Der ägyptische Lehrer

Am 5. Juli. 2021 war der 11. Gedenktag des ägyptischen Denkers Nasr Abu Zaid (gest. 5. Juli 2010). Ich habe von ihm gehört, bevor ich ein einziges Wort von ihm gelesen habe. In der Mittelschule hörte ich das Vorurteil, dass er in seinem Buch „Naqd al-ḫiṭāb ad-dīnī, Kairo 1992; Kritik des religiösen Diskurses“ über den Islam bzw. den Koran schlicht spricht. Dieses Vorurteil blieb in meinem Kopf bis ich anfing, Islamwissenschaft an der Al-Azhar Universität zu studieren. Damals begann ich, die Schriften von Nasr Abu Zaid zu lesen und seine Interviews auf YouTube zu schauen. Seine Geschichte hat mich berührt.

Es wurde klar für mich, dass er ein mutiger und ein verantwortungsvoller Mensch war. Als sein Vater starb, übernahm er die Verantwortung für seine Familie und er unterstützte seine kleinen Geschwister, bis sie selbst für sich sorgen konnten. Diese menschliche Seite von Abu Zaid hat mich sehr beeinflusst.

Nasr träumte davon, an der Universität zu studieren. Nach einer technischen Ausbildung konnte er, neben seiner Arbeit, seinen Traum erfüllen und er besuchte die Universität Kairo, um dort Arabistik zu studieren. Nach seinem Studium begann seine Karriere an der Universität. In 1990er Jahren geriet er wegen seiner Lesart bzw. seines andersartigen Verständnisses des Korans in Ägypten in scharfe Kritik. Einige Gelehrten beschuldigten ihn der Apostasie. Abu Zaid wurde scharf kritisiert, weil er den Koran in seinem geschichtlichen Kontext interpretieren wollte. Die bekannte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel (gest. 2003) sah in ihm einen „der herausragenden Köpfe der islamischen Welt, der den gefährlichen Versuch unternahm, den Koran für die Moderne zu öffnen“ (Tages Spiegel, 07.07.2010).

Manchmal denke ich, dass seine Gegner bzw. Kritiker ihm einen großen Gefallen getan haben. Denn aufgrund dieser scharfen Kritik wurde Nasr Abu Zaid berühmt und seine These verbreitete sich in der ganzen Welt. In seinem letzten Interview mit (Qantara.de.) sagte der bescheidene Forscher: „Ja, ich bin ein Opfer. Aber ich bin auch ein Zeuge des Wandels, der vonstattengeht, allen Grausamkeiten – wie in meinem Fall – zum Trotz. Der berühmte arabisch-spanische Philosoph Averroës wurde verurteilt. Doch seine Ideen haben sich trotzdem im Westen ausgebreitet“.

Ahmed Elshahawy ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#traum #Universität #Lehrer

Warum ich auf die Rückkehr der Hörsäle hoffe

Deutschland, so kann man nicht erst seit Pandemiebeginn immer wieder hören, hat Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Dabei dürfte an den Universitäten vieles, trotz anfänglicher Improvisation, besser geklappt haben als andernorts. Ob im nächsten Jahr auch die Hörsäle wieder gefüllt sind wie vor der Krise, kann wohl niemand mit Sicherheit sagen. Dass Seminare davon leben, dass Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander reden und Ideen diskutieren, werden die allermeisten so sehen und sich auf eine Rückkehr zur Normalität freuen. Lange hielt ich es aber für eine gute Idee, Vorlesungen in Zukunft doch komplett digital und zum Mitnehmen anzubieten. Das Konzept von Pult, Sitzreihen und Mitschreiben schien mir veraltet und eher Traditionsgründe zu haben. Wieso nicht beim Spaziergang den Stoff als Podcast anhören – oder abends ein Video gucken, anstatt von Uhrzeit und Nahverkehr abhängig zu sein?

