„Der Frieden vom anderen Ufer“

Religionen gelten auf der ganzen Welt als Wege der Weisheit. In vielen Formen begegnet sie uns auch allegorisch und in den meisten Traditionen ist sie weiblich. Ob Athene oder Sophia aus dem Philippus-Evangelium. Spannenderweise bildet auch der Buddhismus hier keine Ausnahme. Auch hier scheint die Weisheit weiblich zu sein. Ob sie es aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Sie weist zwar eindeutig weiblich Merkmale auf (siehe Bild), kommt aber vom anderen Ufer. Das vermittelt uns der Name jener Literatur, die sie uns vermittelt, die Prajñāpāramitā, die Weisheit (Skt. prajñā) vom anderen (Skt. pāra) Ufer (Skt. mitā). Doch was ist das für ein Ufer und was hat das mit der buddhistischen Praxis und vielleicht auch mit unserer heutigen Weltsituation zu tun?

Tatsächlich existiert auch eine Weisheit unseres Ufers. Sie besteht in der Fähigkeit synthetische und analytische Urteile auf der Grundlage sensualer Erfahrungen zu bilden und logisch zu begründen. Diese Form der Argumentation ist auch dem Buddhismus alles andere als fremd.[1] Er selbst beginnt historisch wahrscheinlich nicht mit der Figur des Buddha, von der wir kaum etwas wissen, sondern mit vielen verschiedenen Schulen, die sich bereits früh in stark ausschweifenden, philosophischen Streitigkeiten verfangen hatten. Diese gingen primär um die Frage, wie es sein kann, dass es kein Selbst gibt (Skt. anātman) und doch den Kreislauf der Widergeburt (Skt. saṃsāra). Was wird wiedergeboren, wenn es keine Seele gibt, die den Kreislauf durchläuft? Wie so viele logisch-metaphysische Streitigkeiten ließen sich diese Diskurse schlicht nicht lösen. Zwischen 100 v.Chr. und ca. 400 n.Chr. entstanden dann Textsammlungen, die eine Lösungsperspektive eröffneten, die zuvor nicht bekannt war.[2] Zentrales Thema der Texte ist die Natur eines Bodhisattva, eines Wesens auf dem Weg zum Erwachen. Doch wie findet man zum Erwachen? Wie begibt man sich auf den Weg, ein Buddha zu werden?

Am Anfang steht die Einsicht, dass alle auf sensorische Wahrnehmung basierende Erkenntnis keine wirkliche Erkenntnis ist. Wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet, heißt das also, dass man zunächst einsieht, dass man träumt. Alle auf der Traumstruktur basierende Erkenntnis wäre ebenfalls eine reine Verstärkung der Traumstruktur. Ein synthetisches Urteil in einem Traum weist auf keine Wirklichkeit außerhalb des Traumes. Alle aus der Traumstruktur gewonnen Muster helfen aber ebenfalls nicht weiter. Es würde einem Menschen gleichen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen möchte. Hier kommt die Weisheit ins Spiel, die nicht Teil der Traumstruktur ist. Sie kommt von der anderen, nicht traumhaften Seite und erfüllt das Traumbewusstsein mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie jenseits des Traumes ist. Doch wie öffnet man sich für die Weisheit des anderen Ufers?

An dieser Stelle kennen viele von uns sicherlich die Bilder von buddhistischen Mönchen, die Stunden und Tage auf Kissen in der Stille verbringen. Ein klassischer Zen-Sesshin dauert sieben Tage und umfasst ca. 12 Stunden stilles Sitzen am Tag. Der Grund für diesen harten Weg liegt in der oben beschriebenen Struktur. Wenn wir unsere sensualen Eindrücke reduzieren und unsere projektiven Bewusstseinsprozesse zurückfahren, dann entsteh in unserem Geist zunächst eine Leere. Diese bietet dann aber einen Raum, indem die Wirklichkeit jenseits unserer Projektionen zum ersten Mal eine Chance hat, sich zu zeigen. Einfacher gesagt: Die Weisheit vom diesseitigen Ufer muss das Bewusstsein verlassen, wenn die Weisheit vom anderen Ufer einziehen soll.

Wir verstehen aber noch besser, worum es geht, wenn wir die Ursache unseres Leidens aus buddhistischer Sicht begreifen. Wenn wir als Menschen leiden, dann oftmals daran, dass wir uns an unsere Bilder und Projektionen hängen. Wir erkennen sie nicht als projektive Vorstellungen, sondern halten sie für die Wirklichkeit selbst. Wird die Wirklichkeit dann unseren Vorstellungen nicht gerecht rebellieren wir. Dieses Rebellieren gegen die Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des buddhistischen Leidbegriffs.

Aber der Kern der buddhistischen Praxis geht noch etwas tiefer. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage, ob wir überhaupt aus der Sicht unserer uneinsichtigen Weisheit etwas Inhaltliches über die Weisheit vom anderen Ufer sagen können. Was genau bringt sie uns bei, was wir gerade nicht aus den Kategorien unseres alltäglichen Bewusstseins lernen können? Die frühen buddhistischen Texte sprechen dies tatsächlich aus. Zumindest bzgl. der Praxis des Zen: Still zu sitzen und zu meditieren heißt, zu nicht-zweien (chin. 不二), was soviel heißt wie den Geist zu einen (Chin. 一 心).[3] Konkret lässt sich diese so beschriebene Wirklichkeit nur erfahren. Beschreiben kann man sie schlecht, weil alle Worte wieder Zweiheiten produzieren, die den geeinten Geist disruptiv zerlegen. Dennoch lässt sich eine weitere Gefühlsqualität aufführen, die mit der Erfahrung des Einen Geistes auftritt: Ein unerschütterlicher Friede, der keine Bedrohung kennt. Wenn es in meinem Geist kein anderes gibt, dann gibt es auch nichts Bedrohliches. Wenn ich selbst nicht-zwei mit allem bin, dann gibt es auch nichts, dass mich bedroht. Es fallen auch alle Ambitionen und aggressiven Weltbezüge weg. Der Gedanke, dass mein Land noch nicht groß genug ist, wird absurd und unmöglich zu verfolgen. Es ist genau diese Gefühlsqualität, die mit der Erfahrung des Einen-Geistes einhergeht. Wenn diese Qualität sich allerdings einstellt, wenn sich der Mensch, der sie erfährt, aller projektiven Bezüge entledigt hat, dann kann es sich nicht einfach um eine kulturell kontingente Erfahrung handeln. Die kontingenten Projektionsmuster wurden ja gerade abgelegt. Stimmt dies, dann müsste sich diese Erfahrung zumindest in ähnlicher Form in anderen geistlichen Bezügen finden lassen.

In der ersten Abschiedsrede des Johannesevangeliums versucht Jesus zusammenzufassen, was er als Person mit seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung hinterlassen wird: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht, sei auch nicht furchtsam.“ (Joh 14,27) Was ist das für ein Frieden, den diese Welt nicht geben kann? Wenn er nicht von dieser Welt kommt, woher dann. Wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu betrachten, dann kann uns bewusstwerden, dass selbst der Tod uns nicht in dem berührt, was wir wirklich sind. Tatsächlich gibt es bei allen Turbulenzen keinen wirklichen Grund, sein Herz beunruhigen zu lassen. Doch wie soll dies gehen. Die Welt führt uns immer wieder in neue Bedrohlichkeiten. Der Tod ist eine allgegenwärtige Präsenz, die wir verdrängen, aber eigentlich, rein innerweltlich, nicht beherrschen können. Der Satz Jesu spricht somit aus einer anderen Perspektive. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit dem Vater, dass es ihm schlicht bewusst ist, dass es nichts gibt, was ihn wirklich bedrohen könnte.

