4 3 2 1

Ich lese gerade „4 3 2 1“ von Paul Auster – ein gewaltiges Stück Literatur, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Qualität her nur mit den Größten messen lassen will. Im Grunde handelt es sich um eine Art Bildungsroman, der vom jungen Archibald Ferguson erzählt. Allerdings weicht die zu Beginn vermutete lineare Biografie bald vier parallelen Erzählsträngen, die jeweils unterschiedlich von denselben Stationen in Fergusons leben erzählen und sich im Wissen der Leser*in doch wechselseitig auf eigentümliche Weise voraussetzen.

Fergusons Leben in den 50ern und 60ern des 20. Jahrhunderts in New York wird dabei bis ins kleinste Detail seziert. Es geht um seine Eltern, um den Sport, natürlich um die große(n) Liebe(n) seines Lebens, immer wieder um sein Verhältnis zu bedeutenden historischen Ereignissen, aber vor allem um Kultur, um Literatur, Film, Kunst, Musik. Es ist wahrlich ein amerikanisches Narrativ, das hier entwickelt wird, allerdings eines, das die Wurzel der gesellschaftlichen Spaltung fokussiert, die uns in diesen Tagen der Präsidentschaftswahl wieder verstärkt vor Augen tritt. Fergusons Biografien sind so unterschiedlich und doch so ähnlich, dass in seiner Person die fragmentierte Einheit einer sich selbst entfremdeten Nation aufblitzt. Austers Roman erinnert uns daran, es in den großen Geschichtserzählungen Unverrechenbares gibt, Vorreflexives wie Persönlichkeitsstrukturen, aber auch die ‚kleinen historischen Umstände‘ (den Tod eines Familienmitglieds oder eine schwerwiegende Verletzung), das Wahrnehmung, Urteil und Handeln ohne Zweifel massiv beeinflusst. Damit erzeugt er Erkenntnis von Bestimmungsfaktoren, Verstehen der Umstände und Verständnis des einzelnen in den spezifischen Umständen, Empathie im besten Sinne des Wortes.

Ich habe mich gefragt, ob vielleicht eine Erzählung genau das ist, was die großen Kirchen ebenfalls bräuchten, um ihre innere Zerrissenheit in spätmoderner Gesellschaft anfanghaft zu verstehen und versöhnen. Vielleicht sind es vorerst genug der Studien und Expertisen, die innere Fliehkräfte, Kommunikationsblockaden und Zerfall erklären und Direktiven zu ihrer Verhinderung aufstellen. Vielleicht braucht es einen Ferguson, der das Vorreflexive und die ‚kleinen historischen Umstände‘ in den Diskurs um Gegenwart und Zukunft der Kirchen einspeisen kann. Und vielleicht gelingt es darüber, Verständnis und Empathie für die verschiedenen Formen des Christseins zu gewinnen. Ich überlege noch, wer dieses Buch schreiben sollte.

Dr. Aaron Langenfeld ist Vertretungsprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte unter Berücksichtigung fundamentaltheologischer Fragestellungen an der Universität Vechta. 

12 gegen 12

Vor einigen Tagen ist die erste Entscheidung des nationalen Ethikrates öffentlich geworden. Es ging um die Frage, ob es ethisch akzeptabel ist, wenn Immunitätsausweise für Menschen ausgestellt werden dürfen, die Antikörper gegen das Coronavirus ausgebildet haben. Für das ZeKK war die ganze Sache eine ziemlich aufregende Premiere, weil zum ersten Mal eine Paderbornerin, nämlich unsere muslimische Kollegin Muna Tatari, mit von der Partie war. Entsprechend wurde die Frage auch im ZeKK intensiv diskutiert.