Sicherlich werden die Erfahrungen der letzten Monate helfen, dass neue Formate in den Unialltag aufgenommen werden. Auch in Paderborn haben wir eine Online-Ideenwerkstatt und die Videointerviewreihe „ZeKK live“ gestartet. Zugleich merke ich inzwischen stärker, was nur vor Ort geht. Zur Wahrheit gehört, dass ich im Studium längst nicht in jeder Vorlesung war, und längst nicht jede aufmerksam verfolgt habe. Dennoch erinnere ich mich an Hörsaalmomente, die mein Interesse am Fach entscheidend geweckt haben, und die meistens mit den Mitstudierenden zu tun hatten. Wenn etwa jemand plötzlich auf die Ausführungen des Professors reagiert und murmelt: „Das stimmt doch nicht.“ Wenn ich mich richtig erinnere, ging es in diesem Fall um die Frage, ob werdende Eltern zugleich den Tod ihres Kindes immer schon in Kauf genommen haben. Oder wenn durch die Reihen hinweg Kopfnicken oder -schütteln anzeigt, dass der Vorlesungsstoff mit zur Kaffeepause oder in die Mensa genommen wird. Oft war die Vorlesung selbst dann nur der Auftakt für weitere Gespräche, und oft waren es diese Momente, in denen mir ein Problem erst deutlich geworden ist. Wie sehr diese Alltagsroutinen mein Studium geprägt haben, wurde mir erst klar, als viele der kleinen Austauschmöglichkeiten wegfielen. Eine gute Vorlesung lässt sich genauso gut und genauso schlecht digitalisieren wie ein Konzert. Der „Inhalt“ lässt sich auch anders transportieren, aber dann fehlt entscheidendes. Bis zum Beweis des Gegenteils hoffe ich daher auf die Rückkehr des Hörsaals. Und Terminabsprachen, die auch eine E-Mail hätten sein können, dürfen gern weiter per Zoom stattfinden

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Digitalisierung #Hörsaal #Rückkehr

Emanzipation des weiblichen Körpers

Der Bundesrat hat „ein Gesetz mit Vorschriften zur äußeren Erscheinung von Beamten gebilligt… Das Gesetz stieß bei islamischen Verbänden auf Widerstand, weil sie ein Kopftuchverbot durch die Hintertür befürchten“.[1]

Kaum lese ich die Nachricht, kommt mir der Kopftuchzwang in einigen muslimischen Ländern wie Iran und Saudi-Arabien in den Sinn. Der Zwang zum Tragen des Kopftuchs auf der einen und das Verbot des Tragens auf der anderen Seite – wenn auch beschränkt auf die Berufsgruppe der Beamtinnen – sind für mich als Frau und Muslima zwei Seiten einer Medaille. Beide diktieren mir, „was ich tragen darf und was nicht“. Beide schreien mir „mit der Kraft des Gesetzes“ zu: Ich kann nicht arbeiten, wenn ich mich nicht an bestimmte Kleidervorschriften halte. Ich kann nicht meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen – was mich finanziell und sozial unabhängig macht –, wenn ich mich nicht so kleide, wie „sie“ es „mir“ sagen. 

Die eine Seite setzt mir kraft des Gesetzes eine Kopfbedeckung auf, die andere entfernt sie kraft des Gesetzes. Auf beiden Seiten entscheide nicht ICH über meinen eigenen Körper, sondern SIE entscheiden. Trotz der großen Unterschiede auf beiden Seiten – und beide sehen sich als die „falsche Seite“ – sind sie sich in ihrem Willen, über die Frau zu bestimmen, wesentlich ähnlicher als sie zugeben würden. Für beide Seiten ist der Körper der Frau das kontroverse Thema.

Für mich ist das, was ein System von Ideen und Gedanken zu einem „ideologischen System“ macht, eben gerade der Körper der Frau. Wo er zum „Schlachtfeld“ wird, zur eigentlichen Barriere, die über Fortschritt, den Grad der Emanzipation und Integration entscheidet, hat das Patriarchat den Gesetzgeber ersetzt. Wo über das „Erbe der Aufklärung“ und „die Verteidigung der Menschenrechte“ gesprochen wird, geht es dann um das Aufrechterhalten einer männlichen Ordnung, die Frauen als abgeleitet von ihr definiert. 