Ich möchte an dieser Stelle keinen simplen Vergleich ziehen. Dennoch konvergieren hier zwei Erfahrungen, die uns in dieser Zeit meines Erachtens unbedingt angehen. Können wir in einer Welt existieren, die nur noch unüberwindbare Polaritäten zu kennen scheint? Oder ist uns die Erfahrung des einen Geistes der Zen-Praxis ansatzweise zugänglich? Und wenn diese tatsächlich in einen unbedingten Frieden hinüberleitet, der wie nicht von dieser Welt ist, können wir als Christen an dieser Stelle etwas über die Erfahrung Jesu von einer buddhistischen Lebenspraxis lernen? Was kann es heißen, den Geist zu einen? Was könnte es heißen, mitten in den Disruptionen dieser Zeit, den Imperativ Jesu ernst zu nehmen: „Euer Herz beunruhige sich nicht.“ 


[1] Für eine beispielhafte Darlegung eines Begründungstheoretischen Zugangs im Buddhismus vgl. Paul, G. Zur Liste der begründungstheoretischen Schriften im neuentdeckten „Alten Verzeichnis buddhistischer Lehren“ des Nanatsu-Tempels. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, S. 87-104.

[2] Für eine genauere Datierung vgl. Conze, E. Perfect Wisdom: The Short Prajnaparamita Texts, Buddhist Publishing Group, 1993, i-iii.

[3] Vgl. hierzu RÖLLICKE, H.-J., Der Ursprungsgedanke des Chan-Buddhismus im China des 7. Jahrhunderts, in: RÖLLICKE, H.-J. (Hr.), Denken der Religion, München 2010, 231–247.

GLAUBEN ALS ENDLOSES FRAGEN

Wohin?

Die Antrittsvorlesung von Frau Prof. Claudia Bergmann, Herrn Dr. Hans-Christoph Goßmann und mir am 14. Juni 2024[1] möchte ich gern als «Sprungbrett» nehmen. Doch wohin?

Die Fragestellungen zum Motiv des Fragens in der Bibel, die Frau Prof. Claudia Bergmann aufgeworfen hat, möchte ich noch ein wenig weiterdenken auf das Motiv des Fragens hin, des Befragens Gottes, die Vergeblichkeit des Wartens auf eine Antwort, des selbst Infragegestelltseins als Motiv des Glaubens überhaupt. Das möchte ich aber nicht «freihändig» tun, sondern mit einem Blick in die Kirchengeschichte, die in diesen Fragen überraschende Orientierung, wenngleich keinen Halt (!), bietet.

Dass es sich dabei um subjektive Schlaglichter handelt, soll dabei nicht überraschen. Das Wesen des Fragens ist es ja gerade, wie Frau Prof. Claudia Bergmann anhand des Buches Jona eindrucksvoll erwiesen hat, dass es sich dabei um die Redeform zweier Individuen handelt – und nicht um die Aufdeckung «objektiver» Wahrheiten an eine anonyme Masse.

Heilige

Die «Heiligkeit der Heiligen» der Kirchengeschichte von ihren Anfängen bis heute liegt in ihrer Wehrlosigkeit gegenüber einem Glauben, der ihnen keine Sicherheit bietet, sondern sie existentiell entblößt und hinterfragt. Den christlichen Glauben präsentieren diese Menschen als eine Erfahrung tiefster Widersprüche, die die religiösen Kategorien ihrer Zeit aus den Angeln hebt und ein immer wieder neues theologisches Fragen, eine immer wieder neue «Justierung» theologischer Sprache provoziert.

Den Weg des Glaubens präsentieren diese («meine» Heiligen) nicht als Erleuchtung; sondern im Glauben überlassen sie sich einem Gott, dessen Handeln sich in den widersprüchlichsten Erfahrungen zeigt, indem es sich verbirgt, und das so immer neues Befragen, nie aber endgültiges Beantworten hervorruft. Auf diese Weise bilden diese Heiligen die communio sanctorum: Kirche ist der Raum solchen Fragens, und wo immer sich solches Fragen ereignet, ist Kirche.

Ausgangspunkt

Schon der Ausgangspunkt der Kirche ist die ratlose Frage: Wie kann Gottes Heil in einem verurteilten und getöteten jüdischen Menschen Gestalt gewinnen?

Auf diese Frage gibt das Judentum auf den ersten Blick keine Antwort – und doch ist es genau der Gott des Judentums, der in diesem Paradox sein Handeln entfaltet, ein Handeln, das, mit anderen Worten, auf einen verborgenen Gott verweist, der seinen Willen nicht «auf geradestem Weg» (Regina Ullmann) enthüllt, sondern der ganz und gar in eine verwirrende Welt der Zweideutigkeiten eintritt und in Widersprüchen wirkt.

Wenn die Bibel vom Heiligen Geist spricht, so spricht sie von einem, der die Gläubigen diesem Jesus Christus gleichwerden lässt, indem sie selbst bestimmte menschliche Erfahrungen durchleben – nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder.

Anerkennung oder Antworten erwarten sie dafür keine. Paulus (ca. 5 – 64) ergießt geradezu seinen Sarkasmus über die, die etwas anderes sein wollen als der Abschaum der Welt (2Kor 4,8–11; 6,3–10).

Verletzlichkeit

Gegen die «logische Schlussfolgerung» des Arius (ca. 250 – 336), ein verletzlicher Gott könne nur ein «niedrigerer Gott», also gar kein Gott sein, hebt Athanasius (ca. 296 – 373) das Wunder gerade des Gottes hervor, der Mensch wird und sich verletzlich macht; das Wunder gerade des Gottes Jesus Christus, der sich mit fremdem Leid identifiziert, der sich selbst befragen lässt angesichts des Leidens.

Festhalten

Für die Kappadokischen Väter (4. Jh.) ist Gott gerade dann Gott, wenn wir ihn nicht verstehen, begreifen und festhalten können. Gott selbst ist Zeichen einer Zukunft, die unvorhersehbar ist.

Keine Erleuchtung ist denkbar, die dem Menschen die Schau Gottes eröffnen könnte: Moses, wenn er Gott begegnet, steige «immer höher» (Gregor von Nyssa, ca. 335 – 394); Gott ziehe sich immer wieder auf die andere Seite einer unüberbrückbaren Kluft zurück; die Seele werde nie in der Sicherheit einer platonischen Einheit Ruhe finden. Erst auf dem Gipfel des Berges wird Moses eine «nicht von Menschenhand gemachte Stiftshütte» vor Augen geführt: Christus. – Doch immer weiter drängt Moses; selbst die Begegnung mit Christus ist kein Haltepunkt! (De vita Moysis).

Selbst der Anflug einer statischen Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen wird unterlaufen. Das Alte Testament erklingt als Echo im Neuen: «Sie waren aber auf dem Wege hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging ihnen voran; und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich …» (Mk 10,32).

