Ich begleite die letzten Tage im Leben eines Menschen, der für mich unentbehrlich war.
Das ist eine sehr schwierige, emotionale und unvergleichliche Aufgabe. Die Konfrontation mit der Endlichkeit, mit den Grenzen und Wegen angesichts des Leidens und den Möglichkeiten, damit umzugehen, wirft uns in ein Paralleluniversum von Erfahrungen, ich erlebe es wie einen langen, dunklen Tunnel…
GESUNDHEIT UND KRANKHEIT, LEBEN UND TOD sind die grundlegendsten Umstände, die die Suche nach Spiritualität, Religiosität und Antworten auf Glück und Leid begünstigen. In unserem modernen Verständnis sind es zuerst die Umstände, dann wenden wir uns Gott zu.
Zwei grundlegende Texte der Tora lehren jedoch, dass die Genealogie der Ereignisse umgekehrt ist, auch wenn dies schwer zu akzeptieren ist. Es handelt sich um zwei Prüfungen für zwei Männer des Glaubens, Abraham und Hiob.
Gott prüfte Abraham, lesen wir in Gen. 22, und er prüfte ihn mit einer unmöglichen Forderung: Er sollte seinen eigenen Sohn töten. Welcher Mensch würde eine solche Prüfung auf sich nehmen und trotzdem leben? Oder wie kann man ein Mensch des Glaubens bleiben, nachdem man eine solche Prüfung bestanden hat?
Und außerdem (und das wäre das Thema eines anderen Blogs), warum Gott als ein so grausamer Gott dargestellt wird, der eine Wahl zwischen absoluter elterlicher Liebe und absoluter göttlicher Liebe verlangt.
Der zweite Bezug ist das Buch Ijob, dessen Text das Vertrauen auf Gott auch in der größten Not betont: Es ist selbstverständlich, Gott zu danken, wenn man den sonnigen Weg des Lebens geht. Was aber, wenn Schatten auf einen fallen? Wäre es nicht eher zu erwarten, dass man sich über Gott ärgert, ihn herausfordert und verflucht?
Der Gott Israels ist ein Gott, der prüft, der Prüfungen zulässt (in Hiob), der dann aber in unseren Texten das Opfer des Sohnes nicht konkretisiert und den reich belohnt, der trotz Verlust von allem (durch die Hand des Satans, verfeinert den Text) seine Treue bewahrt.
Die Tatsache, dass das Gute und das Böse in Gottes Hand liegen, lädt dazu ein, das Leiden als das Menschlichste zu akzeptieren, das die Erfahrung des Lebens mit sich bringt. Das Leiden wird nicht als ein Schlagwort der Stärke und der Resilienz, nicht als schicksalhaftes Verhängnis, sondern als ein lebenswichtiger Rahmen verstanden, der uns vor dem Abgrund auf die Probe stellt und uns aus der Tiefe aufschreien lässt, wie es Psalm 130 tut. In der Antwort, die wir erhalten und die so sehr, aber nicht nur, von uns abhängt, öffnet sich der Weg zu Ausgleich, Heilung und Weisheit.
Bild von Pixabay
Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien der Universität Paderborn.
Der Deutsche Evangelische Kirchentag 2023 in Nürnberg endete am vergangenen Sonntag mit einem Abschlussgottesdienst, der für Schlagzeilen sorgt.[1] Im Fokus steht die Predigt von Pastor Quinton Ceasar, der in der Losung „Jetzt ist die Zeit“ (Mk 1,15) den Auftrag sieht, Veränderungen nicht aufzuschieben, sich nicht mit einem „Die Zeit wird kommen“ zufrieden zu geben. Er spricht von Veränderungen hin zu Gerechtigkeit und betont, dass Liebe ohne Gerechtigkeit nicht zu verwirklichen ist. Nächstenliebe braucht Solidarität mit denen, die marginalisiert und diskriminiert werden. Allerdings nicht von oben herab, sondern im Miteinander auf Augenhöhe. Das erfordert das Verlassen von Happyland, ein Begriff, den er von Tupoka Ogette[2] übernimmt. In Happyland leben diejenigen, die dank ihrer Privilegien keine Diskriminierungserfahrungen machen und am liebsten auch nichts mit Diskriminierungen zu tun haben wollen. Sätze wie „Ich sehe keine Hautfarbe, keine Behinderung, kein Geschlecht.“[3] seien nach Ceasar Ausdruck des Wegsehens. Problematisch ist es, wenn dieses Wegsehen mit Glaubensaussagen verbunden wird, die die eigene privilegierte Position nicht reflektieren und somit zu Plattitüden werden. Vielmehr noch: Sie werden zu einer Gefahr. Ich schließe mich dieser Einschätzung an. Wenn eine Aussage wie „Gott liebt uns alle gleich“ aus Happyland heraus getroffen wird, gleicht das einer Lüge, wenn im selben Moment Menschen diskriminiert werden. Ceasar bringt es auf den Punkt: „Gott ist parteiisch.“[4] Gott sieht die Vielfalt an Hautfarben und Geschlechtern und sieht vor allem Diskriminierungen, die Menschen vornehmen. Gott steht an der Seite der Marginalisierten.
