Religiöse Sinnsuche auf Abwegen

Endlich ist es Frühling, und das zeigt sich auch in den Innenstädten: Die Fußgängerzonen sind in diesen Wochen wieder so richtig voll, dass es kaum ein Durchkommen gibt. Die Menschen strömen in die Zentren, um sich mit Freund*innen auf ein Eis treffen, sind auf der Suche nach einem neuen Kleidungsstück oder auch einfach nur da, um zu schauen, was man alles nicht so braucht (#WindowShopping). Wenn man das in einer größeren Stadt tut – Paderborn reicht da schon aus – ist es sehr wahrscheinlich, dass man in diesen Tagen an einem besonders stark frequentierten Ort der Fußgängerzone wieder auf sie trifft. Emsige, kontaktfreudige Personen, die mit bunten Flugblättern und Büchlein eifrig und hartnäckig für ihren Glauben werben und nicht müde werden, ihre „ungläubigen“ Mitmenschen vor dem Gericht Gottes zu warnen. Gerade in Ausnahmezuständen gewinnt die Suche nach Halt an immenser Bedeutung – Menschen suchen ihn in Beziehungen, in der Politik, in der Religion. Aber je größer die Ungewissheit ist, desto attraktiver erscheinen auch vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Probleme, denn Angst ist kein guter Berater. Populismen, Verschwörungserzählungen und Formen des politischen und religiösen Extremismus erfahren insbesondere im Angesicht von Katastrophen hohe Resonanz. Wenn ein Unglück geschieht, wie vor zwei Jahren die Flutkatastrophe im Südwesten unseres Landes, oder uns eine Pandemie über Jahre beschäftigt, wissen das auch religiöse Eiferer für sich auszunutzen. Da wird Gott zu einem strafenden Gott, der uns das große Unglück schickt, auf dass wir geläutert werden. Die eigene Form der Frömmigkeit wird als einzig wirksamer Virenschutz dargestellt, ein „rechter“ Glaube an die propagierte Lehre als stabiler Damm gegen Naturkatastrophen.

Die Suche nach (religiöser) Sinngebung ist alt und boomt in der heutigen Zeit aufgrund der aktuellen vielfältigen gesellschaftlichen Möglichkeiten. Der Angebotsdschungel begegnet einem nicht nur auf der Straße, sondern ebenso im eigenen Briefkasten, der anders als unser E-Mail-Postfach nicht mit einem Spam-Filter ausgestattet ist. Stichwort Internet: Auch da tummeln sich natürlich viele Angebote auf den virtuellen Marktplätzen. Diese Fülle und Unübersichtlichkeit machen sich in besonderer Weise „Sekten“ zu nutze. Schon ihre Bezeichnung hat einen abwertenden Beiklang: Beim Begriff „Sekten“ denken wir automatisch an einen Glauben, der jeden anderen Weg zur Erlösung außer dem eigenen ausschließt, gelebt von einer Gruppe von Menschen, die blind einem Anführer folgen – mitunter bis in den Tod. Doch wo hört eine religiöse Gemeinschaft auf und wo fängt eine „Sekte“ bzw. konfliktreiche Gruppe an? Während sich im Christentum bereits im 19. Jahrhundert „religiöse Sondergemeinschaften“ wie die Mormomen, Adventisten und Zeugen Jehovas gebildet haben, haben wir bei „Sekten“ eher die „berühmt-berüchtigten“ Gruppen wie „Peoples Temple“ oder „Scientology“ als Beispiele vor Augen.

In besonderer Weise problematisch sind jedoch jene „Sekten“, die weniger bekannt und auf den ersten Blick nicht als solche durchschaubar sind. Ein aktuelles Beispiel ist die völkische „Anastasia-Bewegung“. Die Bilder ihrer „Familienlandsitze“ wirken im Internet hübsch und idyllisch, doch dahinter steckt ein rechtes Gedankengut. Die zentrale, namensgebende Figur der Bewegung entstammt der zehnbändigen esoterischen „Anastasia“-Buchreihe des russischen Autors Wladimir Megre. „Immer wieder kommen in den Büchern antidemokratische, antisemitische und rassistische Vorstellungen zum Ausdruck“, erklärt der evangelische Theologe Matthias Pöhlmann. Sie greifen uralte antisemitische Stereotype wie den vermeintlichen „Wucher“ der Jüdinnen*Juden und ihre Einflüsse auf die Finanzwelt auf; levitische Priester werden als heimliche Drahtzieher im Hintergrund dargestellt, die danach trachten, Anastasia als Erlöserfigur aus dem Weg zu räumen. Und auch die Gefahren von „Shinchonji“ sind nicht sofort erkennbar. Das „Y-Kollektiv“ des öffentlich-rechtlichen Online-Content-Netzwerks hat dazu eine sehenswerte Reportage veröffentlicht, in der YouTube-Beschreibung dazu heißt es: „Es herrscht ein dualistisches Weltbild, ein heiliger Krieg: Gut gegen Böse, Gott vs. Satan. […] Bibelkurse sollen die Lehre schmackhaft machen. Durch Tarn-Organisationen wird lange Zeit verheimlicht, dass Shinchonji dahinter steckt. Die Zielgruppe: junge Menschen.“

