Auf der Suche nach dem Geräusch der Stille

Vor mehr als zwei Jahren, als mir bewusst wurde, dass mir die Erfahrung der Stille wegen der  Unbehandelbarkeit meines ständigen Tinnitus nicht mehr zur Verfügung steht, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Absurdität der conditio humana auseinandergesetzt. Ich konnte einfach nie wieder das Gefühl des Nichtshörens erfahren. Ohne weitere Erklärung war es einfach so. Punkt!

Schwieriger als die Unerreichbarkeit der Stille selbst war für mich die Unbegreiflichkeit der Situation. Ich hatte meinen Zugang zur absoluten Ruhe verloren, ohne zu wissen, aus welchem Grund das passiert ist. Und gerade diese Begegnung mit einer unerklärbaren existentiellen Situation hat mein Gefühl der Freiheit, also meinen subjektiven Sinn von Würde, bedroht. Dieses Problem hat der deutsche Philosoph, Hermann Krings, selbst inspiriert von Kierkegaard, so beschrieben:  

“Denn der Mensch, der sich einer Tatsache konfrontiert sieht, die er nicht begreifen kann, fühlt sich ihr ausgeliefert und unterworfen. Er kann sich nicht zu ihr verhalten; er fühlt sich unfrei. Nichtbegreifenkönnen ist mit einer Erfahrung der Unfreiheit verbunden.” [1]

Mein Umgang mit dieser zwei Jahre lang andauernden Situation bestand darin, dass ich als einzige Lösung den ganzen Tag Musik laufen lassen musste. Jedoch hat die Isolation während der Zeit der Corona-Krise, die uns nicht zu sehr von den isolierten Nonnen und Mönchen unterscheiden lässt, mich dazu gebracht, dieses Problem anders zu sehen. Einer der Gedanken, den ich in dieser Zeit sehr inspirierend gefunden habe, stammt vom hl. Augustinus und lautet: Gott spricht zu uns in der großen Stille des Herzens. Mit der Inspiration dieses Gedankens, habe ich die absurde Frage „warum ich?” hinter mir gelassen und dadurch den Mut gefunden, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Durch die Praxis der Mediation habe ich endlich gelernt, mich von dem unaufhörlichen Pfeifton in meinem Ohr zu distanzieren und meine Freiheit durch diesen Akt der Distanzierung neuzuentdecken; also, Freiheit als einen Akt des Beisichbleibens zu begreifen. Ich habe gelernt, dass die wahre Stille eigentlich aus mir selbst, und nicht aus meinen Ohren oder aus meinem Gehirn stammt und dass meine Suche nach dem Geräusch der Stille in der Tat eine Suche nach meinem wahren Selbst gewesen ist. 

Obwohl mein Tinnitus immer noch da ist, fühle ich mich nicht mehr unfrei;  vielmehr halte ich ihn jetzt für ein besonderes Zeichen, das mich immer wieder daran erinnert, meinen ewigen Kampf gegen mich selbst für meine Freiheit nie aufzugeben.

[1] Krings, Hermann, Erkennen und Denken. Zur Struktur und Geschichte des transzendentalen Verfahrens in der Philosophie, in: PhJ 86. (1979), p.7

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

#AbsurditätundFreiheit #InnereRuhe

Zwischen der Fragilität und der Stärke, die Hoffnung.

Die Fragilität der Existenz der Welt und seine Geschöpfe und auch die  Wiederherstellung seiner Stärke, sind wiederkehrende Themen in den jüdischen Quellen, beginnend mit den Erzählungen der Tora. 

Bereits Genesis berichtet, dass es seit der Schöpfung gerade einmal nur neun Generationen dauerte, bis eine göttliche Flut alles Leben auf der Erde vernichtete. Nur Noah, seine Familie und die Tiere, die sie retteten, überlebten diese Tragödie. Die Botschaft der Geschichte spielt auf die Fragilität der Umwelt an, auf die Unvorhersehbarkeit natürlicher Zyklen, wenn der Mensch die göttlichen Spielregeln nicht respektiert. Eine der ersten Handlungen Noahs auf trockenem Land war das Pflanzen eines Weinbergs. Und das Leben nahm seinen Lauf.