Die befreiende Botschaft, die damit einhergeht, dass Gott an der Seite der marginalisierten und diskriminierten Menschen steht, wird schon lange nach außen getragen.[5] Sie erreicht vorrangig diejenigen, die sie brauchen, eben die Marginalisierten und Diskriminierten. Durch die Predigt auf dem Kirchentag trifft sie auf die Ohren einer großen Menge an Menschen an unterschiedlichsten gesellschaftlichen Standorten. Für Menschen in Happyland gleicht die Botschaft mitunter einer Bedrohung, hätte sie doch in der Umsetzung zur Konsequenz, die eigenen Privilegien zu reflektieren und im Einsatz für Gerechtigkeit zu nutzen. Das erklärt für mich auch den Trubel rund um die wohl am stärksten diskutierte Aussage aus der Predigt: „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer.“[6] Worum geht es hier? Es scheint mir zum einen darum zu gehen, dass „queer“ nicht in seiner begrifflichen Ganzheit verstanden wird. So ist z.B. in einem Kommentar zur Predigt folgende Definition zu finden: „Queer ist zu verstehen als Sammelbegriff für Personen, deren geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, die also etwa schwul, lesbisch, bi-, trans-, oder intersexuell sind.“[7] Das kritische und dekonstruierende Potenzial des Begriffs als Perspektivbegriff wird hier nicht genannt. Mit „Gott ist queer“ muss nicht gemeint sein, dass Gott ein Geschlecht oder eine sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. „Gott ist queer“ kann auch bedeuten, dass Gott nicht normativ auf Menschen blickt. Es kann bedeuten, dass in der Gottebenbildlichkeit Menschen dazu befähigt, gar aufgefordert sind, Normen zu hinterfragen und aufzulösen, wenn diese zu Benachteiligungen führen. Und das würde bedeuten, Happyland zu verlassen, sich aktiv für Gerechtigkeit einzusetzen, auf eigene Bevorteilung zu verzichten. Konkret bedeutet das, und da kann ich mich den Impulsen von Ceasar nur anschließen, sich um das Abmildern der Klimakatastrophe zu bemühen, gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einzutreten und religiöse Orte zu Safer Spaces für Menschen zu machen, die diese bisher nicht als solche wahrnehmen.
Zum anderen hinterlassen die kritischen und feindlichen Kommentare zur Predigt den Eindruck, dass einer gewissen Angst vor Unordnung und Vielfalt Ausdruck verliehen wird. Es ist davon die Rede, dass die Predigt konservative Christ*innen kränke.[8] Ich frage mich, was als Kränkung wahrgenommen wird. Wird „Gott ist queer“ so interpretiert, dass Gott nur queer ist und sonst nichts anderes? Geht es darum, dass Deutungshoheiten infrage gestellt werden? Diese Predigt irritiert Normativitäten, was an der Frage danach deutlich wird, ob es sich um eine offizielle Predigt oder einen Nischenvortrag handelt.[9] Konservatives Christentum wird dadurch zum Normalfall erklärt, die Predigt als Abweichung davon wird kritisiert und marginalisiert, in eine Nische gedrängt. Der Wunsch nach einer möglichst homogenen Kirche scheint durch, Vielfalt wird als riskant wahrgenommen. Dieser Wunsch wirkt auf mich sehr bedrohlich und ich hoffe, dass die Predigt selbst und die Diskussion rund um diese einen Anstoß geben, um noch stärker als bisher über Vielfalt innerhalb von Glaubensgemeinschaften ins Gespräch zu kommen, Privilegien zu reflektieren, Diskriminierungen nicht auszublenden und Aussagen wie „Gott ist queer“ zu nutzen, um einen konstruktiven und respektvollen Umgang mit Ambiguität einzuüben, kurz gesagt: den Weg raus aus Happyland zu gehen.