Deshalb habe ich die Nase voll vom Burka-Streit, vom Kopftuch-Streit, von dem Narrativ von „Hijab als Symbol für die Unterdrückung der muslimischen Frauen“. Ich habe die Nase voll von all den oberflächlichen Streitigkeiten, die eigentlich kein wirkliches Problem ansprechen,[2] sondern eher Teil eines westlichen Narratives sind, das in das alte Meta-Narrativ über den „Orient“ passt[3] – d.h. dass muslimische Frauen unterdrückt sind, dass ihr Körper von den patriarchalischen Systemen versklavt wird usw. Meine Frage als muslimische Frau inmitten all dieser wahnsinnig lauten Stimmen der Auseinandersetzung ist: Warum sind es oft „andere“, die „im Namen der muslimischen Frauen“ sprechen? Warum sollen „andere“ immer für die muslimische Frau entscheiden? Warum wird dieses Thema zum eigentlichen Thema der Emanzipation und Integrationsfähigkeit erklärt? Selbst wenn der Islamismus eine Ideologie ist, die es zu bekämpfen gilt, warum macht man wieder den Körper der Frau zum Schlachtfeld? Warum sollen Frauen für den männlichen ideologischen Krieg bezahlen?

Von einem System der Freiheit und des Respekts vor den Menschenrechten lässt sich nur sprechen, wenn nicht der Frauenkörper weiterhin das Thema der Auseinandersetzung ist. Denn: Keine Freiheit ist möglich ohne die Freiheit des weiblichen Körpers – und über diese Freiheit bestimmen Frauen selbst.


[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article230971383/Bundesrat-Kopftuchverbot-durch-die-Hintertuer.html

[2] Mehr dazu: https://www.yorkshirepost.co.uk/news/how-many-muslim-women-actually-wear-burqa-university-professor-busts-burqa-myths-582474

[3] Nach Edward Saids bahnbrechendem Werk „Orientalismus“ sind wir uns mehr denn je solche problematischen dominanten Diskurse und Meta-Narrative bewusst.


Foto oben von Akram Saryani, das Michelangelos „Die Erschaffung Adams“ modelliert (unten).

Dr. Saida Mirsadri ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Handsoffmyhijab, #Frauenemanzipation, #Patriarchat

Über Hanna(h)s

Unter dem Hashtag #IchbinHanna ist der Frust junger Akademiker*innen in Deutschland endlich laut und hörbar geworden. Deren Arbeitsbedingungen werden oft als prekär bezeichnet, sind aber im Verhältnis zum allgemeinen Arbeitsrecht eher absurd zu nennen. Ein anderes Wort verdient ein System nicht, in dem der Staat zulässt und fördert, was er andernorts strikt unterbindet, dass nämlich Menschen ohne Angabe von Gründen und ohne Ansehung der Leistung ihre Anstellung verlieren dürfen bzw. müssen und damit ihre Lebensgrundlage. Die wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen für die jungen Wissenschaftler*innen sind ebenso gut dokumentiert wie die Konsequenzen für Wissenschaft und Bildung selbst. Es ist für eine der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, die sich auch gerne in der Bildungspolitik vorne sehen würde, schlicht beschämend, dass es nicht gelingt, hier wirklichen Fortschritt zu erzielen. Der Versuch des BMBF, für das bestehende System über die kindergartentaugliche Erzählung von Hanna zu werben, ist zum Glück krachend gescheitert und hat einen öffentlichen Sturm der Empörung ausgelöst. Allerdings finde ich den Namen Hanna recht gut gewählt, weil ich ihn mit zwei Frauen assoziiere, die für mich als Philosophen und Theologen wichtig sind.

Da ist zum einen natürlich Hannah Arendt, deren praktische Philosophie nicht nur auf die großen humanitären Katastrophen, sondern gerade auf den Alltag gesellschaftlichen Zusammenlebens gerichtet ist. Sie hat wie keine zweite deutlich gemacht, dass sich niemand in einem Unrechtssystem verstecken darf. Jede*r einzelne, jede Ministerin, aber auch jeder Rektor und jede Professorin, hat aus Freiheit die Verantwortung zu tun, was ihr und ihm unmittelbar möglich ist, um Ungerechtigkeit zu verhindern. Niemand hat das Recht, sich in die Unmündigkeit der Systempflicht zu flüchten, um seine eigene Macht auf dem Rücken Schwächerer zu etablieren. 

Die biblische Prophetin Hanna betrachtet die Mächtigen mit mitleidiger Schärfe, weil sie sich über etwas zu definieren versuchen, was sie nicht sind. Man ist nicht an sich mächtig, sondern hat Macht nur in einem bestimmten System: „Niemand ist stark durch eigene Kraft.“ (1 Sam 2,9) Statt sich verzweifelt an die eigene Relevanz zu klammern soll der Mensch einsehen, dass nur sein Tun zählt.

