Gelingens untermauern seinen Imperativ.
Ich vermute, dass er Religionen und Theologien nicht unbedingt als seine natürlichen Verbündeten versteht, da sie nicht Gegenstand seiner Reflexionen zu sein scheinen, ihnen vielleicht sogar skeptisch gegenübersteht. Warum ist das so?
Was sagt es über Religionen und Theologien aus, wenn sie von ihm, einem Sozialpsychologen und Soziologen nicht als vielversprechende Ressource für das Projekt lebensbejahende Zukunft wahrgenommen werden? Dass er auf diesem Auge vielleicht blind ist und die vielen kreativen lebensbejahenden Praktiken religiös motivierter Menschen und entsprechende Elemente theologischer Schriften nicht wahrnimmt? Oder dass Religionen und Theologien sich vielleicht noch nicht gut genug unter diesem Aspekt in der Öffentlichkeit präsentieren? Oder können sie vielleicht den drängenden Fragen der Zeit derzeit nicht inspirierend genug begegnen? Oder kann es auch daran liegen, dass wir Menschen, die Trägerinnen und Träger von Religionen und Theologien und ihre Gestalterinnen und Gestalter, wie so viele anderen Menschen auch, so in unseren Alltagsvollzügen gebunden sind, dass wir kaum Zeit, Muße und Energie verspüren, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln?
Wahrscheinlich ist es von Allem etwas und das ist ausgesprochen schade. Denn es gehört eigentlich zu den natürlichen Kompetenzen von Religionen und Theologien, die Menschen zu ermutigen, über ihr eigenes Interesse hinaus für das Gemeinwohl aller einzustehen. Ihre Quellentexte und erinnerten Persönlichkeiten legen in zu großer Breite und Intensität Zeugnis genau davon ab, um sie zu ignorieren; nämlich davon, wie neue Wege zu wagen, das friedensstiftende und emanzipatorische Potenzial von Religionen wecken kann.
Wir sollten uns diese Geschichten erzählen. Denn nur so bewahren wir sie und antiquiren sie nicht. Geschichten haben, so meine ich, das Potenzial, das, was der Philosoph Günther Anders moralische Fantasie genannt hat, anzuregen. Moralische Phantasie ist für ihn die Fähigkeit, zum einen die Folgen von derzeitig zu beobachteten Fehlentwicklungen empathisch zu antizipieren (und damit versteht er sie als eine Schlüsselkompetenz für existenziell wahrnehmbare Verantwortung) und zum anderen verbindet er mit dem Begriff der moralischen Phantasie die Befähigung, Fäden in eine noch unbekannte, da noch nicht existente, bessere Welt zu spinnen.
Dort, wo gesellschaftliche Utopien und religiöse eschatologische Vorstellungen von einem guten Ausgang sich kreuzen, können, so meine ich, spannende Synergien entstehen. Warum sollten wir da nicht anfangen zu spinnen?
Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin für Islamische Systematische Theologie/ Kalam am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Throughout history religion and diseases could be considered as socially linked phenomena. Diseases, as a disorder that does not affect only the body but also the social and cultural aspects of human life, inevitably, meets the religious in one of its aspects. Religion, as a framework for human life in most of its aspects, must leave its impact, an explanation and an interpretation of what affects a person from illness or diseases. Ethnographic studies have shown this close relationship between religion and disease from the time of the Greeks to the present.
To face sickness and diseases, religion created for itself a remedy: The concept of affliction in religious interpretation which is able to rationalize the chaos of the distribution of punishment and harm and justify the arbitrariness of employing torture and adversity towards a specific goal: testing. Thus, the concept of affliction helps to overcome embarrassment and reach other meanings that are more accommodating to the infected. For instance, Christians considered pain, torment, and diseases a purification tool that elevates people to the level of true heart purity (Scheler, 1946), while Islam, especially in Sufism, have attached great importance to diseases and pain by considering the pain caused by diseases as an effective tool for achieving spiritual isolation and deep esoteric life.
Nowadays, with the appearance of the new virus of Coronas, on one hand, as certain studies show, the nature of the patient’s relationships with himself and with those around him (family, studies, work, sexual relations, etc.) changes and this change goes beyond the societal to find an echo in the spiritual experience of the person. If a person is a believer, there is no doubt that being affected by this virus or being put in a Quarantine zone, could awaken many religious and spiritual questions and everyone is going to try to find answers for these questions. Perhaps one of these questions would be: If God taught us that with every new born child s/he wants to show us that s/he still has hope on us, how could this mass of daily deaths be understood?