Interessant finde ich das Ergebnis des Ethikrates. Denn genauso wie 12 Mitglieder sich grundsätzlich einen solchen Ausweis vorstellen können, lehnen ihn 12 Mitglieder kategorisch ab. Ich persönlich hätte mir aus vielen verschiedenen Gründen hier eine klarere Ablehnung gewünscht. Interessanterweise waren sich die Vertreter*innen des Christentums in der Kommission uneinig und sie finden sich in beiden großen Konfessionen jeweils in beiden Gruppen wieder. Die von mir eigentlich erhoffte klare Kante gab es von jüdischer und muslimischer Seite, im Christentum herrscht Uneinigkeit. Offenbar geht die Uneinigkeit unserer Gesellschaft in ethischen Fragen auch mitten durch die Kirchen hindurch.

Wenn das Christentum aber in Wertefragen keine einheitliche Linie verfolgt, sondern Spiegel unserer pluralistischen Gesellschaft ist, kann es nicht den Anspruch erheben, der Gesellschaft moralische Orientierung zu geben. Vielleicht tut es den Kirchen ja gut, wenn sie endlich aus der Rolle der moralischen Besserwisser hinausfinden. Vielleicht sollte ihre Vorbildlichkeit eher darin liegen, innere Pluralität auszuhalten – gerade auch in ethischen Fragen. Auf diese Weise ließe sich im wörtlichen Sinn Katholizität lernen, also eine Haltung, die alles zu umfassen versucht. Unsere Gesellschaft scheint den Wertepluralismus auszuhalten. Aber sie braucht Kräfte, die die innere Pluralität zusammenhalten. Vielleicht könnte das ja ein wichtiger Dienst des Christentums für unsere Zeit sein – Pluralität auszuhalten und Unterschiede heilsam zueinander in Beziehung zu setzen, bei allem leidenschaftlichen Ringen um diskursiv begründete Mehrheiten.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Muhammads Traum

Einige Jahre lange meinte ich ganz genau zu wissen, welchen Zweck die Prophetenerzählungen des Korans haben. Ich verstand sie als Gegenerzählungen zur Christologie. Ich hatte entdeckt, wie stark die Kirchenväter alle prophetischen Erzählungen auf Christus hin deuteten, und es ist überdeutlich, dass der Koran hier den christlichen Überschwang in die Schranken weist.

Mittlerweile folge ich einer anderen Spur. Denn ich habe verstanden, dass der Koran die Besonderheit Jesu Christi verteidigt und seine einzigartige Stellung stark macht. Offenbar hatte der Verkünder des Korans eine Vision. Den Christen wollte er klar machen, dass sie aufhören müssen, alle Prophetengeschichten nur mit der Jesusbrille zu lesen und diese Geschichte damit dem Judentum wegzunehmen. Den Juden wollte er klar machen, dass sie Jesus ruhig als Messias und Wesenswort Gottes anerkennen können, ohne dass ihre Besonderheit und Einzigartigkeit dadurch bedroht wird. Offenbar entsteht hier eine dritte Religion mit einem ganz eigenen Gepräge, die in ihrem Ursprungstext davon beseelt ist, die beiden älteren Geschwisterreligionen miteinander auszusöhnen und zugleich die eigene Religion nicht über, sondern neben die anderen zu stellen.

Dieser Traum einer versöhnten Verschiedenheit blieb im siebten Jahrhundert unerfüllt. Er kann auch nur gelingen, wenn bei jedem Propheten im Detail gezeigt wird, wie er einerseits auf Jesus Christus hin ausgerichtet ist, aber zugleich über diese Ausrichtung hinaus ein eigenes Gepräge hat, das sogar helfen kann, Dinge an Christus zu entdecken, die in der Kirche in Vergessenheit geraten sind. Gerade in den nächsten Tagen treffen sich in Paderborn Forscher*innen aus Judentum, Christentum und Islam, um zu sehen, ob diese Vision des Verkünders des Korans bei den koranischen Prophetengeschichten eingelöst wird. Sie sprechen jede prophetische Gestalt durch und testen, ob die koranischen Texte je für ihre Religion geeignet sind, sie in ihrer Identität und Besonderheit zu stärken und zugleich füreinander zu öffnen. Ich weiß noch nicht, ob Muhammads Traum unseren Praxistest besteht. Aber ich bin sehr aufgeregt, dass ich Teil dieses großen Experiments sein darf. Vielleicht kann ich ja mithelfen, dass dieser Traum aus dem siebten Jahrhundert 1400 Jahre später Wirklichkeit wird.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