Ein paar Kapitel später schildert Gen 11 die Illusion von Macht und Eigenständigkeit, die mit dem Bau des Turms von Babel gefeiert werden sollte. Dann der nächste Bruch: Gott intervenierte, indem er Sprachen schuf und mischte. Eine verständliche Kommunikation zwischen Menschen untereinander wurde unmöglich. In diesem Fall versucht die Geschichte nicht nur, die Ätiologie menschlicher Sprachen zu erklären, sondern schlägt auch vor, dass Kommunikation ebenso entscheidend ist wie Biologie. Es zeigt, dass erst eine Zusammenarbeit mit anderen und Sprache ein Zusammenleben der Menschen ermöglicht.  

Szenenwechsel: Abraham wird in Gen 22,1-19 auf die Probe gestellt, als er seinen Sohn Yitzchak fast opfert. Sein bedingungsloser Glaube hätte ihn als Person zerstören können. Die Ausübung von blindem und absolutem Glauben wird somit vollständig abgelehnt. Der Patriarch hat die Prüfung bestanden und sein Leben ging irgendwie weiter. Seine Frau Sarah starb dagegen vor Kummer, als sie die Nachricht hörte, berichtet der Midrasch. Aber wie war Yitzchaks weiteres Leben? Chaim Guri, ein israelischer Lyriker, schreibt in seinem Gedicht Heritage (Erbe) Isaac, as the story goes, was not sacrificed. He lived for many years(…).But he bequeathed that hour to his offspring.They are born with a knife in their hearts.” Es ist die Zerbrechlichkeit der Psyche und die Erfahrung eines Traumas, die Guri thematisiert. 

Ein Beispiel für die Fragilität der national-politischen Institutionen ist die Zerstörung des zweiten Tempels 70 u.Z. Unter den vielen Reflektionen nach diesem traumatischen Ereignis findet sich ein Kommentar aus dem rabbinischen Denken, der Mut und Hoffnung machen soll. Er lehrt, dass der Moment der ersehnten Erlösung beschleunigt würde, wenn Israel Gute Taten (Gemilut Hasadim) und Teschuwa (Umkehr zu Gott) praktiziert würde.

Eine der dramatischsten Vorstellungen von Fragilität verkörpert sich im mystischen Gedanken der Kabbala mit der Idee der „zerbrochenen Gefäße“. Vereinfach dargestellt: während des Schöpfungsprozesses der Welt hatte sich die Kraft Gottes in seiner Kontraktion (zimzum), gewaltsam zerstreut,, um Platz für die Welt zu schaffen. Um das Ungleichgewicht zu reparieren, sind es nun die guten Taten der Menschen (Tikkun Olam), die die verlorenen Scherben wieder zusammenbringen können. 

Die Texte der jüdischen Tradition erarbeiten eine fertige und fragile Welt. Die Vollkommenheit der Welt zu erreichen, ist eine Aufgabe und ein Ideal, das der menschlichen Spezies zugeordnet ist, eine Mission, die nur in messianischen Zeiten endet. Das ist die andere Seite der Fragilität: die Kraft des Menschen, durch seinen Glauben und seine Handlungen die Harmonie der Welt und insbesondere im mystischen Denken des Kosmos zu restaurieren.

Zwischen Zeiten der Fragilität und denen der Wiederherstellungskraft öffnet sich der Ort der Hoffnung. Yeshayahu Leibowitz, Philosoph und Wissenschaftler (1903-1994), einer der angesehensten und umstrittensten Intellektuellen in Israel, antwortete auf die Frage nach der Figur des Messias für das Judentum: „Ich glaube, dass der Messias am kommen ist“ und erklärt weiter: „das ist die Essenz des Messias, er ist immer auf dem Weg“.

Auf welchen Wege wandelt noch der Messias, der bekannterweise nach jüdischer Tradition nicht angekommen ist und laut Leibowitz niemals ankommen wird?                                                                        

Wie die Schritte  zum unerreichbaren Horizont, die der  Uruguayer Schriftsteller Eduardo Galeano beschreibt. Wenn ich zum Horizont gehe, bewegt er sich auch weg. Also gehen wir auf einen Horizont zu, der unweigerlich zurückgeht. Aber der Horizont hilft uns und dafür gibt es dem Glauben an den Messias: um zu wandeln.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

#Fragilität #Hoffnung #Stärke #Resilienz.