Dr. Vera Uppenkamp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Religionspädagogik unter besonderer Berücksichtigung von Inklusion am Evangelischen Institut der Universität Paderborn.
Die prekären Folgen und irreversiblen Auswirkungen der anthropogenen Veränderungen globaler Ökosysteme haben ein neues geologisches Erdzeitalter eingeleitet. Dass diese Entwicklungen verheerende Folgen haben werden, lässt sich schon lange nicht mehr durch politische Rhetorik oder posthumanistische Technik-Fantasien kaschieren. Auch wenn weltweit immer mehr Menschen immer deutlicher konsequentes, umfassendes und rasches politisches Handeln fordern und gemeinsam mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen auch hier in Deutschland das zivilgesellschaftliche Rückgrat einer grünen Bundesregierung bilden, verändert sich die reale Praxis jedoch nur schleppend, verbleiben rechtliche (Neu-)Regelungen häufig auf der Symptomebene oder missen trans- und internationale Geltungskraft.
So hat Deutschland abermals (!) bereits Anfang Mai seinen Earth Overshoot Day erreicht, d.h. durch Konsumgewohnheiten, Lebensstil und Wirtschaftsweise die natürlichen Ressourcen einer ganzen Erde aufgebraucht. Trotz zahlreicher Erfolge in Einzelbereichen muss also festgehalten werden, dass die Komplexität und Größendimension der ökologischen Probleme die planetaren Kompensationsmechanismen zunehmend destabilisieren und zusammen mit persistenter Umweltzerstörung die Ökosysteme immer schneller zu einem point of no return treiben. Ab diesem Kipppunkt, eine Art ökologischer Singularität, verändern kaum berechenbare Rückkopplungseffekte die natürlichen Ordnungsmuster und zerstören die Grundlagen bisheriger Lebensformen. Die fehlende Kohärenz und Durchsetzung von klima-, wirtschafts- und entwicklungspolitischen Maßnahmen, aber auch kulturell internalisierte fossile Identitätspraktiken und aneignende Weltbeziehungen gefährden den Erhalt planetarer Ökosysteme als Lebensgrundlage und wirken wie ein Brandbeschleuniger für soziale Ungerechtigkeit und globale Armut. Auch die ökologische Krise trifft wieder einmal diejenigen zuerst, deren Lebensumstände bereits als prekär gelten.
Es fühlt sich vor diesem Hintergrund an – so formuliert die Klimawissenschaftlerin Kathrine Marvel lakonisch – als nehme man an einem Slow-Motion-Horrorfilm teil. Die Beharrungskräfte gelebter Gewohnheiten, strukturell verankerte Externalisierungsdynamiken und schließlich die Destabilisierung friedlicher, internationaler Kooperationen erzeugen ein Ohnmachtsgefühl und münden bei vielen Menschen in eine Apokalypsen-Blindheit.
Und ja, es gehört sicherlich Mut dazu, sich ohne Happy-Ending-Gewissheit den herausfordernden Zukunftsprognosen zu stellen, anstelle in einen hedonistischen Eskapismus oder ethische Gleichgültigkeit zu flüchten. Und ebenso gehört Mut dazu, die strukturellen und kulturellen, notwendigen Schritte für eine sozioökologische Wende zu veranlassen und auch gegen öffentliche Hasstiraden, alltägliche Bequemlichkeit oder materielle Vorteile durchzuhalten. Auch wenn meine Unvertretbarkeit vor Gott mich dazu anhält, das Engagement für eine gerechte und lebensfreundliche Welt als empathisch-sensible Schöpfungsverantwortung zu leben und im eigenen Handeln zu bezeugen, gewinnt dieses Handeln nur durch eine entsprechende strukturelle Verankerung an Wirksamkeit. Diese strukturelle Verankerung wiederum basiert auf dem ausdauernden Einsatz politischer und wissenschaftlicher Verantwortungsträgerinnen, die ökologischen, sozialen, technischen und ökonomischen Fragen in ihren Zusammenhängen zu adressieren und in geltendes EU-Recht zu übersetzen.