Umarmen reloaded

„Sollen wir uns umarmen?“ – Wenn mir jemand letztes Jahr gesagt hätte, dass meine langjährigen Schulfreundinnen mir diese Frage stellen und ernsthaft die Option bestehen würde, dass wir uns nicht umarmen, wäre ich wahrscheinlich mehr als irritiert gewesen. Irritierend ist es immer noch, dass man sich nicht automatisch umarmt, wenn Menschen im sogenannten persönlichen „inner circle“ Geburtstag haben, ihren Abschluss geschafft haben oder man sich einfach sehr lange nicht mehr außerhalb des digitalen Raums gesehen hat. Plötzlich müssen Selbstverständlichkeiten neu verhandelt und Prioritäten neu gesetzt werden. Die Sicherheits-, Abstands- und Hygieneregeln geben uns Richtlinien, die im direkten Kontakt mit Menschen, die einem am Herzen liegen, plötzlich eine ganz neue Dynamik annehmen können.

Vor Corona waren die Zeichen klar – eine Umarmung bedeutet, dass ich den anderen an mich heranlasse und dass ich mit der körperlichen Nähe meine emotionale Nähe zum Ausdruck bringen kann. Auch wenn wir wissen, dass wir wegen Corona und nicht aufgrund von emotionaler Distanz auf Abstand gehen, können sich durch die Hintertür Zweifel und Konflikte einschleichen. Wen ich umarme oder nicht umarme entscheidet sich nicht nur danach, wie nahe mir der- oder diejenige steht, sondern auch danach, was für ein Kontrollbedürfnis ich habe, wie ausgeprägt meine Sorge ist, sich doch anstecken zu können oder ob ich selbst oder eine Person in meinem Haushalt zu einer Risikogruppe gehört. Und nicht zuletzt kann eine ausbleibende Umarmung genau das Gegenteil bedeuten, was sie zunächst zu suggerieren scheint. Der Abstand kann auch bedeuten: Ich umarme Dich nicht, weil ich Angst habe, Dich anzustecken. So wird die Luft-Umarmung nicht zu einem Zeichen der emotionalen Distanz, sondern zu einem Zeichen der Sorge und der Zuneigung.

Das Hinterfragen von eigentlich vertrauten Deutungsmustern müssen wir vielleicht neu einüben, kennen wir aber bereits aus interreligiösen und interkulturellen Begegnungen. Wie interpretiere ich es bspw., wenn ein gläubiger Muslim mir den Handschlag zur Begrüßung verweigert? Diese Geste kann unterschiedlich interpretiert werden. Sie kann bedeuten: „Ich mache einen Unterschied zwischen mir als Mann und Dir als Frau“ und mich dadurch verletzen und diskriminieren. Sie kann aber auch bedeuten: „Ich zeige Dir mit meiner Zurückhaltung meinen Respekt.“ Wortlos verstehe ich die Geste aber nicht. Ich brauche Erklärungen, das Wissen um Hintergründe, Intentionen und Absichten, um erkennen zu können, wie mein Gegenüber zu mir steht und was sein Zeichen mir sagen will.

Gerade weil in Corona-Zeiten unsere Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind, sind wir mehr als zuvor darauf angewiesen, uns zu erklären und hinter die offenkundigen Zeichen zu blicken. Deswegen gilt: Je mehr wir auf Umarmungen verzichten, desto weniger dürfen wir an Worten sparen.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Ich glaube an Gott und den Effzeh