Über Geschwisterlichkeit und „Gender-Wahn“

Mit den Krisenerfahrungen spätmoderner Gesellschaften hat die von vielen Religionsgemeinschaften geforderte, konsequente Solidarisierung mit den Notleidenden und Verfolgten eine neue Dringlichkeit erhalten und zu einer Kultur des wertschätzenden Miteinanders ermutigt. Auch Papst Franziskus hat in seiner im Oktober veröffentlichten Enzyklika Fratelli Tutti daran erinnert, dass die Größe und Weite der Liebe keine nationalen, religiösen, ethnischen, generationalen oder sozialen Grenzen kennen kann, sondern die Nächsten und ihr Geschick zum eigenen werden lässt. Die vom ihm ermutigte Geschwisterlichkeit bleibt in aller Diversität menschlicher Lebensformen entsprechend immer transparent auf die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Schöpfung und auf das Engagement für soziale Gerechtigkeit. 

Dass diese Geschwisterlichkeit und Wertschätzung durch einen Dialog in der Haltung der Gastfreundschaft begleitet wird und immer mit dem Bemühen den/die Gegenüber in ihren Perspektiven, Bedürfnissen und Interessen zu verstehen verbunden ist, kann ich sowohl für den akademischen Kontext des ZeKKs, als auch den pastoralen Kontext der Seelsorge und schließlich in privaten Kommunikationsbeziehungen als bestätigt erfahren. 

Je mehr ich also die Relevanz des verständigungsorientierten Dialogs für ein wertschätzendes Miteinander und eine Kultur der Begegnung verstehe und unterstütze, desto unverantwortlicher , irritierender und unverständlicher erscheint mir der gegenwärtig von einigen meiner geistlichen Geschwistern angekündigte (und in einer Bischofspredigt aus Passau zu Weihnachten 2020 jüngst abermals betonte) Kampf gegen den angeblichen „Gender-Wahn“ bzw. die „Gender-Ideologie“. 

Unverantwortlich erscheint er mir zunächst besonders deshalb, weil diese Wortwahl nur allzu deutliche Überschneidungen mit der Rhetorik der Neuen Rechten aufweist und so (willentlich oder schlicht aus Unkenntnis) intellektuelle Nähe zu einer tatsächlich ideologisch eingefärbten, politischen Agenda herstellt.

Irritieren muss ein solcher Kampf, weil er nicht nur die Forderung nach einem wertschätzenden Umgang mit dem Nächsten, sondern auch die Orientierung an einem mutualen Bemühen um Verstehen und Verständigung blockiert. Auch wenn ich die Schärfe, mit er die Diskussionen um die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche geführt werden, kenne und somit um die (emotionalen) Frontstellungen weiß, helfen undifferenzierte Vereinseitigungen nicht dabei diese zu überwinden, sondern erzeugen nur mehr Unverständnis, zementieren diese Fronten in der impliziten oder expliziten Unterstellung stereotyper Klischees und machen die Wertschätzung von Familie und Partnerschaft jenseits heteronormativ-patriarchaler Rollenzuweisungen unmöglich. Eine Kultur der Geschwisterlichkeit zu pflegen bedeutet nicht, dass alles immer einheitlich und einstimmig abläuft. Vielmehr braucht es einen konstruktiven, d.h. kritischen, sachlich differenzierten aber eben dennoch menschenzugewandten Umgang mit Unterschiedlichkeit. Auch im Dissens bleiben die Anerkennung des Anderen und ein wertschätzendes Miteinander möglich.