Herz

Buch X der Confessiones liest sich als das leidenschaftlichste Zeugnis dessen, was es heißt, unterwegs und noch längst nicht am Ziel zu sein. Augustinus (354 – 430) beschreibt den Schmerz eines Lebens voller unbeantworteter Fragen, voller unerfüllter Wünsche, die Sehnsucht nach dem einen, dem Wunsch, der hinter allen Wünschen verborgen ist: «Du hast mich berührt, und nun brenne ich vor Sehnsucht nach Deinem Frieden.»

Der Gläubige ist vor sich selbst verborgen. Im Vorgriff auf Freud und im Angriff auf Pelagius (ca. 354 – 418) schreibt Augustinus über die Hilflosigkeit des menschlichen Herzens: Wie Rationalität eben nicht der wichtigste Faktor in der menschlichen Erfahrung, das menschliche Subjekt stattdessen gewaltigen Vektoren von Kräften ausgesetzt sei – der Vernunft quälend undurchsichtig. «Denkt ihr, Menschen, die Gott fürchten, hätten keine Gefühle?» (Enarrationes in Psalmos 76,14). «Der einzige Weg, in diesem Leben vollkommen zu sein, besteht darin, zu wissen, dass man in diesem Leben nicht vollkommen sein kann». (Enarrationes in Psalmos 38,6).

Unruhe

Ähnlich wie Augustinus ist Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328) Mystiker, gerade indem er Dichter ist. Auch seine Mystik ist eine Mystik der Unruhe. Der Geist findet überhaupt keine Ruhe, sondern wartet und bereitet sich auf etwas vor, das noch kommen wird, aber noch verborgen ist. Nur die äußerste Wahrheit ist gut genug; doch Gott zieht sich Schritt für Schritt zurück, um die Sehnsucht des Suchenden am Leben zu erhalten.

Kreuz

In der 20. These seiner Heidelberger Disputation bringt Luther (1483 – 1546) es auf den Punkt: Gott offenbart sich im Gegenteil, gerade indem er sich darunter verbirgt. Jede Antwort auf die Frage nach Gott ist gleichzeitig eine Rede über seine Abwesenheit. Nur hier, an einem «Unort», der sämtliche Vorstellungenvon Gott infragestellt, kann Gott selbst Gott sein.

Das Fragen ist endlos – das verbindet Luther und Eckhart: Dort wo keine Zeichen, keine Erfahrung des Religiösen auszumachen sind, ist Gott zu «finden».

Die Kehrseite davon wirft ein Licht auf den Menschen: Nichts in menschlichem Handeln und Beweggründen kann eindeutig sein; wie kann ein Mensch jemals davon überzeugt sein, dass eine Handlung «gut» ist? Immer sieht sich der Mensch als hinterfragt.

Gegner

Auch unter seinen «Gegnern», in der Gegenreformation, findet Luther einen Verbündeten. Auch Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) steht stets vor Augen, dass eine Spiritualität, die wähnt, Christus gefunden zu haben, in Wirklichkeit eine Flucht vor Christus ist.

Gefängnis

In der Haft, in äußerster Isolation, übersetzt Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) die Zuspitzungen Luthers ins 20. Jahrhundert: Der Mensch lebt vor Gott gerade so, als gäbe es keinen Gott.

Leiden

Mit Dorothee Sölle (1929 – 2003) schließlich schließt sich der Kreis zum Neuen Testament: Keine Frömmigkeit ohne unbeantwortete Fragen; keine Spiritualität ohne Schmerz.

Aber von hier aus wagt sie einen waghalsigen Sprung: Akzeptanz von Leiden meint nicht Passivität dem Leiden gegenüber, meint nicht eine Tatenlosigkeit, die entmenschlicht und verhärtet. Leid und unbeantwortete Fragen zerreißen den Selbstschutz des Gläubigen: Das Herz wird gebrochen, um Platz für Mitgefühl zu machen.

Antwort ohne Antwort

Von Paulus von Tarsus über Augustin von Hippo zu Martin Luther; von Johannes vom Kreuz über Dietrich Bonhoeffer zu Dorothee Sölle – diese verschiedenen Fäden zu einem einzigen verwoben, in dem Fragen und Antworten, Infragegestelltsein und Aufgehobensein ineins fallen – das könnte bedeuten: Gott ist in unseren Fragen, in unserem Schmerz und unserem Protest!

Diese «wahllos ausgewählten» Heiligen stehen für eine Wolke von Zeugen (Hebr 12,1), die dem Hinterfragtwerden nicht ausgewichen sind und deren Berufung es war, das Hinterfragen weiterzutragen.

Obwohl sie selbst eigentlicher Ort solchen Fragens ist, hat Kirche die so Fragenden, die Hinterfragenden, die Verletzlichen – weil auch sich selbst Hinterfragenden – und die Mitfühlenden nicht immer mit besonderer Wärme willkommen geheißen.

Das ist keine Frage.


[1] https://videos.uni-paderborn.de/m/be773ec45e93adb76bc9ed4071553063269a6f52876400738595fb4b36d6792a9c4c92e42929a9364ee436bb617648873e57a81226826ab8e123444fa5c934b4

Weggabelungen und Entscheidungen

Rabbi Abba Tachana mit dem Beinamen „der Fromme“, war einmal am Freitag-Nachmittag auf dem Weg nach Hause in seine Stadt. Es war schon Spätnachmittag, kurz vor Beginn von Schabbat. Abba Tachana Chasida war nicht reich, deshalb musste er während der Woche in der benachbarten Stadt arbeiten und dort den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdienen. Und nun, wie jeden Freitagnachmittag, trug er auf seiner Schulter das Bündel mit den Lebensmitteln für sich und seine Familie. Abba Tachana Chasida ging an diesem Freitagabend zügig seines Weges und kam an eine Weggabelung.

Zwei Wege, ein typisches Bild für eine Entscheidungssituation, also eine Situation, die eine Frage an den Menschen richtet, auf die er antworten muss. Im Falle von Abba Tachana Chasida lag an dieser Weggabelung ein Mann, der dort hingefallen war, Schmerzen hatte und zu schwach war, um weiterzugehen. Der Kranke und Schwache sah Abba Tachana Chasida und flehte ihn an: „Rabbi, schaffe mir Gerechtigkeit (Zedaka), erweise mir Wohltätigkeit und trage mich in die Stadt!“

Abba Tachana Chasida dachte: „Wenn ich das Bündel mit den Lebensmitteln jetzt absetze und ihn hineintrage, wovon werden ich und meine Familie dann leben? Aber wenn ich den Kranken und Schwachen hier liegen lasse, dann verwirke ich mein Leben, das wäre eine große Sünde.“ Was tat er? Er ließ den guten Trieb über den bösen Trieb herrschen, legte sein Lebensmittelbündel nieder, hob den schwachen Mann auf seine Schultern und trug ihn in die Stadt. Dann ging er wieder zurück und nahm sein Lebensmittelbündel und betrat damit die Stadt in der Dämmerung nach Schabbatbeginn, aber am Schabbat aber darf man keine Lasten in eine Stadt hineintragen. Die Leute in der Stadt waren hoch erstaunt: „Ist das nicht Abba Tachana der „Fromme“?“ Auch Abba Tachana Chasida selbst überkamen Zweifel: Er grübelte in seinem Herzen: „Habe ich nun Schabbat entweiht?“ In diesem Moment – so erzählt der Midrasch – ließ der Heilige, gepriesen sei er, die Sonne just wieder aufgehen, so dass die Dämmerung erschien, als wäre bloß eine Wolke vor der Sonne gewesen, denn es heißt in der Bibel: „Die Sonne der Gerechtigkeit (Zedaka) leuchtet über denen, die mich ehren“ (Mal 3,20). Aber in jenem Moment grübelte der Rabbi weiter: Vielleicht erhalte ich keinen Lohn bei Gott für die gute Tat? Da ertönte eine Stimme aus dem Himmel, die sagte (Koh 9,7): „Geh, iss dein Brot mit Freude, trinke guten Gewissens deinen Wein, denn längst schon hat Gott deine Tat gesehen und deinen Lohn bereitgestellt“ (nach Midrasch Kohelet Rabba 9,7).