„Wir lieben Köln.“ So lautete der erste Satz der gemeinsamen „Kölner Botschaft“ von prominenten Verfassern nach den Silvesterübergriffen im Jahre 2016, die in fünf großen Tageszeitungen im Rheinland auf der ersten Seite stand und zugleich auf englischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurde: So einzigartig dieser gemeinsame Auftritt war, so einzigartig ist wohl auch die Liebe der Menschen zu ihrer Heimatstadt Köln. Und diese Liebe gilt den Verfassern der Botschaft nach der Vielfalt der Stadt, der Lebenslust, dem etwas Chaotischen, nicht ganz so Reglementierten, niemals Stubenreinen, aber auch der Gastfreundschaft und der Offenheit für Lebensformen, Kulturen und Sprachen, die zunächst seltsam anmuten und kurz darauf bereits zum Alltag der Kölner gehören. Diese Liebeserklärung von 2016 durch prominente Kölner scheint nicht eine leere Phrase zu sein, sondern zeigte sich kürzlich in der Reaktion des 1. FC Köln auf den Austrittsgesuch eines Mitglieds „aus der Glaubensgemeinschaft 1. FC Köln“: Das islamophobe Ex-Mitglied hat seinen Austritt damit erklärt, weil „der FC jetzt mit Trikots aufläuft, die mit einer Moschee bestückt sind“. Hierbei bezog sich das Ex-Mitglied auf die Auswärtstrikots des 1. FC Köln, auf der die stilisierte Skyline Kölns abgebildet ist, der Dom natürlich, die Hohenzollernbrücke – und auch die Zentralmoschee im Viertel Ehrenfeld. Mit Verweis auf die „Effzeh-Charta“ bestätigte der 1. FC Köln gerne die Kündigung auf Twitter und verabschiedete sich in türkisch: „Hadi tschüss.“ Es ist dieses aufrichtige Bekenntnis der Kölner zu der großen muslimischen Community in Köln, die selbst mich als Paderborner dazu bewegt nicht nur an Gott zu glauben, sondern auch an die Glaubensgemeinschaft des 1. FC Köln. Der vierte Kalif Alī ibn Abī Ṭālib (gest. 661), der Sunniten und Schiiten wie keiner anderer verbindet, sagte im siebten Jahrhundert, „Der Mensch ist entweder ein Bruder im Glauben oder ein Bruder in der Menschlichkeit“, so dass der 1. FC Köln hier für mich sowohl die Geschwisterlichkeit gegenüber seiner eignen Glaubensgemeinschaft gezeigt hat als auch Menschlichkeit gegenüber allen Teilen der Kölner Community. Daher werde ich das nächste Mal bei einem Heimspiel der Kölner, coronabedingt leider nur einsam vor dem Fernseher, um so lauter den Abschnitt des Liedes der Bläck Föös singen:  „Ich ben Grieche, Türke, Jude, Moslem un Buddhist, mir all, mir sin nur Minsche, vür‘m Herjott simmer glich“.

Dr. Idris Nassery ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

Das Gefäß und der Schleier

Trotz all dem theologischen Ernst, der einer muslimischen Ehe- und Liebesbeziehung innewohnt, trägt aus meiner Perspektive als Frau eine christliche Liebesbeziehung bzw. Ehe eine fast ins Eschatologische gesteigerte Dramatik in sich, die sowohl einzigartig als auch in ihrem theologischen Pathos bis ins Himmlisch-Unaussprechliche gesteigert ist – wenn man denn Eph 5:22-24 wörtlich nehmen will. Denn das würde bedeuten, die Frau hat ihrem Mann mit der gleichen Ehrfurcht zu begegnen, wie die Kirche Jesus Christus begegnet.

Wenngleich eine gut geführte Ehe auch islamisch honoriert wird – auch im Hinblick auf das künftige Heil – so hat sie doch, ohne deswegen an Intensität der gegenseitigen Verantwortung zu verlieren, mehr eine menschlich-diesseitige „Funktion“. Die christliche Liebeserwartung, mit dem Autor des Epheser-Briefs ausbuchstabiert, stellt die Liebenden vor einen Anspruch, eine Messplanke, die gerade auch ab dem Neuen Testament eine – bei aller Metaphorizität – beinahe unerträgliche Höhe erreicht.

Hat eine muslimische Ehe – rein sozial-phänomenologisch gesehen – womöglich eine stärkere hierarchische Oberflächenstruktur, so hat sie eine demokratischere theologische Tiefengrammatik. Sie kennt weniger die mystisch-romantische Vorstellung des Sich-Wiederfindens der Seelen im Jenseits, das für das abendländische Über-die-Liebe-Sprechen so prägend ist.