Es kommt also nicht nur darauf an, dass etwas getan wird, sondern darauf, dass jede*r tut, was ihm und ihr möglich ist. So lässt sich der langfristig unausweichliche Systemwechsel noch sinnvoll und mit politischem Gestaltungsspielraum beeinflussen. Andernfalls verspricht nur noch der Kollaps Erlösung – mit der Apokalypse kennt sich die biblische Hanna übrigens auch gut aus.

Dr. Aaron Langenfeld ist Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta.  

#IchbinHanna

Eine ärztliche Beratung

Bei unserem ersten Arztbesuch hat dieser uns (meine Frau und ich) herzlich empfangen. Nachdem wir mit ihm einige gesundheitlichen Fragen besprochen haben, fing der Arzt, der in 80er-Jahre von Syrien nach Deutschland wegen des Studiums gereist ist, an seine beeindruckende Geschichte zu erzählen. Er erzählte uns, wie er und seine Familie in einem libanesischen Flüchtlingslagern nach 1948 gelitten hatten, als er und seine Familie gezwungen wurden ihr Land Palästina zu verlassen. Weiterhin erzählte er uns von Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen er in seinen ersten Jahren in Deutschland konfrontiert war. Wie er all diese Herausforderungen überwand schließlich seine Doktorarbeit mit erfolgreich abgeschlossen hat und seine Karriere in Deutschland begann. „Mein Leben war nicht leicht, ich musste mir viel Mühe geben und Tag und Nacht arbeiten, damit ich meinem Professor, der damals grundsätzlich keine Ausländer angenommen hatte, zeige,n konnte dass ich es schaffen kann“, sagte der Arzt mit einem sehr ernsten Blick. Wir folgten seiner Geschichte mit großem Interesse, weil ein Teil davon uns berührt. Wir als ausländische Studierende haben einige der von ihm geschilderten Situationen erlebt und wir sind ebenso mit ähnlichen Herausforderungen in unserem Leben konfrontiert. Am Ende sagte er uns: „Ihr müsst auch viel lernen und euch viel Mühe geben, damit ihr euren großen Traum erfüllen könnt.“ Schließlich dankten wir ihm sowohl für seine ärztliche Beratung als auch für seinen guten Rat, dazu haben wir ihn mit einer vollen Motivation und Zufriedenheit verabschiedet. Während unserer Rückfahrt nach Paderborn hat uns diese inspirierende Geschichte unseres arabischen Arztes begleitet. Ich glaube, auf solch Geschichten der Geflüchteten sollten wir einen Blick werfen.  

Ahmed Elshahawy ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Lebensnah #Erfahrungen #Träume

Sehen und Gesehen-Werden

Sich endlich wieder sehen zu können, ohne Einladungslinks verschicken und ohne die Kamerazugriffserlaubnis aktivieren zu müssen – das könnte die Errungenschaft dieses Sommers sein. Die letzten Monate haben uns gezeigt, welcher Wert darin steckt, den und die Andere*n nicht nur im 3:4-Format zu sehen, sondern sich, im wahrsten Sinne des Wortes, ein umfassendes Bild vom Gegenüber machen zu können. 

Wirklich zu sehen und gesehen zu werden hat aber nicht nur etwas mit physischer Präsenz zu tun. Es geht um Aufmerksamkeit und um die Empfänglichkeit für die Wünsche, Sorgen, Ängste und Gedanken meines Gegenübers. Das bedeutet allerdings auch, dass ich selbst nicht gesehen werden kann, wenn ich mich unter Verschluss halte. Oder wie Simon and Garfunkel es formulieren: “I am a rock, I am an island, I’ve built walls, A fortress deep and mighty, That none may penetrate, I have no need of friendship; friendship causes pain, It’s laughter and it’s loving I disdain, I am a rock, I am an island, Don’t talk of love.” Ohne Zugänglichkeit, ohne Verletzlichkeit und ohne Angreifbarkeit also keine Beziehung, so könnte man resümieren. 

