„Was ich vermisse, ist eure Umarmung“,

sagte einer der trauernden Söhne den Teilnehmern in einer der beiden Trauerzeremonien, an der ich in den vergangenen Wochen teilgenommen habe. Es war die erste Yorzeit (jidd. Jahrzeit, der erste Todestag) für seine verstorbene Mutter. Die zweite Trauerfeier fand nach dem Ende der Schiva (hebr. „sieben“) oder Schive (jidd.) statt. Sie ist die siebentägige Trauerwoche, die unmittelbar nach dem Begräbnis des Verstorbenen beginnt.

Das wäre sicherlich nicht ein Motiv für einen Blog, hätten die Zeremonien nicht wegen Corona online, stattgefunden.

Die Anwesenden haben online den Kaddisch gesprochen (aramäisch „heilig“, „Heiligung“. Das Kaddisch verkündet bzw. heiligt den göttlichen Namen. Es wird als Trauergebet zu Ehren der Toten gesprochen) und die Familie konnte einige Worte über die Verstorbenen sagen. Im Anschluss gab es die Gelegenheit sich untereinander Erinnerungen über den Verlust auszutauschen.

Die digitalen Zeremonien haben in meiner Heimatstadt Buenos Aires/Argentinien stattgefunden. Dort und in der umgebenden Provinz wird seit Monaten eine strenge Ausgangssperre verhängt. In der dichte der Stadt scheint die Zeit still zu stehen. Jetzt nach vielen Monaten kehrt ein kleines Gefühl der Normalität zurück, da wieder etwas gearbeitet wird. Die Schulen schließen gleich nach Ende der Sommerpause. Corona konfrontiert gerade jetzt die ärmsten Länder der Welt, in der 30 oder 50 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, mit ungenügenden medizinischen Kapazitäten und Reserven.  

Die Trauerriten, die den Übergang zu einem Leben ohne die geliebte Person markieren, der Abschied in Begleitung der Großfamilie und der Gemeinschaft wandeln sich zu Coronazeiten zu einer medialen Erfahrung.

Zudem wurde der kathartische Effekt bei den Teilnehmern rasch bemerkbar: die reale Trauer vermischte sich mit der Angst und der Ungewissheit über die aktuelle Zeit. Wie lange müssen wir noch so leben? Wann werden wir endlich unsere Lieben wiedersehen? Wann dürfen wir endlich wieder unseren Toten die letzte Ehre erweisen. Gleichzeitig ergeben sich auch Fragen für die Zukunft: Wann dürfen wir endlich wieder gemeinsam feiern, uns umarmen oder einfach das Leben zelebrieren?

Trauer und Leben sollten sich ab einer bestimmten Zeit wieder ergänzen: im Judentum ist die erste Woche nach dem Beerdigung ganz bedeutend: die Gemeinde begleitet sieben Tage lang die Familie des Verstorbenen. Die engsten Familienangehörigen verlassen während dieser Zeit nicht das Haus und sollten zu Hause barfuß sitzen. Trauernde tragen ein zerrissenes Kleidungstück. Um das Essen für die Hinterbliebenen kümmern sich Freunde und Bekannte.

Der Tradition nach, müssen die Trauernden den Gästen Gesprächsthemen anbieten. Dieser psychologische Trick soll die Trauernden etwas animieren, die Wortlosigkeit aus dem Geschehen zu nehmen. Während der Schiva werden die Spiegel zu Hause abgedeckt (es ist keine Zeit der Sorge um Schönheit und Ästhetik). Männer dürfen sich einen Monat lang nicht rasieren. Musik sollte ein Jahr lang nicht gehört werden. Und große Feiern sollten im engsten Kreis der Familie ein Jahr lang vermieden werden. Einen Monat lang dürfte der Friedhof normalerweise nicht besucht werden. Diese erste Etappe des Trauerzyklus dient dazu eine Distanz zu dem Verstorbenen aufzubauen. Dann beginnt wohl die schwierigste Etappe für die Hinterbliebenen: die aktive Umgestaltung des eigenen Lebens ohne die Präsenz des geliebten Menschen. Der Kaddisch wird danach noch ein Jahr lang von den nächsten Verwandten gesprochen.

Dieses Corona-Jahr wird wohl bei vielen Menschen als ein Jahr der Begrenzungen, der Distanzierung und der Häuslichkeit, in Erinnerung bleiben. Aber viel mehr ist ein Jahr  der immensen Trauer um die vielen unnötigen anonymen und kontaktlosen Tode. Es sollte ein Kaddisch für die 700,000* (Stand 2. August) Menschen gesprochen werden, die dem Corona-Virus schweigsam und allein zu Opfer gefallen sind.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.