Das gleiche theologische Pathos würde die Ehe im Islam erst erreichen, wenn der Mann etwa mit dem Koran verglichen würde.

In der Tat sind Vergleiche dieser Art auch im Islam zu finden:

Der Theologe und Mystiker Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazālī prägte für die Art und Weise des Verstehens das Bild einer Braut (Qurʾān), die sich in Schleiern verhüllt und ihre Schleier nicht lüftet, sondern vielmehr fester um sich zieht, wenn der Bräutigam (der um Verstehen bemühende Leser) sich nicht in Neugier, Respekt und Offenheit nähert. (Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, S. 41)

… und doch nimmt die offensichtliche Rollenumkehr dem Vergleich – in einer nahezu ritterlichen Weise – dieser Metapher ihre theologische Schwere, indem sie – sei es auch nur für die Dauer eines Sprachspiels – die althergebrachte Hierarchie aufhebt…

Da ich aus Frauenperspektive schreibe, klammere ich die Stellen, die sich an Männer richten, bewusst aus. Es geht mir darum, die Stellen, die eine patriarchalische Lektüre nahelegen könnten, nicht wegzulesen, sondern ihnen eine mystisch-theologische hingegen zur sozial-theologischen Seite abzugewinnen. Auch wenn der erste Petrusbrief die Frauen mit einem zerbrechlichen Gefäß vergleicht, wird die Stelle in erster Linie dann beklemmend, wenn sie uns vorgehalten wird – ob von Männern oder anderen Frauen. Liest man sie als eine individuelle Ansprache an die Seele, kann sie auch eine schöne Seite haben. Ich finde also an diesen „patriarchalischen“ Stellen in der Bibel und in der islamischen Tradition nichts, was mir als Frau zu nahe tritt – allerdings dann und nur dann, wenn ich sie nicht von Männern vor die Nase gehalten bekomme. Dass meine Argumentation hier auf wackeligen Füssen steht, ist mir bewusst, denn es ist von Person zur Person unterschiedlich, was als „schön“ oder „mystisch“ wahrgenommen wird. Auch finde ich diese Haltung der Bibel extrem fordernd, herausfordernd und auch anstrengend. Ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll. Ich finde sie aber nicht „frauenfeindlich“, solange es sich um eine Liebesheirat handelt und solange sie sich als eine Einladung an Frauen versteht – und nicht als eine Lizenz an Männer. Vielleicht kann man in dem Schrifttext aber auch die Wertschätzung sehen, die die Bibel für menschliche Beziehungen mitbringt, für ihr Potenzial, und das so sehr, dass sie sogar solche Vergleiche nicht scheut (man denke auch an Eph 5:25!). So viel darf die Liebe uns also bedeuten! So viel trauen die Bibel, der Koran und die islamische Tradition uns zu!

Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

…and breathed into him of My spirit…

Modern trends in theology do hardly deal with the scriptural figure of Satan. It is probably because it would cause more perplexity to our theological struggle with the problem of evil and the question of free will. Nevertheless, the Qur’anic account of Satan’s disobedience towards God and the attitude Satan assumes against human being is very enlightening if one takes this scriptural figure as a metaphorical manifestation of human darkest potentials.

The Qur’anic account of Satan’s dismissal from Divine proximity is centred around the story of the creation of Adam:

“Your Lord said to the angels, “I am creating a human being from clay. When I have formed him, and breathed into him of My spirit, fall prostrate before him.” So the angels fell prostrate, all of them. Except for Satan. He was too proud, and one of the faithless” (Q 38:71-74).