Diesen Politikerinnen möchte ich ebenso danken, wie den Klimaaktivistinnen, die im Rahmen ihrer zivilen Möglichkeiten handeln und dadurch die Unaufschiebbarkeit einer „Revolution für das Leben“ (Eva von Redecker) immer wieder wie einen Sprengsatz in die Mitte unserer Gesellschaft tragen. Für uns als Theologinnen gilt es derweil in Theorie und Praxis mutig zu bleiben und darauf zu setzen, dass Gott diese Schöpfung nicht aufgegeben wird, solange wir sie nicht aufgeben.
* https://handeln-statt-kriminalisieren.com/
Dr. Anne Weber ist Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Kirche in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn und Lehrbeauftragte für das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.
When, a few weeks ago, my PhD supervisor, Klaus von Stosch, who is also ordinated as a deacon in the Catholic Church, asked me whether I would like to join the church service on Maundy Thursday so that he could wash my feet as a symbolic representative of one of Jesus’ disciples, it was with a mixed feeling of shame (he was my “Doktorvater” after all!) and excitement (how many Muslims had ever had the chance of being washed as a disciple of Jesus?!) that I responded positively to him.
It was still Ramadan that day. So, after having my quick breakfast (iftar) that evening, I rushed to the church to perform my (paradoxically) shameful, honourable role. To my great interest, the content of the preaching of my supervisor that evening included the problem of shame, specifically in the context of Maundy Thursday and on the matter of revealing one’s feet barely in front of another human being to be washed. He explained in his preaching how, many years ago, when he was asked for the first time to let his feet be washed by a priest, the presence of the Holy Spirit in him made the shame of the experience fade away and all that remained for him from that experience was the memory of the courage and inspiration that he felt at that moment. It was a very wise choice of content of preaching! Having listened to this, I tried to overcome my shame with almost the same strategy. But…
At the moment of performing the ritual, I realized that the nature of my shame was somehow different from what I had just listened to. My shame was not only due to the fact that I was letting my supervisor, whom I respected so deeply, wash my feet, but also due to the fact that I, as a Muslim woman, had hardly allowed a male person, other than my father, to touch my feet. At that moment, I started asking myself: how would I feel if Jesus himself was doing this? As a Muslim, I always had a deep feeling of respect and appreciation for God’s prophets. I could not imagine that the first thing that I thought, if Jesus himself was washing my feet, would be that he is a man! He, like all other prophets for whom I have a deep feeling of appreciation, is, more than anything, a messenger of God! Reflecting on these thoughts, I was back to my experience of the moment, observing my supervisor now drying my feet with the towel. It was done! I had performed my symbolic role as the disciple of Jesus. Performing this role, interestingly, had nothing to do with conditions such as my lower academic rank (than my supervisor), my being a Muslim, or a woman. Through my participation in this ritual, I had simply experienced the unconditional love of God for all humankind. This experience taught me, one more time, that Divine love or raḥmah toward humankind is greater than all the shame that exists in the world.
Nasrin Bani Assadi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und am International Center for Comparative Theology and Social Issues.
Endlich ist es Frühling, und das zeigt sich auch in den Innenstädten: Die Fußgängerzonen sind in diesen Wochen wieder so richtig voll, dass es kaum ein Durchkommen gibt. Die Menschen strömen in die Zentren, um sich mit Freund*innen auf ein Eis treffen, sind auf der Suche nach einem neuen Kleidungsstück oder auch einfach nur da, um zu schauen, was man alles nicht so braucht (#WindowShopping). Wenn man das in einer größeren Stadt tut – Paderborn reicht da schon aus – ist es sehr wahrscheinlich, dass man in diesen Tagen an einem besonders stark frequentierten Ort der Fußgängerzone wieder auf sie trifft. Emsige, kontaktfreudige Personen, die mit bunten Flugblättern und Büchlein eifrig und hartnäckig für ihren Glauben werben und nicht müde werden, ihre „ungläubigen“ Mitmenschen vor dem Gericht Gottes zu warnen. Gerade in Ausnahmezuständen gewinnt die Suche nach Halt an immenser Bedeutung – Menschen suchen ihn in Beziehungen, in der Politik, in der Religion. Aber je größer die Ungewissheit ist, desto attraktiver erscheinen auch vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Probleme, denn Angst ist kein guter Berater. Populismen, Verschwörungserzählungen und Formen des politischen und religiösen Extremismus erfahren insbesondere im Angesicht von Katastrophen hohe Resonanz. Wenn ein Unglück geschieht, wie vor zwei Jahren die Flutkatastrophe im Südwesten unseres Landes, oder uns eine Pandemie über Jahre beschäftigt, wissen das auch religiöse Eiferer für sich auszunutzen. Da wird Gott zu einem strafenden Gott, der uns das große Unglück schickt, auf dass wir geläutert werden. Die eigene Form der Frömmigkeit wird als einzig wirksamer Virenschutz dargestellt, ein „rechter“ Glaube an die propagierte Lehre als stabiler Damm gegen Naturkatastrophen.