Nicht immer kann man all diesem aus dem Weg gehen. Denn auch im eigenen Umfeld, vielleicht sogar der eigenen Familie, werden immer mehr Menschen mit Verschwörungserzählungen, demokratiefeindlichem Gedankengut oder aufdringlichen Einladungen zu externen Gesprächskreisen konfrontiert. Wie geht man damit um, wenn Gemeinde- oder Familienmitglieder abdriften? Eine erste Hilfe leistet die Sekten-Info NRW, die Checklisten, vielfältige Materialien und aktuelle Informationen bereithält. Entscheidend ist aber auch: Häufig fehlt die Sensibilisierung, weshalb vor allem die versteckte Ideologie meist nicht erkannt wird. Tatsächlich sind „Sekten“ und neureligiöse Gemeinschaften ein Feld, das in der Religionspädagog*innen- und Pfarramtsausbildung bisher zu kurz kommt.

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Dr. Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät am Seminar für Praktische Theologie/Religionspädagogik der Johannes Gutenberg Universität Mainz und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

#Aufklärung #ReligiöseBildung #Sekten #Sinnsuche #Verschwörungsglaube #Weltanschauung

Osterwege

In der Mitte der „Osterwoche“ angekommen, blicke ich zurück und nach vorn auf die beiden Evangelien des vergangenen Ostersonntags (Joh 20,1-18) und des kommenden Weißen Sonntags (Joh 20,19-31), welche die Osteroktav rahmen. In diesen Osterevangelien, die aus dem Osterzyklus des Johannesevangeliums stammen, geht es um visionäre Erfahrungen, die angesichts von Tod das Leben verkünden.

Davor und jeweils zu Beginn spiegelt sich jedoch in den Evangelienerzählungen die Karfreitagskrise – der ersehnte Messias ist tot, seine Anhängerschaft orientierungslos und verängstigt, die erwachten Hoffnungen auf ein neues Leben scheinen zerschlagen. Alles aus und vorbei?

Beim Verlust eines geliebten Menschen bricht stets eine Welt zusammen. Wo kann es da Hoffnung geben? Kann es weitergehen?

Ostern zeigt gegenüber den Todes- und Krisenerfahrungen einen Neuanfang auf – Aufbrüche angesichts von Tod und Scheitern, verschiedene Wege und Erfahrungen eines tiefer blickenden „Sehens“, inspirierende Begegnungen, visionäre Zeugnisse.

Im Osterzyklus des Johannesevangeliums sind verschiedene Ostererfahrungen erzählerisch verdichtet an zunächst einem einzigen Tag. An diesem „ersten Tag“ der Woche – der in Entsprechung zur Schöpfungserzählung (vgl. Gen 1,5) gleichsam eine neue Schöpfung einläutet – kommt am frühen Morgen Maria von Magdala zum Grab. Es herrscht Finsternis, sie sucht nach einem Toten. Noch in der Nacht machte sie sich auf den Weg, wie im Hohelied die Liebende ihren Geliebten sucht (Hld 3,1-4). Dann aber ist sie irritiert: der Stein ist weg – ist auch „der Herr“ weg, für immer verloren? Gibt es nicht einmal mehr einen Haftpunkt für die Erinnerung? Ihre Nachricht lässt Petrus und „den Jünger, den Jesus liebte“, ebenfalls zum Grab laufen. Letzterer kommt aufgrund der Zeichen, die er vorfindet, zum österlichen „Sehen“ – doch er kehrt mit Petrus „nach Hause zurück“.