On the other hand, the religious institutions did not remain passive. Official or independent bodies have given their position and vision on this virus, to the point where we can speak of „religious representation of Coronas“. In Italy, like many public institutions, some churches have been closed. Such decisions arouse some religious inquiries. In time when a believer is in need to “houses of God”, it became risky to be there. This also could deeply affect the nature of religious practices and give a new shape to individual practices rather than group practices.
In Lebanon, the Head of the Hajj, Umrah and Visitation Office in the Supreme Islamic Shiite Council announced that it is possible to avoid the religious travels if it is necessary in order to limit the spread of the virus. Here, again, the person finds himself struggling between the reality and the religious duties.Whether the traditional remedy used by religion in facing diseases be also effective in this situation or a new updated one should be created to resist its effects on the spiritual life of humans is one of the struggles waiting for religion by the appearance of Coronavirus knowing that this virus will affect not only the shape of the rituals and practices but also the understanding of what is spiritual and the deeply esoteric.
Nadia Saad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Der rechtsterroristische Anschlag von Hanau ist ein Attentat auf unsere Art zu leben. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft auf offener Straße um ihr Leben fürchten müssen. Dass dies mittlerweile nicht selten der Fall ist, liegt nicht nur einfach an der Verrohung westeuropäischer Gemeinschaften durch Rechtspopulismus und soziale Segregation. Es liegt auch daran, dass wir verlernt haben, selbst Verantwortung zu übernehmen für die Gesellschaft, in der wir leben bzw. leben wollen. Die Wurzel der öffentlichen Präsenz von Rassismus und konsequenter rassistischer Gewalt liegt nicht zuletzt darin, dass wir noch allzu oft glauben, man könne gegenwärtig eine vom politischen Geschehen weitgehend unbeeindruckte, sorglose Bausparer-Existenz fristen.
Die alltagsliberalistische Weigerung, das Private im Öffentlichen zu verorten, transportiert immer auch das verstecke Verständnis des Staates als einer Fremdinstitution. Es versucht zu kaschieren, dass die Öffentlichkeit als Schutzraum des Privaten und Bürgerlichen nur so lange existiert, wie wir bereit sind, selbst in diese Öffentlichkeit zu investieren. Hier geht es natürlich nicht nur um finanzielle Investitionen – es geht um Engagement, um eine kritische Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft, in der er lebt. Freiheit heißt eben nicht einfach nur, nicht am Handeln gehindert zu werden; es heißt gleichzeitig auch, etwas tun zu können. Und etwas tun zu können, fordert dazu heraus, diese seine Fähigkeiten zu nutzen.
Der Kampf gegen organisierten Rechtsterrorismus wird nicht nur auf den höchsten politischen Entscheidungsebenen durch bessere nachrichtendienstliche und polizeiliche Arbeit gewonnen, er wird auch nicht nur durch eine Bildungspolitik gewonnen, die sich ihren Namen erst wieder verdienen müsste. Er wird vor allem da gewonnen, wo Menschen im Alltag mühsame Ortsvereinstreffen und Kommunalwahlen stemmen und wo im Pfarrgemeinderat über Strategien der Integration von Geflüchteten gebrütet wird. Er wird da gewonnen, wo sich im Großen das Publikum im Fußballstadion gegen rassistische Schreihälse wehrt und wo im Kleinen der politischen Konfrontation im Freundeskreis nicht ausgewichen wird.
Wir müssen neu lernen, uns aus dem Privaten ins Öffentliche aufzumachen, Diskurse zu kultivieren, argumentative Kommunikation über Meinung zu stellen. Nur dann wird es gelingen, menschenverachtende Überzeugungssysteme wirksam zu bekämpfen. Christian Vooren hat auf ZEIT ONLINE gefordert, den Erinnerungskorridor an die Opfer von Hanau nicht sofort routiniert zu schließen. Dieser Forderung wird man eben am besten entsprechen können, wenn wir Routinen durchbrechen und neu Verantwortung übernehmen – für die Gesellschaft, in der wir leben, und damit für diejenigen, die als Teil unserer Gemeinschaft fürchten müssen, selbst Opfer zu werden.
Dr. Aaron Langenfeld ist geschäftsführender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.