Dieses Prinzip gilt auch für die Gott-Mensch-Beziehung. Dabei geht es hier nicht nur um die Verletzlichkeit des Menschen vor Gott, sondern auch um die Verletzlichkeit Gottes selbst. 

Der Sinn des Offenbarungsglaubens, wie er nicht nur im Christentum, sondern auch in Judentum und Islam zum Tragen kommt, ist es, dass Gott sich zugänglich und sichtbar macht. Das Buch Hosea beschreibt eindrücklich die Emotionen Gottes angesichts des Verhaltens des Volkes Israel. Gott ist zornig, eifersüchtig, vergebend. Und Gott will erkannt und geliebt werden – „Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.“ (Hos 6,6). Gott riskiert aber auch, dass die Menschen seine Liebe nicht erwidern, auf Abstand gehen und jede Beziehung zu ihm verweigern. Insofern macht sich Gott verletzlich, wenn er die Freiheit des Menschen unbedingt achtet und damit aufs Spiel setzt, dass sein Heilsplan für die Welt, sein Heilsplan mit jedem einzelnen Menschen nicht aufgeht. Dabei betont der Theologe Karl Rahner: das Beziehungsangebot Gottes an den Menschen bleibt und wird nicht mehr zurückgezogen. Das macht Gottes Bundestreue aus, die zwar jede Form der Treue übersteigt, zu denen Menschen in der Lage sind. Allerdings bildet sich diese Treue in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen ab, wenn wir es wirklich ernst mit unserem Gegenüber meinen und uns bemühen, den und die Andere*n wirklich zu sehen. 

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Offenbarung #Verletzlichkeit #Beziehung 

Heilige Monate

„Die Anzahl der Monate bei Allāh ist zwölf Monate in dem Buch Allāhs am Tag, als Er die Himmel und die Erde erschuf.  Davon sind vier heilig. Dies ist die rechte Religion. Darum tut (euch selbst) in ihnen kein Unrecht an…“ (Q 9:36) 

Heute beginnt einer der vier auserwählten Monate im Islam, Ḏū l-Qaʿda, der 11. Monat im islamischen Kalender und der erste der drei aufeinanderfolgenden heiligen Monate. Den Namen Ḏū l-Qaʿda (w. der Monat des Verzichts bzw. des Zurückhaltens) trägt dieser Monat noch aus vorislamischer Zeit: arabische Stämme haben in diesem Monat auf gegenseitiges Kämpfen verzichtet und sich für die Pilgerfahrt im Folgemonat vorbereitet. Die Sicherheit der von Weitem anreisenden Pilger sollte dabei garantiert werden. Der o.g. Koranvers spezifiziert nicht die konkreten heiligen Monate, um die es sich handelt. Dies wird hingegen in der Abschiedspredigt des Propheten Muḥammad ﷺ erläuter: „…Das Jahr hat 12 Monate. Vier davon sind heilig: drei aufeinanderfolgende, Ḏū l-Qaʿda, Ḏū l-Ḥiǧǧa und Muḥarram, und der Monat Raǧab…“ (Ṭabarī, Tafsīr11/440). Die Besonderheit dieser durch den Koran und den Ḥadīṯ festgelegten Zeit liegt nicht nur in dem gesellschaftlichen Aspekt der Sicherheit der Pilger, die durch das Verbot der Kriegszüge noch vor dem Islam gewährleistet und durch den Koran bestätigt wurde. 

Vielmehr wurde diese Verordnung um eine zusätzliche innere Dimension erweitert: durch das Gebot „…darum tut (*euch selbst*) in ihnen kein Unrecht an…“  wird der Schwerpunkt auf die innere Ruhe eines jeden Menschen gesetzt. Und der Prophet warnt, dass die Sünden in heiligen Monaten schwerwiegender sind als in anderen Zeiten. 

In Anbetracht der gesellschaftlichen und politischen Konflikte letzter Zeit im Nahen Osten scheint mir, dass sich unsere heutige Zeit nach diesen beiden Dimensionen der Sicherheit und der Ruhe besonders sehnt. Der Wunsch nach dem Frieden soll in den Gebeten der Gläubigen in den folgenden heiligen Monaten erklingen, insbesondere für die Heilige Stadt Jerusalem – eine „Stadt des himmlischen und des irdischen Friedens“.