Unverständlich ist der undifferenzierte Vorwurf an „Gender-Wahn“ zu leiden also schließlich, weil er weder auf der Sach-, noch auf der Emotions- und erst recht nicht auf der Beziehungsebene für die Kultur der Geschwisterlichkeit einsteht. Die von Papst Franziskus ermahnte soziale Freundschaft hört nicht dort auf, wo der Andere eine für mich ungewohnte Perspektive einnimmt. Sie lebt von Augenhöhe und immunisiert sich nicht gegen die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Lebensentwürfe. Wenn mich diese Komplexität überfordert, wenn mich Lebensentwürfe befremden, dann kann und darf dies immer sein. Meine Verantwortung als Bürger*in, als Christ*in und als Mitwirkende*r an einer Kultur der wertschätzenden Begegnung und freundschaftlichen Offenheit besteht dann aber darin, dass ich nicht dort stehen bleibe, sondern nachfrage, dass ich mich umfassend zu informieren bemühe, dass ich ernsthaft hinhöre und aufrichtig zu verstehen versuche. Im Zweifelsfall wäre es sonst aber wohl ethisch angemessener einfach mal zu schweigen. Die Verbreitung von Inhalten nämlich, deren Einseitigkeit als kleinmütige Angstrhetorik erscheint – zumindest aber daran zweifeln lässt in der befreienden Botschaft des Evangeliums zu wurzeln – könnte sonst im Versuch die Wahrheit jenseits des Anderen verstehen zu wollen, selbst wahnhafte Züge annehmen. 

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.

#KulturdeswertschätzendenMiteinanders #Geschwisterlichkeit #“Gender-Wahn“

Online Religiosity

Like any other phenomenon, religion has proven its presence in the online world since its inception. All religions have contributed to the creation of websites and pages that serve to highlight their message, call for their faith, and respond to their opponents. 

The use of social media by moderate religious institutions, formal and informal, is of great importance that could not be neglected because younger generation is increasingly active in these spaces, and nurture its religious and moral culture from it.

From its side social media greatly influences the concept of religious authority, and the relationship between a believer seeking advisory opinion and religious scholars. It provides the ability to meet a wide range of clerics anywhere in the world. It allows to choose a satisfactory opinion or the preferred preacher to adhere to his/her opinion. It can even imposes on preachers to change their style. Today – thanks to the space of freedom offered by the virtual domain – a person is able to engage in several religious topics including the formation of a new religious consciousness with its positive aspects and the issues like religious renewal and reform.

The online world also offers space for political or religious extremists. Away from government censorship they are able to express their ideologies and radical ideas Online and they can reveal their ideas to a larger crowd to recruit individuals either to fight with them or to adopt their destructive propositions. 

Due to such threats to society, it is important to activate the role of moderate religious institutions on websites and social media, and to urge them, as a preliminary step for their development, to work more on revitalizing their role in spreading a culture of moderation, tolerance and acceptance of others in order to restrain the phenomenon of religious extremism and sectarian extremism.

Nadia Saad ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Der Präsident mit der Bibel

Während in dieser Woche die erschreckenden Bilder vom Sturm auf das Kapitol über die Bildschirme gingen, kam mir wieder und wieder ein anderes Bild in den Sinn, das wie wenige andere für eine problematische Verstrickung von Religion und Politik in der Amtszeit Donald Trumps steht. Im Sommer des vergangenen Jahres ließ der Präsident sich für dieses Bild mit Tränengas den Weg räumen – um dann triumphierend eine Bibel vor der Washingtoner St. Johns-Kirche in die Luft zu halten. 

Es sind Fotos wie diese, die den Verdacht nahelegen, die Verbindung von Religion und Politik sei vor allem: anfällig für Missbrauch. Man werde eines Tages auch über die Rolle reden müssen, die einige Katholiken bei der politischen Gewalt der vergangenen Monate gespielt haben, twitterte der Theologe Massimo Faggioli am Mittwochabend. Immer wieder war in den letzten Monaten der Tenor verständlich, das „politische Christentum“ spiele eine negative Rolle. Man könnte an die Videos von Predigern denken, die das Coronavirus durch eine Art Zauberspruch bekämpfen wollten. Manchmal scheint eine Allianz von Christentum und Populismus schon durch ein Stichwort (etwa: „pro life“) herstellbar zu sein, ohne dass genauer gefragt wird, ob die konkrete Politik dieses nicht eher konterkariert. 