Rabbiner Leo Baeck sagte: „Es ist das Besondere und Schöpferische des jüdischen Optimismus, dass jeder Glaube hier als Verantwortlichkeit begriffen wird… Und so bezeichnet dieser auf den Menschen gerichtete Glaube auch eine dreifache Verantwortlichkeit … Es ist die Verantwortlichkeit, die der einzelne gegenüber sich selbst vor seinem Gott empfinden soll … Es ist die Verantwortlichkeit vor Gott gegen den Nebenmenschen … Es ist endlich die Verantwortlichkeit vor Gott gegenüber der Menschheit“[1], d.h. im Judentum dreht sich letztlich alles darum, verantwortlich zu leben. Rabbi Abba Tachana Chasida handelte unbestritten verantwortlich – dem Schwachen gegenüber und sich selbst gegenüber und seiner Familie gegenüber. In der Geschichte fehlt der Aspekt der Umwelt und der Gesellschaft, aber eine Geschichte kann nicht alles abdecken. Man könnte diese Geschichte auch anders erzählen und eine Not der Leute in der Stadt oder eines Tieres anstelle des Hingefallenen wählen. Der Aspekt, dass im Midrasch Gottes Stimme ertönt, zeigt, dass menschliches Leben im Dialog, als Frage und Antwort geschieht, wobei Gott sich in dieser Geschichte als ebenso verantwortlich zeigt – Gott rettet die Ehre von Rabbi Abba Tachana Chasida – wie der Mensch sich für sich und seine Mitmenschen verantwortlich gezeigt hat. Auch Gott wird in der jüdischen Tradition als „verantwortlich“ verstanden, er muss sich unseren Fragen und Klagen stellen.

In der jüdischen Tradition wird der Mensch von Anfang an definiert als jemand, der mindestens zwei Möglichkeiten hat und sich später für seine Wahl verantworten muss. In Genesis 3,9 fragt Gott Adam, nachdem er das Speisegebot übertreten hatte: ‚ajekah „Wo bist du?“ Dies ist der Tora zufolge das erste Mal in der Geschichte, dass der Mensch sich für eine Tat verantworten muss und damit eine für die ganze Menschheit symbolische Situation. Der Mensch wird gefragt: ‚ajekah „Wo bist du?“ So wie die Menschen umgekehrt manchmal Gott fragen: Wo bist du? Raschi erklärt: Gott wusste natürlich, wo der Mensch steckte, aber er wollte gern mit ihm ein Gespräch beginnen, damit das Urteil den Menschen dann nicht plötzlich überraschen würde.“[2] Etwas genauer brachte es Midrasch Tanchuma auf den Punkt: „Wusste Gott nicht, wo Adam war? Er fragt ihn, um ihm die Möglichkeit zur Umkehr zu geben“.[3] Leben im Dialog mit Gott – anders gesagt, religiöses Leben – bedeutet aus jüdischer Sicht also, auf Fragen über die eigenen Entscheidungen Antworten geben zu können – sich zu verantworten – aber gerade dieses Sich-Verantworten bedeutet auch, die Chance bekommen, sein Handeln zu verändern. Nach der Antwort kann nämlich die Richtung des eingeschlagenen Weges immer noch verändert werden.

Die meisten Midraschim deuten die Stelle aber völlig anders.[4] Das hebräische Wort ‚ajekah – „Wo bist du?“, also die Konsonanten Alef, jod, kaf/chaf, he, ergeben mit anderen Vokalen ‚echa „ach!“ im klagenden Sinne von: Oh weh! Mit diesem Wort beginnt das biblische Buch der Klagelieder (hebr. ‚Echah), das an Tischa be Aw, dem Tag der Erinnerung an Zerstörungen von Heiligtümern (des ersten und zweiten Tempels in Jerusalem und zahlreicher jüdischen Gemeinden seit dem Mittelalter) gelesen wird. Liest man den Text so, ergibt sich ein ganz anderer Sinn: Da rief Gott Adam und sagte in Bezug auf ihn: „Echa“ – „Oh weh!“ Gott sieht den Menschen, der sein Gebot übertrat, und Gott komponiert ein Klagelied. Damit aber wird dem Menschen die volle Freiheit gegeben, wie er nun reagiert: Wird er antworten? Wird er Gottes Klage ignorieren? Wird er mit Gott zusammen über sich klagen? Wird er dagegen protestieren?

Ich mag diese Deutung des Midrasch, auch wenn sie nicht der Mainstream der jüdischen Religionsphilosophie ist. „Gottes Frage an ihn [den Menschen] bleibt.“ schrieb zum Beispiel Martin Buber „Und antworten soll er, der Einzelne, mit seinem Tun und Lassen antworten, die Stunde, die Weltstunde, die Allerweltsstunde als die ihm gewordene, ihm anvertraute annehmen und verantworten. … Antworten sollst du – Ihm.“[5] Doch der Midrasch, demzufolge Gott über die Menschheit klagt, führt die Menschen in die Freiheit hinein und sogar in die Freiheit der Wahl selbst, ob er antworten will oder nicht und auf was und was nicht.


[1] Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, 6. Aufl. Wiesbaden 1995 (= Nachdruck Darmstadt 1965), 91f.

[2] Raschi zur Stelle, zitiert nach Raschis Pentateuchkommentar, vollständig ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, 4. Aufl. Basel 1994, 11.

[3] Midrasch Tanchuma Tasria 1,9.

[4] Midrasch Bereschit Rabba 19,9; vgl. Pesikta de Raw Kahana 15,1, und andere.

[5] Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Darmstadt 1962, 241.

Mitgemeint, doch nicht mitgedacht?

(Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung durch Sprache

Vor kurzem war ich zu einer Tagung eingeladen, bei der das Thema „Partizipation und Leitung in der frühen Kirche“ diskutiert wurde. Dabei ging es unter anderem auch darum, die Teilhabe von Frauen an frühchristlichen Leitungsfunktionen aufzuzeigen. Diese in den Quellen eindeutig zu belegen, ist oft gar nicht einfach, da männliche Sprachformen – als generisches Maskulinum – den Blick auf mitgemeinte Frauen verstellen. Damit werden aber auf Männer zentrierte Textwelten entworfen, die wiederum in der Rezeption die Exklusion von Frauen argumentativ untermauern. Grammatikalisch männliche Formen haben nicht Wirklichkeit abgebildet, sondern geschaffen und in der realen Praxis jahrtausendelang zum Ausschluss von Frauen geführt (und tun dies teilweise noch immer).