Wegen der Dynamik unseres Lebens vergessen wir sehr oft die auserwählten Tage, Nächte, Orte und Ereignisse. Sie verbleiben nur als Notizen in unseren Kalendern und wir vernachlässigen ihre Bedeutung und Heiligkeit. In einem bekannten Ḥadīṯ erläutert der Prophet Muḥammad ﷺ was Gott alles ausgezeichnet und geheiligt hat: „Gott hat einige Dinge in seiner Schöpfung auserwählt: von den Engeln und Menschen – die Gesandten, von der Rede – das Gedenken Gottes (ḏikr), von den Orten auf der Erde – die Gebetshäuser, von den Monaten – den Ramadan und die heiligen Monate, von den Tagen – den Freitag und von den Nächten – die Nacht der Bestimmung (laylat al-qadr).“ (Ebd. 445). 

Das Ehren und Schätzen der Heiligkeit folgender drei Monate gehört zur „Gottesfurcht der Herzen“ (taqwā l-qulūb) (Q 22:32). Die heiligen drei Monate bieten dem Menschen die Möglichkeit seiner Seele Raum zu schaffen, sich von der Weltlichkeit zu befreien und die Gottesfurcht zu erlangen. Und genauso wie das Sündigen in diesen Monaten schwerwiegender ist, ist die Wert der rechtschaffenen Taten in dieser Zeit besonders belohnungswert…

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Verzicht #Frieden #Ruhe

Freundschaft

Das Thema der dieses Jahr leider nur rein digital stattfindenden Paderborn Conference of Comparative Theology ist die Freundschaft. Freundschaft ist eines der großen Ziele komparativ theologischen Arbeitens. Und wenn ich überlege, was am ZeKK in dem vergangenen Jahrzehnt entstanden ist, so sind es gerade die Freundschaften zu meinen nichtchristlichen Kolleg*innen, die für mich am wertvollsten sind.

Freundschaft ist für religionsübergreifendes Arbeiten vor allem deshalb so bedeutsam, weil sie Andersheit zu würdigen vermag. Bei meiner Freundin oder meinem Freund kann ich es gut haben, dass er oder sie anders ist als ich. Ich kann mich sogar für die Dinge begeistern, die ihn oder sie froh und glücklich machen, die ihn oder sie im Leben tragen und bewegen. Auch die Religion einer anderen Person erscheint in einem neuen Licht, wenn sie meine Freundin ist. Und dieses Licht ist nicht nur freundlicher, sondern vor allem von einem tieferen Verstehen geprägt. Denn Freundschaft hilft uns, die Wirklichkeit genauer zu sehen. Liebe macht manchmal blind, aber Freundschaft macht Lust ganz genau hinzuschauen.

Freundschaft bedeutet aber auch füreinander einzutreten. In der komparativ theologischen Arbeit stehen wir oft Rücken an Rücken, um einander den Rücken freizuhalten, aber auch um mehr zu sehen. Freunde stehen für uns ein, wenn es uns schlecht geht und wir unfair behandelt werden. Freundschaft macht die Häme und Rechthaberei unmöglich, die interreligiöse Beziehungen so lange unheilvoll überlagert haben. Sie führt uns mitten hinein in den Lebensvollzug Jesu, der sein Leben hingibt für seine Freunde und darin den tiefsten Sinn des Lebens sieht. Ist es nicht wundervoll gerade dieses Zeugnis religionsverbindend zu weiten?

Ein letzter Punkt noch. Freundschaften machen das Leben lebenswert, sie machen Lust auf das Leben, wecken Sehnsucht nach mehr. Sie leisten also genau das, was auch Religionen schaffen wollen. Nach christlichem Zeugnis sucht auch Gott unsere Freundschaft und er will in zwischenmenschlichen Freundschaften erfahrbar sein. Wie schön, dass ich davon am ZeKK in den letzten Jahren so viel erfahren durfte. 