Anschließend macht Maria von Magdala ihre eigene „Sehenserfahrung“ in der Begegnung mit dem Auferstanden (es ist schade, dass in der liturgischen Praxis vielerorts der Auferstandene nach dem Wettlauf der beiden Jünger keinen Auftritt mehr erhält und auch das wichtige Zeugnis der ersten Apostelin ungehört bleibt). Für diese Begegnungserfahrung ist eine doppelte Wende der Weinenden und Klagenden vom Grab als Ort der Trauer nötig, bis sie den Lebendigen – den sie in ihrem beredten Missverständnis als „Hüter des Gartens“ tituliert – erkennt. Bei dieser beglückenden Erfahrung soll sie aber wiederum nicht stehen bleiben (es geht nicht um ein Berührungsverbot), sondern erhält einen Auftrag. Ihre Verkündigung der Osterbotschaft, die in der Formulierung „ich habe den Herrn gesehen“ an prophetische Beauftragungsvisionen erinnert (vgl. z.B. Jes 6), bildet den Auftakt zur Osterwoche.

Im Erzählduktus lässt ihr Osterbekenntnis den Auferstandenen in der Mitte der Gemeinschaft der noch verängstigten Jüngerinnen und Jünger gegenwärtig werden – die „am Abend dieses ersten Tages“ dann eine analoge Erfahrung machen, welche ihre Trauer und Furcht in inspirierte Freude verwandelt. So erfüllt sich Marias Sendung. Wer könnte heute die Rolle der visionären Prophetin und Apostelin in krisengeschüttelter Gesellschaft und Glaubensgemeinschaft einnehmen?

Von dieser gemeinschaftlichen Erfahrung ist allerdings Thomas ausgeschlossen. Er beharrt in der Folge auf eigenem Sehen, scheint handgreifliche Beweise zu brauchen, weist das Zeugnis der anderen, von Jesus Gesandten zurück. Sein Anliegen ist verständlich. Wie könnte auch so unerwartet ein Happy End der erlebten Katastrophensituation eintreten?

Acht Tage darauf, am Beginn einer neuen – in die Zukunft weisenden – Woche wird ihm während einer erneuten Offenbarung des Auferstandenen eine eigene Sehens- und Glaubenserfahrung geschenkt. Demgegenüber werden spätere Generationen auf das „Buch“ (in Joh 20,30 auf das 4. Evangelium bezogen) mit all diesen Geschichten verwiesen, das wie für den Geliebten Jünger „Zeichen“ zur glaubenden Deutung bereithält und so Leben vermittelt. – Inwiefern kann dieses heute ebenso als Quelle der Hoffnung dienen?

Andrea Taschl-Erber ist Professorin für Exegese und Theologie des Neuen Testaments am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.

#Osterevangelien #Hoffnung #Leben #MariavonMagdala

Jeder Ramadan ist ein Unikat

Seit nun zwei Wochen befinden sich Muslim*innen weltweit im Fastenmonat Ramadan. Es ist sozusagen Halbzeit. Ein Anlass, auf diese besondere vergangene Zeit für Muslim*innen zu schauen.

Dieser Ramadan ist anders. Ein Satz, der von vielen Muslim*innen zu hören ist, wenn sie ihre aktuellen Erlebnisse mit den früheren Fastenmonaten vergleichen. Dieser Ramadan ist gerade deshalb anders, weil er an die Erfahrungen vor der Corona-Pandemie anknüpft. Waren in den letzten drei Jahren gemeinsames Fastenbrechen oder Tarawihgebete nur eingeschränkt möglich, genießen viele Gläubige die zurückerhaltenen Möglichkeiten. Manch anderes Notprogramm, wie etwa digital gemeinsam den Koran zu lesen, scheint dagegen aufgrund der einfachen Handhabbarkeit die Pandemie überlebt zu haben. Dieser Ramadan ist außerdem besonders, weil er auch viele Muslim*innen mit türkischen und syrischen Wurzeln in Deutschland der erste Ramadan nach dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 ist, an dem viele ihre Angehörigen verloren haben. Ihnen sind nur noch die schönen Erinnerungen an vergangene Ramadane mit ihren verstorbenen Freunden und Familienmitgliedern geblieben. Diese Verlusterfahrung prägt ihren Ramadanalltag, indem oft für die Verstorbenen gebetet wird. Andere wiederum engagieren sich in der Hilfe für die Menschen in dieser Region, spenden für diese oder andere Menschen in Not, sammeln oder organisieren Hilfe. Gerade im Ramadan ist die Hilfsbereitschaft unter Muslim*innen besonders groß.

Der Ramadan 2023 ist besonders. Nach der Studie muslimisches Leben 2020 halten sich etwa 76% der befragten muslimischen Personen in Deutschland ganz bzw. teilweise an die Fastenvorschriften. Es ist überraschend, dass sich dieser Untersuchung zufolge deutlich mehr Muslim*innen in Deutschland an das Fastengebot halten als an das rituelle Gebet. Der Anteil von täglich betenden Muslim*innen liegt der Studie nach nämlich nur bei 40%. Über die Gründe kann man spekulieren, nicht abwegig erscheint dabei das Argument, dass das Fasten gerade durch das gemeinsame Fastenbrechen am Abend einen starken sozialen Charakter hat und damit die Zugehörigkeit mit der Gemeinschaft sowie die Verbundenheit mit Familie und Freunden fördert. Gerade in der Minderheitensituation scheint es in besonderer Weise identitätsfördernd zu sein und zur Stärkung der Gemeinschaft beizutragen.