After the creation of Adam, God commands Satan as well as all angels to prostrate to his creation. Satan rejects prostrating to Adam due to the latter’s inferior nature (as he was created from clay) and becomes, therefore, the bad man of the story. The traditional interpretation of this narrative regards Satan, rejecting Divine command, as a bad role model or a vicious guide for those human beings who disobey God’s commands and reject God’s law. In the thought of certain Sufis, including ‘Ayn al-Quḍāt Hamadānī and Rūzbihān Baqlī, however, Satan is regarded highly for having an exclusive love for God. According to this interpretation, Satan did not include any other being than God as subject to veneration, at the expense of being dismissed from heaven. Satan’s disobedience in this respect is thus interpreted by those Sufis as true submission to Divine will, which actually required Satan’s disobedience. Although Sufis agree upon the fact that Satan’s love for God was of an imperfect sort as it did not recognize the manifestation of the Divine in Adam, I would like to put into question the very claim that Satan’s attitude should, by any means, be identified as love. No matter how innovative the Sufi interpretation, it overlooks the deeper understanding of the concept of love, which bears respect and recognition.  The traditional interpretation, on the other hand, already neglects a very subtle point (implied in Sufi interpretation) which would bring into light an important aspect of Satan’s sin: the fact that God has breathed into human being of His spirit. I would like to suggest that a big part of Satan’s sin in this regard lies in Satan’s refusal of acknowledging the Divine spirit in man. Satan is indeed a bad role model, but not only because of refusing God’s command, but also because of rejecting the Divinity within human being; the Divinity whose recognition in Adam would be a sign of love for God himself. Now the question is if this Divine element within human beings does not really require respect from all of us towards each other? Isn’t it the case that most evil we cause to each other is actually rooted in our disrespectful disregard of the Divinity within our fellow human beings and, therefore, in our lack of love for God and for each other?

Nasrin Bani Assadi ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

„Was ich vermisse, ist eure Umarmung“,

sagte einer der trauernden Söhne den Teilnehmern in einer der beiden Trauerzeremonien, an der ich in den vergangenen Wochen teilgenommen habe. Es war die erste Yorzeit (jidd. Jahrzeit, der erste Todestag) für seine verstorbene Mutter. Die zweite Trauerfeier fand nach dem Ende der Schiva (hebr. „sieben“) oder Schive (jidd.) statt. Sie ist die siebentägige Trauerwoche, die unmittelbar nach dem Begräbnis des Verstorbenen beginnt.

Das wäre sicherlich nicht ein Motiv für einen Blog, hätten die Zeremonien nicht wegen Corona online, stattgefunden.

Die Anwesenden haben online den Kaddisch gesprochen (aramäisch „heilig“, „Heiligung“. Das Kaddisch verkündet bzw. heiligt den göttlichen Namen. Es wird als Trauergebet zu Ehren der Toten gesprochen) und die Familie konnte einige Worte über die Verstorbenen sagen. Im Anschluss gab es die Gelegenheit sich untereinander Erinnerungen über den Verlust auszutauschen.

Die digitalen Zeremonien haben in meiner Heimatstadt Buenos Aires/Argentinien stattgefunden. Dort und in der umgebenden Provinz wird seit Monaten eine strenge Ausgangssperre verhängt. In der dichte der Stadt scheint die Zeit still zu stehen. Jetzt nach vielen Monaten kehrt ein kleines Gefühl der Normalität zurück, da wieder etwas gearbeitet wird. Die Schulen schließen gleich nach Ende der Sommerpause. Corona konfrontiert gerade jetzt die ärmsten Länder der Welt, in der 30 oder 50 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, mit ungenügenden medizinischen Kapazitäten und Reserven.  

Die Trauerriten, die den Übergang zu einem Leben ohne die geliebte Person markieren, der Abschied in Begleitung der Großfamilie und der Gemeinschaft wandeln sich zu Coronazeiten zu einer medialen Erfahrung.

Zudem wurde der kathartische Effekt bei den Teilnehmern rasch bemerkbar: die reale Trauer vermischte sich mit der Angst und der Ungewissheit über die aktuelle Zeit. Wie lange müssen wir noch so leben? Wann werden wir endlich unsere Lieben wiedersehen? Wann dürfen wir endlich wieder unseren Toten die letzte Ehre erweisen. Gleichzeitig ergeben sich auch Fragen für die Zukunft: Wann dürfen wir endlich wieder gemeinsam feiern, uns umarmen oder einfach das Leben zelebrieren?