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

#Freundschaft #interreligiöseBeziehungen #Sehnsucht

Yunus Emre und die gelbe Blume

„Ich fragte die gelbe Blume: ‚Hast du eine Mutter und einen Vater?‘ Die Blume sagte: ‚Derwischvater, meine Mutter und mein Vater sind die Erde. Es gibt keinen Gott außer Gott.‘“ So lautet eine Strophe eines religiösen Volksliedes, türkisch ilahi, die ich in meiner Kindheit während des Moscheeunterrichts auswendig gelernt hatte und zum Grundrepertoire dieser Gattung gehört. Diese Worte gehören dem großen türkischen Mystiker Yunus Emre (1241 – 1321), dessen Texte zu den zentralsten Ilahis gehören, die bei religiösen Feierlichkeiten in der Türkei, wie etwa beim Geburtstag des Propheten Muhammad oder der Gedenknacht zu seiner Himmelfahrt, immer gesungen werden. Yunus Emre ist der bekannteste türkische Mystiker, der wie Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī im 13. Jahrhundert in Zentralanatolien gelebt hat. Seine Lebzeit war geprägt von dem Mongolensturm in Anatolien, der bei der Bevölkerung zu einem Trauma ungeahnten Ausmaßes führte. Die religiösen Einschränkungen, aber auch die erhobenen hohen Steuern der mongolischen Herrscher und damit einhergehende wirtschaftliche Schwierigkeiten führten bei der Bevölkerung zu einer Hoffnungslosigkeit bislang unbekannten Ausmaßes. In dieser schweren Zeit wirkten Rumi und Yunus Emre wie spirituelle Leuchttürme. In die apokalyptische Grundstimmung versuchte Yunus Emre mit Askese und Frömmigkeit wieder Hoffnung einzubringen. Den Mittelpunkt der Texte von Yunus Emre bilden die Vergänglichkeit der Welt sowie die Liebe und Sehnsucht nach Gott. Als Kind habe ich mich über seine Texte gewundert, wenn er als Annäherung an den Schöpfer auf Naturmotive zurückgreift, die er bei seinen vielen Reisen über die anatolische Steppe als Wanderderwisch gemacht: Mal spricht er mit einer gelben Blume über seine Herkunft, mal ruft er mit den Bergen nach seinem Herrn, mal stimmt ihn der Gesang einer Nachtigall traurig, weil er sich an seine Sehnsucht nah Gottes Nähe erinnert fühlt. Jahre später habe ich erst das Konzept verstanden, dass ihn mit der Natur das Konzept der Geschöpflichkeit und damit eine Endlichkeit verbindet. Eine Endlichkeit, die auf den Unendlichen ausgerichtet ist. Yunus Emre betont immer wieder, dass alles von Gott kommt und Gott auch das Ziel der Reise des Menschen auf der Welt sein sollte, so wie es der Koran im Vers 156 der Sure al –Baqara auch zum Ausdruck bringt. 

Auch wenn Yunus Emre international nicht die Bekanntheit wie Rumi aufweisen kann, sind seine Texte auch heute Teil des kollektiven Gedächtnisses in der Türkei, sowohl der sunnitischen als auch der alevitischen Bevölkerung. Auch 800 Jahre nach seinem Tod lese ich manche seine Texte als Inspirationen in der globalen Klimakrise: Jüngere Menschen fordern uns auf, die Bedrohung der Artenvielfalt ins Bewusstsein zu führen und halten uns den Spiegel hin, dass unser Konsumverhalten die Erde zum Kollaps führt. So landen allein in Deutschland rund 75 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf und Jahr im Müll, während weltweit über 690 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben und hungern müssen. Möglicherweise steckt hinter unserem Verhalten das fehlende Bewusstsein für die endlichen Ressourcen unseres Planeten, dass uns von Gott anvertraut wurde. Um es mit Yunus Emre zu sagen: Vergessen wir die Natur als unsere Mitgeschöpfe, als unsere „Geschwister“ zu ehren, zu schätzen und uns für ihre Bewahrung einzusetzen? Wertschätzung geht über Wahrnehmung und einem differenzierten Blick. Um diese Schönheit und die Verbundenheit wie in den Worten von Yunus Emre entdecken zu können, muss der Natur entfremdet lebende Mensch wieder lernen, Weizen von Roggen oder einen Zaunkönig von einer Drossel zu unterscheiden. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Yunus Emre #Anatolien #Ilahi #Klimaschutz