Aufgrund solcher Beispiele kann ich es kaum jemandem übelnehmen, Religion zur reinen Privatsache erklären zu wollen, die bitte nicht allzu öffentlich werden solle. Vielleicht gehört es aber gerade (auch) zu den politischen Aufgaben gläubiger Menschen, mitunter Einspruch zu erheben. Denn Theologie und Glaube spielen immer auch eine politische Rolle, und sei es nur angesichts der Frage, wozu wir schweigen und wozu nicht. 

Vor wenigen Wochen jährte sich der erste Todestag von Johann Baptist Metz. Er hat immer wieder für eine „Gottesrede mit dem Gesicht zur Welt“ geworben und so eingeschärft, dass der Glaube nicht nur etwas für Sonntagvormittage ist. Dessen politische Dimension hat freilich nichts mit kritikloser Systemstabilisierung oder der Machtdemonstration religiöser Symbole zu tun, sondern habe sich an der „Autorität der Leidenden“ zu orientieren. Dafür braucht es, was Papst Franziskus in seiner aktuellen Enzyklika als „politische Nächstenliebe“ (Fratelli Tutti, 180-192) beschreibt. 

Ideologiekritik wird wohl weiter zu den Aufgaben der Theologie gehören müssen. Wie schön wäre es aber, wenn wir in einer Weise wirkten, dass man bei der Verbindung von Christentum und Politik künftig zuerst an derartige Botschaften denken würde.

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Weihnachten in der Wüste

Die koranische Weihnachtsgeschichte in der nach Maria benannten 19. Sure des Korans hält einige Überraschungen bereit. Zunächst einmal kommt sie ganz ohne Josef aus. Der Mann an der Seite Mariens kommt im Koran nicht vor. Läuft in den Stammbäumen der Evangelien der Stammbaum Jesu über seinen Adoptivvater Josef, um auf diese Weise seine davidische Abstammung zu sichern, ist der Stammbaum Jesu in koranischer Perspektive „Frauenpower pur“. Seine Mutter Maria ist wie in der Bibel Jungfrau, aber anders als in der Bibel hat sie keine männliche Unterstützung. Schon als Kind ist sie Gott geweiht und braucht ihren Vormund nicht, weil ein Engel sie direkt versorgt. Auch die Mutter Mariens ist koranisch viel wichtiger als ihr Vater. Ihr Fürbittgebet ist es, das Geburt und Erwählung Mariens sowie den besonderen Schutz Gottes für sie und ihren Sohn vermittelt. 

Jesus erscheint also zunächst einmal als Sohn und Enkel starker Frauen, die vor allem durch ihre innige Gottesbeziehung für ihn zum Vorbild werden. Doch die Geburtsgeschichte Jesu im Koran enthält noch mehr ungewohnte Perspektiven. Sie betont die totale Einsamkeit und Verlassenheit Mariens. Sie ist von ihrer Familie verstoßen und hat niemanden mehr, an den sie sich halten kann. Sie ist völlig verzweifelt und wünscht sich den Tod. Die Idylle der Heiligen Familie im Stall von Betlehem weicht dem totalen Ausgesetztseins Mariens und ihres Sohns in der Wüste. Die Geschichte passt damit sehr gut in die Dramatik unserer Zeit, in der viele von uns Weihnachten alleine feiern mussten und sich vor Einsamkeit, Krankheit und Tod fürchten – genau wie Maria. Auch ihre Geburtsschmerzen werden im Koran anders als in der Bibel in bewegender Weise geschildert und rücken Maria ganz nahe an uns in unseren Nöten heran. 

Besonders spannend finde ich, wie Maria Trost in ihrer Not findet und wie sie den Anfeindungen ihrer Familie nach der Rückkehr von dem entlegenen Ort im Osten trotzt. Sie kann nämlich nichts zu ihrer Verteidigung sagen, weil sie ein Schweigefasten macht; also ein Fasten, das darin besteht, einfach gar nichts zu sagen – was für eine aufregende Idee gerade für unsere Zeit. Ihr einziger Ausweg ist ein stummes Zeigen auf Jesus. Und ihr Säugling spricht: „Ich bin der Knecht Gottes.“ Er verteidigt Maria und macht uns allen Mut. Wer weiß: Wenn wir in der anhaltenden Zeit des Lockdowns einfach still werden und auf ihn zeigen, vielleicht hören wir dann auch seine Stimme und erhalten durch ihn Mut und Zuversicht. Der Verkünder des Korans jedenfalls scheint zu glauben, dass das funktioniert.   