Trauer und Leben sollten sich ab einer bestimmten Zeit wieder ergänzen: im Judentum ist die erste Woche nach dem Beerdigung ganz bedeutend: die Gemeinde begleitet sieben Tage lang die Familie des Verstorbenen. Die engsten Familienangehörigen verlassen während dieser Zeit nicht das Haus und sollten zu Hause barfuß sitzen. Trauernde tragen ein zerrissenes Kleidungstück. Um das Essen für die Hinterbliebenen kümmern sich Freunde und Bekannte.

Der Tradition nach, müssen die Trauernden den Gästen Gesprächsthemen anbieten. Dieser psychologische Trick soll die Trauernden etwas animieren, die Wortlosigkeit aus dem Geschehen zu nehmen. Während der Schiva werden die Spiegel zu Hause abgedeckt (es ist keine Zeit der Sorge um Schönheit und Ästhetik). Männer dürfen sich einen Monat lang nicht rasieren. Musik sollte ein Jahr lang nicht gehört werden. Und große Feiern sollten im engsten Kreis der Familie ein Jahr lang vermieden werden. Einen Monat lang dürfte der Friedhof normalerweise nicht besucht werden. Diese erste Etappe des Trauerzyklus dient dazu eine Distanz zu dem Verstorbenen aufzubauen. Dann beginnt wohl die schwierigste Etappe für die Hinterbliebenen: die aktive Umgestaltung des eigenen Lebens ohne die Präsenz des geliebten Menschen. Der Kaddisch wird danach noch ein Jahr lang von den nächsten Verwandten gesprochen.

Dieses Corona-Jahr wird wohl bei vielen Menschen als ein Jahr der Begrenzungen, der Distanzierung und der Häuslichkeit, in Erinnerung bleiben. Aber viel mehr ist ein Jahr  der immensen Trauer um die vielen unnötigen anonymen und kontaktlosen Tode. Es sollte ein Kaddisch für die 700,000* (Stand 2. August) Menschen gesprochen werden, die dem Corona-Virus schweigsam und allein zu Opfer gefallen sind.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

Gescheitert?

Die japanische Tradition zerbrochene Keramik durch eine Gold- oder Silberlegierung zu reparieren heißt kintsugi – mit Gold zusammen führen. Das Besondere: Kintsugi versucht nicht, die augenscheinlichen Makel der Reparatur, des Zerbrochenseins zu verbergen, vielmehr werden diese erinnert, betont, erhalten.

In einer Welt, die durch Erfolg-, Nutzen- und Leistungsimperative getaktet ist, wirkt eine solche Betonung des Zerbrochenen irritierend. „Brechen“ – zerbrechen, abbrechen, umbrechen, zusammenbrechen – ist ein Makel. Misserfolg, Versagen und Scheitern sind unerwünscht, werden gerne aus den Lebensläufen gestrichen oder an den Rand der Gesellschaft verbannt. Der Zwang zur körperlichen und geistigen Selbstoptimierung, die Forderung nach Perfektion bis in die Ruhephasen und gibt.

In Japan wird ein solcher perfekter Lebenslauf mit einer gewissen Bewunderung aber ebenso Skepsis betrachtet – denn ist der Moment des Fallens, der Moment des Scheiterns nicht auch der Moment an dem sich die Tiefe des Seins allererst offenbart? Lernt der Mensch nicht allererst dort seine Menschlichkeit anzunehmen, wo er seiner eigenen Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit begegnet?

Das japanische „Shikata ga nai“ – was so viel bedeutet wie „kann man nichts machen“ – sind dann aber nicht etwa Ausdruck der Resignation angesichts des Zerbrochenen, sondern die Anerkennung, dass wir nicht immer alles kontrollieren können, dass es Umstände und Situationen gibt (und geben darf!), die uns Menschen an die Grenzen unserer Fähigkeiten, unseres Wissens und unserer Einflussnahme führen. Erst im Scheitern, im Brechen und Vergehen kann etwas entstehen, dass auf eine Wirklichkeit jenseits der Vereinnahmung Selbstoptimierung, Gewinnmaximierung und Beschleunigung verweist.