Es ist das Verdienst kritischer exegetischer Rekonstruktionsarbeit, die in den Texten durchaus belegte inklusive Wirklichkeit aus dieser Unsichtbarkeit zu holen. Beispielsweise ergibt sich in der neutestamentlichen Briefliteratur aus beiläufigen Grüßen des Paulus an Mitarbeiterinnen ein partizipatives Bild von Diakoninnen, Gemeindeleiterinnen und Apostelinnen. Dabei verbirgt sich aber die leitende Funktion von Phoebe etwa als „Diakonin“ (bezeichnet mit der männlichen Singularform diakonos in Röm 16,1) häufig hinter einer unspezifischen Übersetzung als „Dienerin“ oder verbalen Umschreibungen. Bei Junia, die in Röm 16,7 als „ausgezeichnet unter den Aposteln (und Apostelinnen)“ bezeichnet wird, musste die jahrhundertelange Geschlechtsumwandlung zu einem Junias erst wieder rückgängig gemacht werden. Hier haben aus männerzentrierten Textwelten generierte Vorstellungen und Denkmuster sogar zu korrigierenden Texteingriffen geführt: eine Frau als Apostel*in? Das kann nicht sein – das Apostelamt ist Männern vorbehalten. Doch offenbar war es das nicht.

In den gängigen Übersetzungen der entsprechenden Pluralformen von Leitungsbezeichnungen werden Frauen jedoch auch heute weithin nicht sichtbar. Auch in Vorträgen und Publikationen, die das generische Maskulinum verwenden, wird, auch wenn Frauen mitgemeint, aber nicht genannt sind, deren Teilhabe verdunkelt. Dies ist aber nicht harmlos im Sinne von harmless, keinen Schaden verursachend: Denn indem Sprache Realitäten schafft, hat diese Unsichtbarmachung nach wie vor reale Konsequenzen. Angestoßen durch das Engagement von Frauen- und Geschlechterforschung ist es gelungen, mit Kreativität inklusive, geschlechtersensible Sprachformen zu entwickeln, welche Menschen einbeziehen und nicht diskriminierend ausgrenzen. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart geht es um die Frage von (Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung. Doch es ist ein fragiler Erfolg, wie aktuelle amtliche „Genderverbote“ zeigen.[1] Diese müssen sich wie Exklusionsstrategien der Geschichte auf damit verfolgte Machtpolitiken befragen lassen. Die geforderte Klarheit ist mit dem generischen Maskulinum nicht gegeben. Sprachverbote gerade an Bildungsinstitutionen behindern den Auftrag zur Vermittlung von Menschenrechtsbildung und kritischem Denken und verstoßen grundsätzlich gegen die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre.


[1] Mehrere Bundesländer wie Bayern oder Hessen haben in den letzten Monaten Verbote zum Gebrauch geschlechtergerechter Sprache an Schulen, Hochschulen und in öffentlich-rechtlichen Medien verordnet bzw. angekündigt.

Auf der Suche nach Frieden

Was heißt Frieden? Wie und wo wird er in den Traditionen gesucht, wie und wo wird er (nicht) gefunden? Darf auf Frieden gehofft werden? Kann gemeinsam für den Frieden gebetet werden? Wie kann er als fragiles Gut erhalten werden in einer Zeit voller globaler und gesellschaftlicher Konflikte? Inwiefern und in welchem Rahmen kann Universität, Forschung und Dialog dazu beitragen? Wie können konstruktive religiös-politische Anstöße in Zeiten dieser Konflikte entfaltet werden? Sind Humanisierungs- und Pazifizierungsstrategien möglich und findbar? Wo und wann trifft der Dialog der Theologien auf seine Grenzen?

Diese und andere Fragen umgarnen auch unser Verbundprojekt, welches das Ziel hat, Komparative Theologie an der Universität mit den gesellschaftlichen Akteuren und Orten, die das Sichzueinanderverhalten der religiösen Traditionen betreffen, miteinander ins Gespräch zu bringen, Impulse zu setzen und mögliche Orientierungspunkte zu markieren. Da Komparative Theologie das Ziel hat, in Bezug auf bestimmte Fragestellungen vom jeweils Anderen zu lernen, braucht es dafür nicht nur geeignete Orte, Formate und Begegnungen, um Wege für Antworten zu suchen. Es braucht auch Akteure, die sich auf diese Versuche einlassen, sie gestalten und Einblicke in die jeweils eigene Tradition zulassen, sich berühren lassen vom jeweils Anderen und zugleich kritisch mit der eigenen und den anderen Traditionen umgehen können.

In den Formaten des ZeKK in diesem Jahr, die sich an das Thema des Friedens annähern, ist das bisher auf unterschiedlichen Wegen versucht worden. In einer gemeinsamen Podiumsdiskussion unter dem Titel „Der rechte Ring war nicht erweislich … – Lessings Ringparabel im Spiegel der Religionen“ veranstalteten das Theater Paderborn und das ZeKK im Februar anlässlich der Aufführung von „Nathan der Weise“ ein gemeinsames Podiumsgespräch zu der Frage, ob Lessings Toleranzgedanke in der Ringparabel uns heute noch etwas zu sagen hat oder ob der Idealismus der Aufklärung vor den Gräueltaten des 20. und 21. Jahrhunderts kapitulieren muss. Das ganze Gespräch ist auf dem Forum für Komparative Theologie abrufbar.

Letzte Woche hat ein multireligiöses Friedensgebet mit Beiträgen aus Judentum, Christentum und Islam stattgefunden, welches von Musik gerahmt worden ist. Während alle Beiträge der Traditionen nebeneinander für sich gestanden haben, wurde trotzdem für einen gemeinsamen, unteilbaren Wunsch nach Frieden zusammengefunden. Gemeinsam auf den Weg gemacht haben sich dafür die Teams aus Bonn und Paderborn, die am Verbundprojekt mitwirken und hier einen Einblick gewähren.

Ebenfalls in der letzten Woche hat auch der Auftakt der Paderborner Friedensgespräche stattgefunden. In dieser Reihe geben Referent*innen je aus islamischer, jüdischer und christlicher Perspektive Impulse zu der Frage nach dem Frieden in der je eigenen Tradition und kommen danach mit Respondees aus den anderen Traditionen und dem Publikum ins Gespräch darüber, was sie beschäftigt, irritiert, berührt, vor Fragen stellt oder bei ihnen Resonanzen schafft. Den Beginn gestaltete der Islam- und Politikwissenschaftler Dr. Sameer Murtaza von der Stiftung Weltethos im AStA Gewölbekeller, der mit Dr. Domenik Ackermann und Yael Attia ins Gespräch gegangen ist. Auch der Vortrag wird zeitnah zur Verfügung gestellt (Foto s. unten).

Am 19. Juni gehen die Friedensvorträge mit einem Vortrag von Rabbinerin Elisa Klapheck unter dem Titel „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ im Historischen Rathaus Paderborn weiter. Wer vorbeischauen möchte, kann sich noch bis zum 10. Juni anmelden, um im Anschluss bei einem gemeinsamen Empfang in den Austausch mit allen Gästen und Beteiligten zu gehen.