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

2020 – Kein Jahresrückblick

Kein bedrückender Essay, dass dieses Weihnachten alles anders ist. Kein melancholischer Jahresrückblick mit Menschen, Emotionen und Bildern. Keine hitzige Diskussion über Zahlen, Maßnahmen, überholte Familienvorstellungen oder Gottesdienstregelungen. Keine zynische Coronaversion der Weihnachtsgeschichte à la „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von der WHO ausging, dass alle Welt sich impfen ließe.“ Keine theologisch-ethische Abhandlung über Distanz als Zeichen von Nächstenliebe. Keine wirkungslose Dankesrede an Menschen in systemrelevanten Berufen. Keine selbstreferentiellen Erfahrungsberichte über Corona Blues, Quer„denker“-Demos vor der Haustür oder volle Innenstädte. Kein moralischer Fingerzeig auf all die Probleme, die während der Pandemie aus dem Fokus geraten. Und kein naives Hoffnungsgesäusel, dass nächstes Jahr alles besser wird. 

Nichts davon finden Sie in diesem Beitrag, denn das meiste haben Sie bereits zu Hauf gelesen, gehört, gedacht. Wie jedes Jahr hat auch 2020 jede*r unterschiedlich erlebt. Und wie jedes Jahr ist das Ende des letzten Kalendermonats auch in diesem Jahr eine gute Gelegenheit, sich für das kommende Jahr privat, beruflich und im Glauben zu fragen: Was kann weg, was soll bleiben? Was will ich vermeiden, was erreichen? Welche Beziehungen möchte ich beibehalten, welche beenden? Was macht mich zuversichtlich, was bereitet mir Sorgen? Wie lauten meine Wünsche, Hoffnungen, Ziele?

Vielleicht finden Sie in diesem Beitrag also in konzentrierter Form, was in allen BloKK-Beitragen dieses Jahr zu finden war und auch 2021 wieder zu finden sein wird: Anregungen zum Nachdenken über sich selbst, über andere, über Gott und die Welt. 

Und so schließe ich den letzten BloKK-Beitrag für das Jahr 2020 mit den Worten Dietrich Bonhoeffers, die er zum Jahreswechsel 1944/45 aus der Haft an seine Liebsten schrieb:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Rebecca Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Systematischen Theologie am Institut für Ev. Theologie der Universität Paderborn

Whoever Saves a Life Is as Though S/he Had Saved All Mankind

The last encyclical of Pope Francisco, “Fratelli Tutti”, comes out at a time, when religion has once again been brought to the fore, and as often in a manipulated form; once again to be harnessed for political interests. The world seems to be headed towards a “clash of civilizations”, in which “religion” plays an important role in fueling the aggressive discourse of cultural, national, ethnical and even racial superiority.

In the US, a travel ban is being issued, which is, in essence, a “Muslim ban”, seeking to bar “them” from entering the land. In India laws are issued – encouraged by some religious-nationalist tendencies – which by implication can divest Muslims in this country of their citizenship. In France, in reaction to a crime committed by someone “in the name of Islam”, the president holds an outright negative position against this religion as a whole, and declares it to be “a religion which is experiencing a crisis today, all over the world” and urges the need to build an “Islam des Lumières” (Islam of Enlightenment). That leads to a harsh reaction by the Muslims worldwide and fuels again, and much stronger, the anti-Western sentiment, bringing the Turkish president to openly attack his French counterpart. 

The world seems to be on the verge of a big clash, in which “religion” seems to play an important part. For Muslims like me, who live in the West, such an atmosphere of resentment on both sides, is even more bitter, if not alarming. Not just because we would either way have to be paying for this – by one side being stigmatized as “Muslim” by the other as “Westernized” – but mostly because we can see how much this crisis is deep-rooted in misunderstandings and misconceptions. That the problem basically lies in the lack of sympathy and recognition for the “other”. Only if, for a second, we could stop selfishly and arrogantly, seeing the world from our own sole perspectives, if we would stop understanding the world exclusivistically, many apparently big problems would easily disappear.  I, as a “Muslim” in the “West”, who has sympathy with both sides – since due to my placement between the two “worlds” can share both perspectives – can realize this; i.e. that the core of the matter is the lack of “recognition” and “sympathy” on both sides. And this, and just this is the root of all evil; the source of misunderstandings and thus the “clash” of civilizations/ worlds.

