Weihnachten in der Wüste

Die koranische Weihnachtsgeschichte in der nach Maria benannten 19. Sure des Korans hält einige Überraschungen bereit. Zunächst einmal kommt sie ganz ohne Josef aus. Der Mann an der Seite Mariens kommt im Koran nicht vor. Läuft in den Stammbäumen der Evangelien der Stammbaum Jesu über seinen Adoptivvater Josef, um auf diese Weise seine davidische Abstammung zu sichern, ist der Stammbaum Jesu in koranischer Perspektive „Frauenpower pur“. Seine Mutter Maria ist wie in der Bibel Jungfrau, aber anders als in der Bibel hat sie keine männliche Unterstützung. Schon als Kind ist sie Gott geweiht und braucht ihren Vormund nicht, weil ein Engel sie direkt versorgt. Auch die Mutter Mariens ist koranisch viel wichtiger als ihr Vater. Ihr Fürbittgebet ist es, das Geburt und Erwählung Mariens sowie den besonderen Schutz Gottes für sie und ihren Sohn vermittelt. 

Jesus erscheint also zunächst einmal als Sohn und Enkel starker Frauen, die vor allem durch ihre innige Gottesbeziehung für ihn zum Vorbild werden. Doch die Geburtsgeschichte Jesu im Koran enthält noch mehr ungewohnte Perspektiven. Sie betont die totale Einsamkeit und Verlassenheit Mariens. Sie ist von ihrer Familie verstoßen und hat niemanden mehr, an den sie sich halten kann. Sie ist völlig verzweifelt und wünscht sich den Tod. Die Idylle der Heiligen Familie im Stall von Betlehem weicht dem totalen Ausgesetztseins Mariens und ihres Sohns in der Wüste. Die Geschichte passt damit sehr gut in die Dramatik unserer Zeit, in der viele von uns Weihnachten alleine feiern mussten und sich vor Einsamkeit, Krankheit und Tod fürchten – genau wie Maria. Auch ihre Geburtsschmerzen werden im Koran anders als in der Bibel in bewegender Weise geschildert und rücken Maria ganz nahe an uns in unseren Nöten heran. 

Besonders spannend finde ich, wie Maria Trost in ihrer Not findet und wie sie den Anfeindungen ihrer Familie nach der Rückkehr von dem entlegenen Ort im Osten trotzt. Sie kann nämlich nichts zu ihrer Verteidigung sagen, weil sie ein Schweigefasten macht; also ein Fasten, das darin besteht, einfach gar nichts zu sagen – was für eine aufregende Idee gerade für unsere Zeit. Ihr einziger Ausweg ist ein stummes Zeigen auf Jesus. Und ihr Säugling spricht: „Ich bin der Knecht Gottes.“ Er verteidigt Maria und macht uns allen Mut. Wer weiß: Wenn wir in der anhaltenden Zeit des Lockdowns einfach still werden und auf ihn zeigen, vielleicht hören wir dann auch seine Stimme und erhalten durch ihn Mut und Zuversicht. Der Verkünder des Korans jedenfalls scheint zu glauben, dass das funktioniert.   

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.