Stille auf dem Schulhof und die digitalen Fenster zur Welt

Machen wir uns nichts vor. Konsum, Medien, Unterhaltungselektronik bzw. die mit ihnen verbundene Ablenkung und Zerstreuung gibt es nicht erst seit gestern. Vielmehr begleiten sie die globalisierten und kapitalistischen Gesellschaft wie einen Schatten in dem Menschen sich ausruhen, in dem sie sich aber auch verstecken können. Grundsätzlich lässt sich attestieren, dass gerade die digitalen Medien demokratische Potentiale haben: Sie ermöglichen Vernetzung im Kampf gegen Untergerechtigkeit und Unterdrückung, können Menschen eine Stimme verleihen, die sonst nicht gehört werden, dienen als Multiplikatoren und erlauben Informationsaustausch über alle Grenzen hinweg. Zugleich sind es jedoch Stichworte wie Fake NewsFilter BubblesPhantom-Vibrations-Syndrom oder Pflegeroboter, die uns die Ambivalenz der digitalen Technologien vor Augen führen.

Gerade im Blick auf die konkrete Nutzung lässt sich intuitiv vermuten: die Dosis macht das Gift. Denn es macht wohl einen Unterschied, ob ich mich abends zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort vor den Fernseher bzw. Computer setze oder das digitale Medium mit uneingeschränktem Zugang zu Unterhaltung, Kommunikation und Information in meiner Hosentasche mit mir herumtrage. Ablenkung, Zerstreuung und Konsum sind durch ein mobiles Endgerät nicht länger temporär oder lokal gebunden. Ob in Bus oder Bahn, beim Spazieren im Park, im Wartezimmer der Arztpraxis, ja neuerdings sogar gekoppelt mit Infotainment-Systemen moderner Kraftfahrzeuge: nirgends müssen wir auf unser Handy verzichten. Netflix im Bus, Whatsapp im Auto, Amazon im Wartezimmer. 

Besonders bemerkenswert ist die Omnipräsenz digitaler Begleiter wenn man Schüler*innen auf unseren Schulhöfen beobachtet: in kleinen Trauben stehen sie gemeinsam über ihre Handys gebeugt, starren auf flackernde Rechtecke. Eine surreale Stille liegt über ihren Köpfen, die verbale Kommunikation hat sich auf das Kommentieren der virtuell dargebotenen Inhalte beschränkt. Das Mobiltelefon ist längst nicht mehr bloße Möglichkeit über physische Distanz hinweg miteinander zu kommunizieren. Auf unseren Schulhöfen aber auch an vielen anderen Stellen im öffentlichen Raum wird immer deutlicher, dass es zur Linse geworden ist, zum Filter durch den hindurch die Welt gemeinsam betrachtet wird. Statt die Welt zu erleben, wird sie portioniert, kommt hochaufgelöst, geglättet und mit Werbeinhalten gespickt durch ein 6,4 Zoll 4k Display bei uns an.

Was macht dies mit uns, unserem Selbst- und Weltverständnis? Es scheint, als führe uns die permanent verfügbare Ablenkung und die ständige Vorfilterung der Welt in eine Passivität, als beschränke sich unser Engagement auf das Konsumieren oder Rezipieren einer bis ins unkenntliche verzerrten Welt. Ein tätiges Leben, die vita activia, hört dort auf, wo wir uns selbst zu passiven Betrachter*innen degradieren, d.h. immer weniger eigenständig Denken, Handeln und Schaffen. Ein tätiges Leben hört dort auf, wo wir uns nicht länger mit uns selbst auseinandersetzen und uns von Anderen berühren lassen oder selbst berühren. Eine der entscheidenden Fragen der Zukunft bei denen wir wissenschaftlich und menschlich engagiert sein müssen ist also, was digitale Technik mit uns selbst und unserem Umgang mit bzw. unserer Wahrnehmung von Mitmensch und Umwelt macht; wie im Blick auf unseren eigenen Medienkonsum ein tätiges und damit soziales Leben ermöglicht oder blockiert wird.

In Erinnerung an die surreale Stille auf den Schulhöfen scheint zumindest klar zu sein, dass wir auch jenseits aller wissenschaftlichen Studien wohl gut daran tun, nicht auf das Smartphone schauend vor die nächste Laterne zu laufen, sondern stattdessen in die Arme eines lieben Menschen. 

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn. Co-Autor für diesen Beitrag ist Lukas K., Lehrer in Niedersachsen.

#Digitalisierung #Konsum #Schulhof