Differenzsensibilität erleben – MenschensBilder hinterfragen

Am 25. und 26. April 2024 fand in Siegburg das 1. Forum differenzsensible Religionspädagogik unter dem Motto MenschensBilder statt. Dieses Forum steht gewissermaßen in der Tradition des Forums für Heil- und Religionspädagogik, das von 2000 bis 2020 alle zwei Jahre stattgefunden hat. Und doch ist es ganz anders gewesen als die Jahre zuvor. Dem diesjährigen Forum ging ein partizipativer und kreativer Gestaltungsprozess voraus, in dem kleine Knetfiguren die ersten MenschensBilder des Forums waren.[1]

Auf die Frage „Und, wie fandest du das Forum?“ kam im Anschluss an die Veranstaltung meistens die Antwort „Es war so ganz anders als bei anderen Tagungen.“ Die Differenz zum bekannten Tagungsformat mit zahlreichen Vorträgen und kurzen Kaffeepausen war beabsichtigt und spiegelte sich auch im Programm wider, in dem es offene Phasen gab, in denen verschiedene Angebote wahrgenommen und Pausen individuell gestaltet werden konnten. Für mich war das einer der auffälligsten konzeptionellen Aspekte von Differenzsensibilität, die dadurch nicht nur als Forumsinhalt zur Geltung kam. Denn Menschen sind unterschiedlich lang aufnahmefähig und benötigen in unterschiedlichen Rhythmen Unterbrechungen und Erholungsphasen.

Inhaltlich wurde Differenzsensibilität in der Reflexion des eigenen Umgangs mit MenschensBildern erfahrbar. Wie sehe ich Menschen? Wie gehe ich auf sie zu? Welche Unterschiede sehe und mache ich in meinem beruflichen Alltag? Wie bewerte ich Differenzen? In dem Dreischritt Rekonstruktion, Dekonstruktion und Konstruktion fand die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf methodisch vielfältige Weise statt. Von der Gurkentruppe über das Kasperletheater bis zur praxistheoretischen Analyse von Unterrichtsvideos war fast alles dabei. Theaterpädagogisch begleitet wurden die drei Phasen auch performativ durchlebt. Dadurch wurde ein Neujustieren von MenschensBildern möglich. Welche Unterschiede sind wann wie wichtig? Und welche eher nicht? Und am Ende wurde deutlich: Es muss nicht immer Entweder-Oder sein. Differenzsensibilität heißt oftmals auch, Ambivalenzen auszuhalten – und das ganz besonders in (religions-)pädagogischen Kontexten.

Eine Besonderheit des 1. Forums differenzsensible Religionspädagogik wurde gleich zu Beginn erkennbar: Das Format der Veranstaltung führte dazu, dass Differenzen, die im Arbeitskontext häufig sehr hoch gewichtet werden, vor Ort ausgehebelt wurden. Durch die Struktur und den Ablauf wurde unwichtig, welche berufliche Position die Teilnehmenden jeweils besetzen. So kam es in mehreren Situationen zu Überraschungsmomenten, wenn sich jemand als Lehrer*in, Gemeindepädagog*in oder Professor*in geoutet hat. Die von Irritation geprägte Frage „Wie, du bist …??? Das hätte ich ja gar nicht vermutet!“ wurde dadurch mehrfach zum Ausdruck des Hinterfragens eigener MenschensBilder.

Zusammengefasst habe ich das Forum unter dem Motto MenschensBilder als Veranstaltung wahrgenommen, in der Form und Inhalt harmonieren und kreative Prozesse anstoßen. Weitere Informationen zum Forum differenzsensible Religionspädagogik sind hier zu finden.

#differenz #forum #religionspädagogik


[1] An der Planung waren mehrere Personen aus unterschiedlichen Institutionen beteiligt, die Universität Paderborn war durch Prof. Dr. Dr. Oliver Reis (Institut für Katholische Theologie) und Anna Neumann (Institut für Evangelische Theologie) vertreten.

Chancen neuer Technologien für ein spirituelles und gelungenes Leben – zum Auftakt der Ringvorlesung „Anthropologie der Digitalisierung“

Die Digitalisierung bewegt uns alle, ob privat, im Lehrkontext oder im Hinblick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft. Neue Technologien bringen nicht nur ethische Herausforderungen mit sich, sondern lassen uns auch grundlegende Fragen neu stellen: Wie verstehen wir uns als Menschen? Welche grundlegenden Eigenschaften des Menschseins sind durch die kommenden Entwicklungen in Gefahr? Welche Art von Beziehung zu anderen Menschen erachten wir als notwendig für ein gelungenes Leben? Das sind alles Fragen der Anthropologie, ein Fach, das sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in Philosophie und Theologie angesiedelt ist: ein ideales Thema für unser Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Doch welchen Mehrwert hat es, wenn Theologinnen und Theologen sich mit diesen Fragen beschäftigen? Erstens unterscheidet sich das Menschenbild bestimmter religiöser Traditionen in manchen Punkten von einem säkularen oder gar naturalistischen Verständnis. Zweitens könnten gesellschaftlich-technologische Entwicklungen wichtige Voraussetzungen für den Glauben unterminieren, wie etwa Religionsfreiheit, die Möglichkeit von Spiritualität und Charakterformung oder Kontingenzbewusstsein.  Drittens gibt es spezifische Herausforderung wie auch Chancen von künstlicher Intelligenz und virtueller Realitäten für die religiöse Praxis: Kann und darf man digital Eucharistie feiern oder virtuell nach Mekka pilgern? Kann und darf man menschliche Bewusstseine technologisch verbinden, um eine religiöse Einheitserfahrung zu erlangen? Sollte man religiöse Gefühle mithilfe von spirituellen Enhancements auch denen ermöglichen, die sich als „religiös unmusikalisch“ verstehen?

All diesen Fragen geht die aktuelle Ringvorlesung „Anthropologie der Digitalisierung“ des Zentrums für Komparative Theologie nach. Den Auftakt hierzu machte in der vergangenen Woche Professor Benedikt Schmidt von der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte in Freiburg bei Eberhard Schockenhoff zum Verhältnis von autonomer Vernunft und Offenbarung in der theologischen Ethik. Unter der Leitfrage „Wie kann ich der werden, der ich sein soll?“ stellte der Gastreferent eine mögliche Perspektive theologischer Ethik auf die Digitalisierung vor.

Schmidt nannte Elon Musk „einen der großen Visionäre unserer Zeit“. Allerdings müsse das Versprechen der Digitalisierung, den Menschen als Objekt visionärer Gestaltung zu betrachten, anthropologisch und ethisch eingeordnet werden. Anhand des Themenfeldes der öffentlichen Kommunikation arbeitete Schmidt beispielhaft heraus, welche Gefahren etwa für die Demokratie bestehen, wenn der öffentliche Diskurs sich in großen Teilen auf privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Plattformen verlagere. Der Deutsche Ethikrat habe unmissverständlich auf negative Entwicklungen hingewiesen.

Eine vollkommen „smarte Ordnung“, in welcher die Bedürfnisse der Menschen zwar bestmöglich befriedigt wären, liefe der Selbstbestimmung des Menschen zuwider. Diese Selbstbestimmung des Menschen stellte Schmidt als zentrales ethisches Kriterium bei der Bewertung der Digitalisierung dar.