Die Suche nach (religiöser) Sinngebung ist alt und boomt in der heutigen Zeit aufgrund der aktuellen vielfältigen gesellschaftlichen Möglichkeiten. Der Angebotsdschungel begegnet einem nicht nur auf der Straße, sondern ebenso im eigenen Briefkasten, der anders als unser E-Mail-Postfach nicht mit einem Spam-Filter ausgestattet ist. Stichwort Internet: Auch da tummeln sich natürlich viele Angebote auf den virtuellen Marktplätzen. Diese Fülle und Unübersichtlichkeit machen sich in besonderer Weise „Sekten“ zu nutze. Schon ihre Bezeichnung hat einen abwertenden Beiklang: Beim Begriff „Sekten“ denken wir automatisch an einen Glauben, der jeden anderen Weg zur Erlösung außer dem eigenen ausschließt, gelebt von einer Gruppe von Menschen, die blind einem Anführer folgen – mitunter bis in den Tod. Doch wo hört eine religiöse Gemeinschaft auf und wo fängt eine „Sekte“ bzw. konfliktreiche Gruppe an? Während sich im Christentum bereits im 19. Jahrhundert „religiöse Sondergemeinschaften“ wie die Mormomen, Adventisten und Zeugen Jehovas gebildet haben, haben wir bei „Sekten“ eher die „berühmt-berüchtigten“ Gruppen wie „Peoples Temple“ oder „Scientology“ als Beispiele vor Augen.
Nicht immer kann man all diesem aus dem Weg gehen. Denn auch im eigenen Umfeld, vielleicht sogar der eigenen Familie, werden immer mehr Menschen mit Verschwörungserzählungen, demokratiefeindlichem Gedankengut oder aufdringlichen Einladungen zu externen Gesprächskreisen konfrontiert. Wie geht man damit um, wenn Gemeinde- oder Familienmitglieder abdriften? Eine erste Hilfe leistet die Sekten-Info NRW, die Checklisten, vielfältige Materialien und aktuelle Informationen bereithält. Entscheidend ist aber auch: Häufig fehlt die Sensibilisierung, weshalb vor allem die versteckte Ideologie meist nicht erkannt wird. Tatsächlich sind „Sekten“ und neureligiöse Gemeinschaften ein Feld, das in der Religionspädagog*innen- und Pfarramtsausbildung bisher zu kurz kommt.
Dr. Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät am Seminar für Praktische Theologie/Religionspädagogik der Johannes Gutenberg Universität Mainz und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
In der Mitte der „Osterwoche“ angekommen, blicke ich zurück und nach vorn auf die beiden Evangelien des vergangenen Ostersonntags (Joh 20,1-18) und des kommenden Weißen Sonntags (Joh 20,19-31), welche die Osteroktav rahmen. In diesen Osterevangelien, die aus dem Osterzyklus des Johannesevangeliums stammen, geht es um visionäre Erfahrungen, die angesichts von Tod das Leben verkünden.
Davor und jeweils zu Beginn spiegelt sich jedoch in den Evangelienerzählungen die Karfreitagskrise – der ersehnte Messias ist tot, seine Anhängerschaft orientierungslos und verängstigt, die erwachten Hoffnungen auf ein neues Leben scheinen zerschlagen. Alles aus und vorbei?
Beim Verlust eines geliebten Menschen bricht stets eine Welt zusammen. Wo kann es da Hoffnung geben? Kann es weitergehen?