Right at this moment comes Pope’s encyclical, calling all humans, brothers and sisters – and not in faith, but in humanity. And for the first time in the Christian history, I, as a Muslim, feel addressed and recognized by a papal document – which was not even felt by “Nostra Aetate”. In this piece of document, he not only openly regards the Grand Imam of al-Azhar as an inspiration to his encyclical and mentions him often times, but also refers subtly to some Islamic concepts and to the qur’anic verses. For instance, when he begins his appeal with the qur’anic motif-phrase of “In the name of God”, or when he announces in the that very appeal: “In the name of innocent human life that God has forbidden to kill, affirming that whoever kills a person is like one who kills the whole of humanity, and that whoever saves a person is like one who saves the whole of humanity”. [1] 

Yes! Realizing the fact that we are created but from a single soul/ self/ person/ breath [2], we can appreciate that we are much more united and interdependent than we think. This fact is nowhere more highlighted than in “religions”. Therefore, just as religions can sharpen differences and lead to the dead-end of dialogue, they can also help us out of this impasse. The choice is ours!

[1] Resonating the Quran 5: 32: “That is why We decreed for the Children of Israel that whoever kills a soul, without [its being guilty of] manslaughter or corruption on the earth, is as though he had killed all mankind, and whoever saves a life is as though he had saved all mankind”.
[2] Qur’an 7: 189. 

Saida Mirsadri ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

 

Ein Planet braucht viele Stimmen

Am 30. November konnte ich über Live-Stream am #13. Berliner Klimagespräch der Klima Allianz Deutschland teilhaben. Der Titel der Veranstaltung war: Ein Planet braucht viele Stimmen – Interkulturalität und Klimaschutz. Diskutiert wurde mit Kübra Gümüşay, Autorin und Publizistin, Imeh Ituen, Sozialwissenschaftlerin und Klimaaktivistin, Martin Ladach, Projektleiter beim Bergwaldprojekt und Zohra Mojaddedi, Grüne Hamburg. Der Politikwissenschaftler Ario Mirzaie führte als Moderator durch den Abend. 

Es ist schnell erklärt, dass der Klimaschutz eine Menschheitsaufgabe ist und den Einsatz aller Menschen egal welcher Herkunft und welcher Religion erfordert. Gerade Menschen des globalen Südens sind jetzt schon viel stärker vom Klimawandel betroffen. Trotzdem scheint der Klimaprotest im bunten Deutschland geprägt von weißen, akademisch gebildeten Menschen, zumindest in der Öffentlichkeit. Deshalb wurde zurecht im Berliner Klimagespräch die Frage gestellt: Wie können Klimaprotest und die öffentliche Darstellung inklusiver und vielfältiger werden?

Mich hat begeistert: Es gibt bereits viele Initiativen! #RamadanPlasticFast ist beispielsweise eine Kampagne der muslimisch-deutschen Organisation Nour Energy, die dazu aufruft, im Ramadan zum Green Iftar einzuladen und sich so für die Umwelt einzusetzen. Nour Energy hat 2010 damit begonnen, Photovoltaik-Anlagen auf Moschee-Dächern in Deutschland zu installieren. Yesil Çember ist die bundesweit erste türkischsprachige Umweltorganisation und steht für die barrierefreie Umweltbildung aller Bürger*innen in Deutschland. Die Initiative Musik und Klima wurde vom interreligiösen Musikprojekt Trimum e.V. gestartet, um mithilfe von Musik die gesellschaftliche Vielfalt in der Klimabewegung sichtbarer zu machen.