Schmidt stellte anschließend drei Leitbilder des guten Lebens vor: Elon Musk stand stellvertretend für die „digitale Existenz“ der „Ingenieure“; Friedrich Nietzsche wurde als Vertreter der „ästhetischen Existenz“ der „Genies“ herangezogen; Repräsentant der „religiösen Existenz“ der „Heiligen“ war Jesus. Das Leitbild der „religiösen Existenz“ unterscheidet sich vom Leitbild der „digitalen Existenz“ vor allem durch die Dimension der Transzendenz, die unbedingte Affirmation der Person (auch durch Selbstliebe), das sittlich Gute als Werthorizont sowie das relationale Eingebundensein in eine Beziehungswelt. Gemeinsam seien den drei Leitbildern jeweils Formen der Selbstüberwindung.

Meine Einschätzung: Technologien können uns nicht dabei helfen, eine Vorstellung des guten Lebens zu erhalten. Vielmehr besteht die Gefahr, dass verschiedene Interessengruppen versuchen, mithilfe digitaler Technologien uns Werte und Ziele zu „implantieren“, die letztlich nicht zu einem gelungenen Leben führen. Wenn wir allerdings einen klaren Kompass, klare Leitbilder, klare Vorstellungen von einem „guten Leben“ haben – ob nun philosophisch oder religiös begründet – dann können wir neue Technologien verantwortungsvoll nutzen, um diesem Ziel schrittweise näher zu kommen.

Exploring Religious Culpability: Understanding Responsibility in Faith

Religious culpability is the sense of duty or accountability that people experience in the context of their religious beliefs and behaviors. It includes the moral, ethical, and spiritual aspects of faith, which shape people’s conceptions of right and wrong and influence their behaviors and decisions.

At its core, religious culpability is rooted in the belief that individuals are accountable for their actions before a divine authority or moral standard. Many religious traditions teach that adherence to religious teachings and principles is essential for leading a virtuous and righteous life. When individuals deviate from these standards or commit moral transgressions, they may experience feelings of guilt, remorse, or self-reproach. This sense of moral responsibility is intrinsic to religious identity and shapes believers‘ understanding of their relationship with the divine.

The causes of religious culpability are multifaceted and may vary depending on individual beliefs, cultural influences, and religious teachings. Moral failings, such as lying, cheating, or harming others, can trigger feelings of guilt and remorse. Religious scrutiny, whether internal or external, may lead individuals to judge themselves harshly for perceived moral lapses or deviations from religious norms. Additionally, religious upbringing, parental influences, and societal expectations can shape individuals‘ beliefs about morality and contribute to the development of religious culpability.

The implications of religious culpability are significant and can have far-reaching effects on individuals‘ psychological, social, and spiritual well-being. Religious culpability can cause psychological symptoms such as anxiety, sadness, or low self-esteem. Believers may endure inner anguish as they struggle with emotions of worthlessness or inadequacy in their connection with the divine. Religious guilt may have an influence on interpersonal relationships and communal dynamics, since people may feel pressured to comply to religious standards or expectations.

Despite its potential harmful implications, religious culpability may also act as a spur for moral development and ethical thinking. It can encourage people to admit their sins, ask for forgiveness, and strive for moral growth. Individuals may endeavor to atone for their perceived faults and restore their sense of moral integrity by engaging in acts of repentance, charity, or religious practice.

To summarize, religious culpability is an important part of religious experience, expressing people’s feeling of moral obligation and accountability within their faith traditions. While it may cause psychological suffering and interpersonal strife, it may also provide moral inspiration and spiritual refreshment. Religious leaders and believers may negotiate the challenges of religious guilt by cultivating empathetic, supportive communities and encouraging ethical contemplation and moral growth.

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Religion und Freiheit

Das Wort „Religion“ ist im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache gekommen. Rasch hat man es in Verbindung mit dem Wort „Freiheit“ gebraucht. Die Koppelung von „Religion und Freiheit“ wurde zu einer festen Redewendung – einer von vielen, in denen das mehrdeutige neue Wort erschien. Gemeint war damit die Freiheit von Landesherrn und Stadtregierungen, für ihre Gebiete vom alten Glauben der lateinischen Kirche abzugehen und einen neuen, den lutherischen Glauben für verbindlich zu erklären. Unter diesem obrigkeitlichen Schutz erhielt eine Glaubensgemeinschaft, die eine Minderheit darstellte, das Recht, ihren Glauben zu bekennen, zu lehren, durch neue Formen von Andacht und Gottesdienst auszuüben. Entscheidend war, dass diese Glaubensfreiheit durch den Reichstagsabschied von 1555 rechtlich festgeschrieben wurde. Als „Augsburger Religionsfriede“ bezeichnet, sprachen die Lutheraner diesem Gesetz Verfassungsrang zu. Mit ihm wurde die Religionsfreiheit zu einem Bestandteil der allgemeinen Rechtsordnung gemacht – insofern politisiert. Politisch war die Religionsfreiheit, weil sie den Landesherrn und Städten ein Recht gab, das zuvor beim Kaiser gelegen hatte. Er hatte sich als Schutzherr der Kirche gesehen. D.h. Religionsfreiheit hieß in Deutschland Verlagerung von Hoheitsrechten zu den Regionalgewalten – eine Weichenstellung in Richtung föderaler Verfassungsordnung. Politisch war die Religionsfreiheit aber auch, weil sie seit damals stets als Bestandteil von öffentlicher Ordnung begriffen wurde: als Verfassungsrecht. Religionsfreiheit wurde zu etwas, das alle angeht, nicht nur die Glaubensgruppen, die sie schützt. So ist das bis heute geblieben, auch wenn es noch einer langen Entwicklung bedurfte, ehe Religionsfreiheit auch die Bedeutung von persönlicher Gewissensfreiheit annahm – oder das Recht, keine Religion zu haben, vor Bekenntniszwang geschützt zu sein.

Gedanken zu Frieden aus christlicher Perspektive

Angesichts der Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten werden vielerorts Friedensgebete gehalten. Der Friede wird dabei von Gott erbeten, mit anderen Worten: Friede wird als Gabe Gottes verstanden. Wird Friede christlicherseits somit als etwas verstanden, das ausschließlich auf Gott zurückgeht, sodass Menschen nichts dazu beitragen können?

Diese Frage ist mit Bezug auf biblische Aussagen wie in Psalm 34, 15 mit einem „Nein“ zu beantworten. Dieser Psalmvers hat folgenden Wortlaut: „Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ Er war der Losungstext für den 10. Januar dieses Jahres. Der zu dieser Losung ausgesuchte neutestamentliche Lehrtext lautet: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Römer 14, 19). In diesen beiden Bibelversen begegnet nicht die Vorstellung von Frieden als einer Gabe Gottes, die nur erbeten werden kann, sondern vielmehr die eines Ziels, das Menschen erreichen sollen und können. Heißt dies, dass der Friede keine Gabe Gottes ist, die erbeten werden kann? Nein, Friede ist eine Gabe Gottes – eine Gabe freilich, die mit einer Aufgabe verbunden ist, der Aufgabe, sich für den Frieden einzusetzen, ihn zu suchen, ihm nachzujagen und dem nachzustreben, was ihm dient, um es mit den Worten dieses Losungstextes und dieses Lehrtextes zu sagen.

Wenn Friede keineswegs selbstverständlich ist, sondern Engagement seitens der Menschen erfordert, stellt sich die Frage, wie dieses Engagement konkret Gestalt annehmen kann. Im Neuen Testament ist die Antwort auf diese Frage die Forderung der Feindesliebe – zweifellos die schwerste Forderung an Jesu damalige Jünger*innen wie auch an alle später lebenden Menschen, die sich bemühen, ihr Leben in der Nachfolge Jesu zu gestalten.