Ostern zeigt gegenüber den Todes- und Krisenerfahrungen einen Neuanfang auf – Aufbrüche angesichts von Tod und Scheitern, verschiedene Wege und Erfahrungen eines tiefer blickenden „Sehens“, inspirierende Begegnungen, visionäre Zeugnisse.
Im Osterzyklus des Johannesevangeliums sind verschiedene Ostererfahrungen erzählerisch verdichtet an zunächst einem einzigen Tag. An diesem „ersten Tag“ der Woche – der in Entsprechung zur Schöpfungserzählung (vgl. Gen 1,5) gleichsam eine neue Schöpfung einläutet – kommt am frühen Morgen Maria von Magdala zum Grab. Es herrscht Finsternis, sie sucht nach einem Toten. Noch in der Nacht machte sie sich auf den Weg, wie im Hohelied die Liebende ihren Geliebten sucht (Hld 3,1-4). Dann aber ist sie irritiert: der Stein ist weg – ist auch „der Herr“ weg, für immer verloren? Gibt es nicht einmal mehr einen Haftpunkt für die Erinnerung? Ihre Nachricht lässt Petrus und „den Jünger, den Jesus liebte“, ebenfalls zum Grab laufen. Letzterer kommt aufgrund der Zeichen, die er vorfindet, zum österlichen „Sehen“ – doch er kehrt mit Petrus „nach Hause zurück“.
Anschließend macht Maria von Magdala ihre eigene „Sehenserfahrung“ in der Begegnung mit dem Auferstanden (es ist schade, dass in der liturgischen Praxis vielerorts der Auferstandene nach dem Wettlauf der beiden Jünger keinen Auftritt mehr erhält und auch das wichtige Zeugnis der ersten Apostelin ungehört bleibt). Für diese Begegnungserfahrung ist eine doppelte Wende der Weinenden und Klagenden vom Grab als Ort der Trauer nötig, bis sie den Lebendigen – den sie in ihrem beredten Missverständnis als „Hüter des Gartens“ tituliert – erkennt. Bei dieser beglückenden Erfahrung soll sie aber wiederum nicht stehen bleiben (es geht nicht um ein Berührungsverbot), sondern erhält einen Auftrag. Ihre Verkündigung der Osterbotschaft, die in der Formulierung „ich habe den Herrn gesehen“ an prophetische Beauftragungsvisionen erinnert (vgl. z.B. Jes 6), bildet den Auftakt zur Osterwoche.
Im Erzählduktus lässt ihr Osterbekenntnis den Auferstandenen in der Mitte der Gemeinschaft der noch verängstigten Jüngerinnen und Jünger gegenwärtig werden – die „am Abend dieses ersten Tages“ dann eine analoge Erfahrung machen, welche ihre Trauer und Furcht in inspirierte Freude verwandelt. So erfüllt sich Marias Sendung. Wer könnte heute die Rolle der visionären Prophetin und Apostelin in krisengeschüttelter Gesellschaft und Glaubensgemeinschaft einnehmen?
Von dieser gemeinschaftlichen Erfahrung ist allerdings Thomas ausgeschlossen. Er beharrt in der Folge auf eigenem Sehen, scheint handgreifliche Beweise zu brauchen, weist das Zeugnis der anderen, von Jesus Gesandten zurück. Sein Anliegen ist verständlich. Wie könnte auch so unerwartet ein Happy End der erlebten Katastrophensituation eintreten?
Acht Tage darauf, am Beginn einer neuen – in die Zukunft weisenden – Woche wird ihm während einer erneuten Offenbarung des Auferstandenen eine eigene Sehens- und Glaubenserfahrung geschenkt. Demgegenüber werden spätere Generationen auf das „Buch“ (in Joh 20,30 auf das 4. Evangelium bezogen) mit all diesen Geschichten verwiesen, das wie für den Geliebten Jünger „Zeichen“ zur glaubenden Deutung bereithält und so Leben vermittelt. – Inwiefern kann dieses heute ebenso als Quelle der Hoffnung dienen?
Andrea Taschl-Erber ist Professorin für Exegese und Theologie des Neuen Testaments am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.
Seit nun zwei Wochen befinden sich Muslim*innen weltweit im Fastenmonat Ramadan. Es ist sozusagen Halbzeit. Ein Anlass, auf diese besondere vergangene Zeit für Muslim*innen zu schauen.