Wer ein bisschen länger im Netz sucht, findet auch weitere Vereine und Initiativen. Aber auch ich muss feststellen, dass sie nur durch bewusste Suche auffallen. Wenn diese kulturelle und religiöse Vielfalt in der Klimabewegung sichtbarer wäre, könnten umso mehr Menschen angesprochen werden uns sich engagieren. Deshalb erzähle ich hier davon und hoffe, dass Sie es weitererzählen.

Außerdem sollten sich die Organisationen, die große Öffentlichkeit erlangt haben, darum bemühen, dass ihre Klimabewegung inklusiver wird. Wo sind BIPoC (Black, Indigenous and People of Color), Juden, Muslime, Menschen mit Behinderung in der Debatte repräsentiert? Dafür braucht es, so Imeh Ituen, Narrative, Symbole und Perspektiven, von denen sich diese Menschen angesprochen fühlen. Themen, wie die gesteigerte Betroffenheit von geflüchteten Menschen, wie der Kolonialismus haben in der Klimabewegung noch kaum Platz. Klima darf nicht als singuläres Problem gesehen werden. Deshalb argumentiert Kübra Gümüşay für mich sehr verständlich dafür, in der Klimakrise auch Rassismus und Sexismus als Missstände zu bedenken, weil in allen dreien eine eingeschränkte Perspektive verabsolutiert werde. Nur eine Bewegung, die diese Beschränktheit in allen Missständen erkenne, könne auch nachhaltig handeln. Die Inklusivität ist selbstverständlich auch eine Frage von Strukturen in den Organisationen. Warum gibt es in der öffentlichen Klimabewegung viele engagierte Frauen? Kübra Gümüşay beobachtet, dass es zum Beispiel bei Fridays for future einen Safe space für Frauen gibt. Genauso sei es möglich, einen sicheren Raum für Menschen zu schaffen, die rassifiziert werden. 

Für das Klima und unsere Gesellschaft hoffe ich, dass die Klimabewegung kultursensibler wird und die Perspektivenvielfalt als Gewinn wahrnimmt.

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Systematischen Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Saying No to the Normal

As Christmas draws near, many of us are faced with a painful choice: should we meet our parents, grandparents and vulnerable relatives, possibly exposing them to the dangers of the COVID-19 virus? Or do we spend the holidays alone, hoping that by this time next year there will be a vaccine that allows us to be with our families safely once again?

The hope that things will slowly go back to normal might be enough to keep some of us going through this dark winter without being able to see our loved ones. But we should never forget that what might seem normal to us is actually scary, terrifying and dangerous to most people.

While I long for things to return to normal, to go dancing with my friends all night and sitting in a café all afternoon observing people go about their lives, I am haunted by the idea that the normal we will all return to will be a normal that was, for many people, brutish, hellish and miserable. Many refugees and immigrants are forced to leave their homes, often without their husbands, wives, children and parents. Suffering the combined violence of international human trafficking gangs and the inhumanity of nation states that author ever more restrictive and despotic immigration policies, many of these immigrants spend decades, perhaps their whole lives, trying and failing to reconnect with their loved ones. I recently came across a tweet by an immigrant who mentioned that European immigration policies meant that they had not had an opportunity to see their own parents for almost 20 years and could never be with their families at moments of shared joy, grief and trauma, such as the birth or death of a family member. How perverse that we as a culture celebrate the right to a family life yet allow such monstrous separations between family members.

But why must we return to things as they were? The pandemic restrictions and lockdowns allow us to consider whether or not our old ways of doing things were always the best. The pandemic is not just a time to dream about how life used to be also to imagine new ways of living. Many tech companies in California, which drive so much of the innovation that the rest of the world then catches up with, have already announced that they expect their workforce to be working from home for the indefinite future. This is a tremendously liberating move, allowing people to determine how to arrange their work life balance and to embrace greater flexibility in their work schedules. I want to laugh and cry when I consider how much time we all used to waste on journeys to and from our places of work when it turns out we could have been equally effective, if not more so, working from home. The daily rituals of our lives, such as going to work and back home at the end of the working day, often induce a false sense of community, making us think that our lives are more or less similar to those of everyone else. Having our daily routines and rituals taken away from us allows us to reconsider our unique experiences and needs as individuals. Hopefully, the new normal to which we return is one where our individual experiences and needs will not be overlooked.

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.