Zwischen den Zeiten

In dieser Woche schwebt die Christenheit zwischen Ewigkeitssonntag und Erstem Advent. Zwischen den Jahren. Die Lichter auf den Gräbern der Toten, die wir am „Volks-Trauer-Tag“, am „Buß- und Bet-Tag“ und am Ewigkeitssonntag angezündet haben, werden am Sonntag abgelöst und aufgehoben in das eine Licht am immergrünen Adventskranz, das wachsen wird bis zur Lichtfülle in der Heiligen Nacht. Der zweite Lockdown, „light“ genannt, lastet – nach meiner Wahrnehmung – schwerer auf uns als der erste. Er fällt in die Zeit abnehmenden Lichts. Die Pandemiezahlen in Deutschland bleiben auf hohem Niveau, die wirtschaftlichen Nöte sind gewachsen, denn die Sommermonate haben nicht ausgereicht, um die Verluste auszugleichen. Zahllose kleinere Kultur-, Hotel-, Gastronomie-, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe stehen vor dem Konkurs. Dieses Jahr sind deutlich mehr hochbetagte Menschen in Alten- und Pflegeheimen und in ihren Häusern als je zuvor gestorben, die meisten von ihnen weder an noch mit Covid, sondern an Einsamkeit und Schwäche. Mehr Obdachlose sterben. Trauerfeiern fielen und fallen aus.

In der letzten Woche durfte ich drei Gottesdienste besuchen: den zum Gedenken an Europas Tote auf der Flucht am Buß- und Bettag in der Hamburger Jakobikirche, am Ewigkeitssonntag den Gottesdienst in der Friedenskirche in meiner Nachbarschaft und den Gottesdienst zum Gedenken an die Obdachlosen Hamburgs in Sankt Bonifatius am Weiher. Die letzten beiden waren überfüllt. An beiden Gottesdiensten konnten bei geöffneten Kirchentüren durch die Lautsprecheranlagen der Kirchen auch die draußen vor der Tür teilhaben. Den Gottesdienst am Abend konnten wir nach einer Wandelprozession, in der wir unsere Kerzen für die Obdachlosen vor dem Altar in Kreuzform abgestellt hatten, unter freiem wolkenverhangenem Abendhimmel fortsetzen: „Weißt du wieviel Sternlein stehen?“ sangen wir mit dem Chor unter Mundschutz. „Gott im Himmel hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen, kennt auch dich und hat dich lieb“.

Im Tagesspiegel vom Mittwoch lese ich, dass der Medizinhistoriker und -ethiker Cornelius Borck meint, in der Krise höhle die gewachsene Wissenschaftsgläubigkeit die Religiosität aus. Die Kirchen hätten „bislang keine Sprache gefunden, um die Krise theologisch zu erklären.“ Hamburger Gottesdienste in der letzten Woche des Kirchenjahres zeugen von einer anderen Entwicklung. Von den Kirchen und Religionen wird gerade in dieser Zeit der Not mehr erwartet. Offenbar wird ihnen wieder mehr zugetraut. Kirchen werden voller. Nutzen wir „religiös Musikalischen“ die Chancen! Suchen wir mit anderen Menschen in Not nach tragfähigen Antworten und singen wir leise Lieder der Klage und der Hoffnung!

„Lauschen wir auf den Klang eines neuen Tages, der in uns beginnt! Hören wir nicht auf zu wandern, bis wir verwandelt sind!“ Nach Marie Luise Kaschnitz

Prof. Dr. Helga Kuhlmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.