Wo sollen wir aber das Gold in den, in unseren Lebens-Bruchstellen finden? Woher sollen wir den Mut zum Scheitern nehmen in einer Gesellschaft die doch so wenig von den Brüchen wissen will? Woher kommt die Zuversicht auch im Zerbrochenen ein Zeichen der Hoffnung setzen, einen Weg in die Freiheit finden zu können? Wir Christ*innen finden das Gold im bedingungslosen Zuspruch Gottes…und unterm Kreuz: denn auch Jesus hat dort wohl in aller Härte erkennen müssen, dass die Wahrheit seiner Botschaft nicht in ihrem Erfolg liegt, sondern in seinem treuen Zeugnis, im Einstehen für diese Wahrheit – gerade und selbst in dem radikalsten Moment des Scheiterns dieser Botschaft. Das Annehmen des Scheiterns ist also das Ansehen der Bruchstellen. Das anhaltende Zeugnis für die dahinter liegende Vision, die dahinter liegende Wahrheit, ermöglicht es dann vielleicht diese Bruchstellen wieder mit Gold zusammenzuführen.

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.

Die Stunde der Wissenschaft?

Der Ausnahmezustand der vergangenen Monate hat allerhand Unerwartetes gebracht. Dazu zählt sicherlich die neue Rolle der Wissenschaft. Virologen-Duelle werden im Boulevard ausgefochten und der – zu Krisenbeginn – tägliche NDR-Info-Corona-Podcast mit Christian Drosten hat derartigen Kultstatus erreicht, dass Punkbands ihm eigene Lieder widmen. Er war auch Teil meiner täglichen Homeofficeroutine. Natürlich wollte ich dabei vor allem einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand zur Pandemielage bekommen. Weil jeder aber mit seinen eigenen Ohren hört, habe ich mich immer wieder gefragt, ob die Erläuterungen von Methode und Wissensgewinn auch geeignet wären, einem Publikum das Vorgehen der Geisteswissenschaften nahezubringen (und außerdem darüber gestaunt, dass es in der Immunologie – wirklich! – den Begriff der „antigenetischen Ursünde“ gibt.) Darum einige lose Gedanken nach dem Hören von 51 Podcast-Folgen:

1) Wem trauen wir Expertise zu? Wer sich an der Universität mit Religionsfragen befasst, kennt das Auseinanderklaffen von öffentlicher Debatte und fundierten Kenntnissen, das sich derzeit bei der Diskussion um Corona-Maßnahmen beobachten lässt. Immerhin hinterfragt ein großer Anteil inzwischen sogar die Publikationslisten von Virus-Experten. Eine ähnliche Differenzierung könnte der nächsten großen Religionsdebatte nicht schaden.

2) Wer nimmt welche Rolle ein? Ein Virologe muss einen anderen Blick auf dieselbe Situation haben als die Kinderärztin oder der Ökonom, und alle diese Perspektiven haben ihr Recht. Analoges gilt bereits theologieintern und kann sich auch da zu einer Art Tauziehen entwickeln: etwa, wenn eine Exegetin den Dogmatiker warnt, allzu abgehoben zu spekulieren.

3) Ein Podcast-Klassiker ist der Hinweis, dass Wissensgewinn durch Kritik und Korrektur eigener Annahmen erfolgt. Eigentlich selbstverständlich. Als Uni-„Nachwuchs“ finde ich das dennoch ermutigend, und besonders oft habe ich den Satz „Jetzt sehe ich das anders“ auf Konferenzen noch nicht gehört.  

4) Natürlich sind die Fächer am ZeKK und die derzeit hoch im Kurs stehenden Disziplinen der Medizin völlig unterschiedlich. Und doch eint sie das Dach der Universität. Das von ihnen generierte Wissen sollte nicht unter diesem Dach bleiben, sondern kommuniziert werden – auch das zeigt der Podcast-Erfolg, auf den wohl keine Wissenschaftsjournalistin vorab gewettet hätte.

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.