Dieser Ramadan ist anders. Ein Satz, der von vielen Muslim*innen zu hören ist, wenn sie ihre aktuellen Erlebnisse mit den früheren Fastenmonaten vergleichen. Dieser Ramadan ist gerade deshalb anders, weil er an die Erfahrungen vor der Corona-Pandemie anknüpft. Waren in den letzten drei Jahren gemeinsames Fastenbrechen oder Tarawihgebete nur eingeschränkt möglich, genießen viele Gläubige die zurückerhaltenen Möglichkeiten. Manch anderes Notprogramm, wie etwa digital gemeinsam den Koran zu lesen, scheint dagegen aufgrund der einfachen Handhabbarkeit die Pandemie überlebt zu haben. Dieser Ramadan ist außerdem besonders, weil er auch viele Muslim*innen mit türkischen und syrischen Wurzeln in Deutschland der erste Ramadan nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 ist, an dem viele ihre Angehörigen verloren haben. Ihnen sind nur noch die schönen Erinnerungen an vergangene Ramadane mit ihren verstorbenen Freunden und Familienmitgliedern geblieben. Diese Verlusterfahrung prägt ihren Ramadanalltag, indem oft für die Verstorbenen gebetet wird. Andere wiederum engagieren sich in der Hilfe für die Menschen in dieser Region, spenden für diese oder andere Menschen in Not, sammeln oder organisieren Hilfe. Gerade im Ramadan ist die Hilfsbereitschaft unter Muslim*innen besonders groß.
Der Ramadan 2023 ist besonders. Nach der Studie muslimisches Leben 2020 halten sich etwa 76% der befragten muslimischen Personen in Deutschland ganz bzw. teilweise an die Fastenvorschriften. Es ist überraschend, dass sich dieser Untersuchung zufolge deutlich mehr Muslim*innen in Deutschland an das Fastengebot halten als an das rituelle Gebet. Der Anteil von täglich betenden Muslim*innen liegt der Studie nach nämlich nur bei 40%. Über die Gründe kann man spekulieren, nicht abwegig erscheint dabei das Argument, dass das Fasten gerade durch das gemeinsame Fastenbrechen am Abend einen starken sozialen Charakter hat und damit die Zugehörigkeit mit der Gemeinschaft sowie die Verbundenheit mit Familie und Freunden fördert. Gerade in der Minderheitensituation scheint es in besonderer Weise identitätsfördernd zu sein und zur Stärkung der Gemeinschaft beizutragen.
Dieser Ramadan fällt auf. In den Massenmedien gab es zu Beginn des Ramadans viele Berichte, die –anders als in den letzten Jahren – deutlich wertschätzender von dieser besonderen Zeit der Muslim*innen berichtet haben. Die gelebte Praxis scheint in diesem Fall Würdigung zu erhalten, wenn von der Bischofskonferenz bis zum Bundespräsidenten Glückwünsche an die Muslim*innen veröffentlicht werden, was man durchaus als Zeichen eines diversitätssensiblen Umgangs in der Gesellschaft verstehen kann. Dieser gute Wille zeigt sich aber auch an vielen anderen Orten. Haben bis vor kurzem Muslim*innen religiöse oder politische Würdenträger zum gemeinsamen Fastenbrechen in die Moschee eingeladen, ist es heute keine Seltenheit mehr, dass u.a. Ministerpräsident*innen, Bürgermeister*innen, politische Parteien oder Kirchengemeinden die Rolle der Gastgeber*in übernehmen und eine Einladung zum Iftar an Muslim*innen aussprechen. Essen verbindet, über Religionsgrenzen oder Weltanschauungen hinweg.
Dieser Ramadan macht Hoffnung. Ohne negieren zu wollen, dass der antimuslimische Rassismus immer noch die am weitesten verbreitete Form der Diskriminierung in Deutschland darstellt, bewerte ich den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Ramadan als Zeichen, dass unsere Gesellschaft mittlerweile Fortschritte in Richtung einer Gesellschaft der Vielfalt und Kultur der Anerkennung gemacht hat, wenn auch im Tempo einer begabten Schnecke. Als Religionspädagogin stelle ich mir die Frage, ob wir diesen Umgang miteinander nicht in andere gesellschaftliche Bereiche übertragen können? So wie eine gemeinsame Iftarveranstaltung für viele Teilnehmende eine (spirituell) relevante Entdeckung bereithält, könnten nicht auch gesellschaftliche Ereignisse Anlass zu Begegnung und Austausch sein, bei denen die Andersartigkeit des Anderen gewürdigt und gegenseitige Gastfreundschaft gewährt wird, sodass es alle Menschen reicher macht?