Wie kann sie gelebt werden, die Feindesliebe? Als conditio sine qua non ist die Bereitschaft zur Vergebung zu nennen. Auch sie – die Bereitschaft, zu vergeben – hat im christlichen Glauben und seiner gelebten Praxis einen hohen Stellenwert – einen so hohen, dass sie im bedeutendsten christlichen Gebet, dem Vaterunser, ihren Ort hat: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben un­sern Schuldigern“. Die Vergebung, um die mit diesen Worten gebeten wird, ist ebenso lebens­notwendig wie das tägliche Brot, um das Gott in der unmittelbar vorhergehenden Bitte gebeten wird. Und so sind diese bei­den Bitten durch das Wort „und“ miteinan­der ver­bunden: „Unser tägli­ches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld“. Die Bitte im Vaterunser, in der um Vergebung ge­beten wird, ist in aller nur möglichen Kürze formu­liert: „Und vergib uns unsere Schuld“. Aber auf diese Bitte folgt ein Nachsatz. Allein dies ist bemer­kenswert, denn diese Bitte ist die einzige im ge­samten Vaterunser, die mit einem Nachsatz verse­hen ist. Dieser Nachsatz lautet: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Damit werden göttliches und menschliches Handeln zueinander in Beziehung ge­setzt. Christ*innen, die letztlich immer auf die Verge­bung durch Gott angewie­sen sind, können ihn nicht aufrichtig um seine Vergebung bitten, wenn sie selber nicht bereit sind, ihren Nächsten zu vergeben, die ihnen gegenüber schuldig ge­worden sind. Dem entspricht die Aussage, die im Matthäusevan­gelium unmittelbar auf das Vater­unser folgt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14f.).

Damit diese Erkenntnis jedoch nicht zu einer belanglosen theologischen Richtigkeit verkommt, sondern gelebt werden kann, gilt es wahr- und ernstzunehmen, wie schwer es ist, Menschen zu vergeben, unter denen man gelitten hat. Vergebung gehört zu den Begriffen, die nicht leichtfertig in den Mund genommen werden sollten. Denn er benennt eine der schwersten Herausforderungen, vor die Menschen gestellt werden können. Christoph Huppenbauer hat in seinem vor zehn Jahren erschienenen Buch ‚Vergebung – Zumutung des Glaubens. Herausforderung für kirchliches Handeln‘ (Rosengarten bei Hamburg: Steinmann Verlag 2014) herausgestellt, wie schwer es für Opfer von Gewalt ist, Vergebung zu praktizieren – und zugleich aufgezeigt, dass der Vergebung eine befreiende Kraft innewohnt, die den Teufelskreis von Vergeltung, von Rache durchbrechen kann. Die Möglichkeit der Vergebung ist etwas überaus Wertvolles; sie kann den Weg zu Versöhnung und Frieden ebnen.

Aber die Möglichkeit der Vergebung kann auch pervertiert werden, wenn von den Opfern von Gewalt, sei es direkt, sei es indirekt, eingefordert wird, sie müssten den Täter*innen, die ihnen Gewalt angetan haben, vergeben. Die am 25. Januar dieses Jahres der Öffentlichkeit präsentierte Aufarbeitungsstudie ForuM zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie und die anschließende Auseinandersetzung mit dieser Studie zeigen, dass eben dies geschehen ist, indem Opfer sexualisierter Gewalt unter moralischen Druck gesetzt worden sind, ihren Täter*innen zu vergeben. Die Forderung zu vergeben dürfen Menschen nie an andere stellen, sondern – wenn überhaupt – nur an sich selbst. Und auch dies ist kritisch zu hinterfragen, denn jemand sollte nur dann vergeben, wenn er bzw. sie dazu in der Lage ist, und nicht, weil er bzw. sie moralischen Maßstäben genügen möchte, die eine Überforderung darstellen können.

Bedeutet dies nun, dass Feindesliebe und Vergebung realitätsfern sind? Nein; es gibt zutiefst ermutigende Beispiele dafür, dass es gelingen kann, Feindesliebe und Vergebung nicht nur in der Theorie gutzuheißen, sondern in der Praxis eines Lebens, das durch erlebte und erlittene Gewalt zutiefst geprägt ist, zu leben. Ein Beispiel dafür ist der Parents Circle, ein Zusammenschluss von mehr als 500 israelischen und palästinensischen Familien, die durch den Konflikt zwischen ihren Völkern Kinder oder nahe Angehörige verloren haben und sich gemeinsam für Versöhnung, Dialog und Frieden einsetzen. Diese Initiative wurde bereits mit etlichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Dass israelische Eltern, deren Kind von Palästinensern getötet wurde, und palästinensische Eltern, deren Kind von Israelis getötet wurde, sich treffen, um sich gemeinsam für den Frieden zwischen ihren beiden Völkern einzusetzen, zeigt, dass Feindesliebe möglich ist.

Die christliche Feindesliebe kann also den Weg zu Frieden ebnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sämtliche Christ*innen dies als den einzigen Weg zum Frieden ansehen und somit Pazifist*innen sind. Christ*innen bilden als Kirche einen Teil der Gesellschaft ab; gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, wie Friede erreicht werden kann, in der Gesellschaft, so gibt es sie auch in der Kirche. Um auch dies anhand von konkreten Beispielen darzulegen: Der frühere Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes hatte im Jahr 1993 anlässlich des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zum militärischen Eingreifen in Bosnien aufgerufen und sich dabei auf den Artikel 16 der Confessio Augustana (Augsburgisches Bekenntnis von 1530) berufen, in dem vom „bellum iustum“, vom „gerechten Krieg“, die Rede ist. Dies löste damals eine heftige Kontroverse innerhalb der Kirche aus. Diese Debatte erlebte in unseren Tagen gleichsam eine Neuauflage, als Annette Kurschus, die mittlerweile ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die Auffassung vertrat, dass Waffenlieferungen an die Ukraine mit christlichen Grundsätzen zu vereinbaren seien. In einem online veröffentlichten Interview des Nachrichtenmagazins ‚Spiegel‘ sagte sie: „Die Menschen in der Ukraine haben ein Recht auf Verteidigung. Und es gibt auch das christliche Gebot der Nothilfe, wenn Menschen ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden.“ In einer weiteren Äußerung hat sie die Waffenlieferungen ebenfalls direkt mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht: „Waffen für die Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.“ Diesen Aussagen von Annette Kurschus wurde von anderen Christ*innen z.T. heftig widersprochen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Margot Käßmann, ebenfalls ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, spricht sich mit Vehemenz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus, da diese dem Frieden nicht dienen würden. Auch in der Stellungnahme ‚Christ*innen sagen Nein zu Waffenlieferungen und Aufrüstung‘ von einer Gruppe von Pfarrer*innen der württembergischen Landeskirche wird die Auffassung vertreten, dass eine militärische Unterstützung der Ukraine keine dauerhafte Friedensperspektive biete (vgl. Susanne Büttner, Zum andauernden Krieg in der Ukraine. Württembergischer Friedensaufruf zum Reformationstag an Kirche und Politik, in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 123, 11/2023, S. 700f.). Diese Vielfalt von Positionen gibt es in der Kirche; sie muss in der Kirche ausgehalten werden und sie kann auch ausgehalten werden.