In diesem Jahr fallen Pessach, Ostern und Ramadan an diesem (langen) Wochenende zusammen. Ich wünsche allen Christ*innen frohe Ostern und allen Menschen jüdischen Glaubens ein fröhliches Pessachfest.
Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
In zwei Wochen beginnt der Monat Ramadan. In vielen muslimischen Gemeinden und Familien hat die Vorbereitung für diese Zeit längst begonnen. Lokale Imame erinnern in den Predigten, dass der Ramadan keine Feierlichkeit ist, und kein Monat des Wettbewerbs im Vorbereiten des Essens, und insbesondere kein Wettbewerb im Verzehr dieser. Ramadan ist eine Fastenzeit, eine Zeit des Zu-sich-Kommens und die Zeit der Suche nach der Stille, in der ein Gläubiger seine Gedanken in Richtung der Schöpfung und des Schöpfers setzt.
In diesem Beitrag will ich auf vier verschiedene Dimensionen des Fastens kurz erinnern:
(1) Eine physische, in der der Verzicht auf Essen und Trinken die physische Gesundheit und die Funktionalität des Körpers in jeder Hinsicht verbessert. (2) Eine intellektuell-kognitive Dimension, in der durch das Fasten das mentale Wohl des Individuums und seine Selbstkontrolle und Selbstvertrauen gestärkt werden. (3) Eine geistige Dimension, in der der Geist des Menschen Klarheit erfährt und in der sich das Gefühl des Hungrig- und Durstigseins in das Gefühl der Freude und Dankbarkeit umwandelt. Die Fastenden verbringen mehr Zeit zusammen, indem sie in diesem besonderen Zustand das Essen vorbereiten. Die Seele erfährt durch die Gebete mehr Achtsamkeit für sich selbst und – durch die sozialen Aktivitäten in den Familien und den Gemeinden – mehr Achtsamkeit für die nahestehenden Mitmenschen. (4) Eine emotionale Dimension, die sich aus den drei genannten entwickelt: die Liebe, die Freude, das Vergnügen und die Barmherzigkeit den anderen gegenüber sollen im Ramadan durch die Zuwendung an Gott und die intensivere Annäherung an die Offenbarung gestärkt werden. Die gemeinsamen Fastenbrechen in den Familienkreisen tragen dazu maßgeblich bei.
Fasten soll immer ganzheitlich sein und erst indem man es in allen seinen Dimensionen erlebt, kann dem koranischen Gebot der „Gottesbewusstsein“ (taqwā) gefolgt werden: „O ihr, die ihr glaubt! Das Fasten ist euch vorgeschrieben, so wie es denen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr gottesbewusst werdet.“ (Q 2:183)
Das Fasten im Ramadan soll uns den Weg zu unserer eigenen Bedürfnislosigkeit zeigen. Im Ramadan erkennen wir den positiven Wert des Wortes „Verzicht.“ In seiner inneren Dimension ist Ramadan ein Monat des Verzichtes auf alles, was den Menschen tagtäglich derart beschäftigt, dass er keine Zeit für das selbstreflexive Gespräch mit der eigenen Seele und deren Annäherung an den Schöpfer findet. Durch die intensivierte Hingabe an Gott und die Offenbarung im Ramadan verzichtet man nicht nur auf das Essen und das Trinken, sondern auch – und viel wichtiger – auf alle Nebensachen, die einem im Leben die wertvolle Zeit rauben. In der Suche nach der Nähe Gottes und der Seelenruhe ersetzt man solche Aktivitäten mit sinnstiftenden Inhalten. So heißt das für jeden Serien-Junkie einen (wenn auch anteiligen) Verzicht auf Netflix, für jeden TikTok-Suchtenden einen (wenn auch anteiligen) Verzicht auf das ewige Scrollen durch die kurzen Videos, oder für jeden Fußball-Begeisterten den (wenn auch anteiligen) Verzicht auf das Viertelfinale der Champions League. Machbar, auch wenn es aufs Erste nicht einfach klingelt. Ramadan mubarak!
Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.