Dieser Ramadan fällt auf. In den Massenmedien gab es zu Beginn des Ramadans viele Berichte, die –anders als in den letzten Jahren – deutlich wertschätzender von dieser besonderen Zeit der Muslim*innen berichtet haben. Die gelebte Praxis scheint in diesem Fall Würdigung zu erhalten, wenn von der Bischofskonferenz bis zum Bundespräsidenten Glückwünsche an die Muslim*innen veröffentlicht werden, was man durchaus als Zeichen eines diversitätssensiblen Umgangs in der Gesellschaft verstehen kann. Dieser gute Wille zeigt sich aber auch an vielen anderen Orten. Haben bis vor kurzem Muslim*innen religiöse oder politische Würdenträger zum gemeinsamen Fastenbrechen in die Moschee eingeladen, ist es heute keine Seltenheit mehr, dass u.a. Ministerpräsident*innen, Bürgermeister*innen, politische Parteien oder Kirchengemeinden die Rolle der Gastgeber*in übernehmen und eine Einladung zum Iftar an Muslim*innen aussprechen. Essen verbindet, über Religionsgrenzen oder Weltanschauungen hinweg.

Dieser Ramadan macht Hoffnung. Ohne negieren zu wollen, dass der antimuslimische Rassismus immer noch die am weitesten verbreitete Form der Diskriminierung in Deutschland darstellt, bewerte ich den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dem Ramadan als Zeichen, dass unsere Gesellschaft mittlerweile Fortschritte in Richtung einer Gesellschaft der Vielfalt und Kultur der Anerkennung gemacht hat, wenn auch im Tempo einer begabten Schnecke. Als Religionspädagogin stelle ich mir die Frage, ob wir diesen Umgang miteinander nicht in andere gesellschaftliche Bereiche übertragen können? So wie eine gemeinsame Iftarveranstaltung für viele Teilnehmende eine (spirituell) relevante Entdeckung bereithält, könnten nicht auch gesellschaftliche Ereignisse Anlass zu Begegnung und Austausch sein, bei denen die Andersartigkeit des Anderen gewürdigt und gegenseitige Gastfreundschaft gewährt wird, sodass es alle Menschen reicher macht?

In diesem Jahr fallen Pessach, Ostern und Ramadan an diesem (langen) Wochenende zusammen. Ich wünsche allen Christ*innen frohe Ostern und allen Menschen jüdischen Glaubens ein fröhliches Pessachfest.

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Jun.-Prof. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Juniorprofessorin für Islamische Religionspädagogik und ihre Fachdidaktik am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#Ramadan #Solidarität #Erdbeben #Diversity

Im Erwarten des Ramadans

In zwei Wochen beginnt der Monat Ramadan. In vielen muslimischen Gemeinden und Familien hat die Vorbereitung für diese Zeit längst begonnen. Lokale Imame erinnern in den Predigten, dass der Ramadan keine Feierlichkeit ist, und kein Monat des Wettbewerbs im Vorbereiten des Essens, und insbesondere kein Wettbewerb im Verzehr dieser. Ramadan ist eine Fastenzeit, eine Zeit des Zu-sich-Kommens und die Zeit der Suche nach der Stille, in der ein Gläubiger seine Gedanken in Richtung der Schöpfung und des Schöpfers setzt.

In diesem Beitrag will ich auf vier verschiedene Dimensionen des Fastens kurz erinnern:

(1) Eine physische, in der der Verzicht auf Essen und Trinken die physische Gesundheit und die Funktionalität des Körpers in jeder Hinsicht verbessert. (2) Eine intellektuell-kognitive Dimension, in der durch das Fasten das mentale Wohl des Individuums und seine Selbstkontrolle und Selbstvertrauen gestärkt werden. (3) Eine geistige Dimension, in der der Geist des Menschen Klarheit erfährt und in der sich das Gefühl des Hungrig- und Durstigseins in das Gefühl der Freude und Dankbarkeit umwandelt. Die Fastenden verbringen mehr Zeit zusammen, indem sie in diesem besonderen Zustand das Essen vorbereiten. Die Seele erfährt durch die Gebete mehr Achtsamkeit für sich selbst und – durch die sozialen Aktivitäten in den Familien und den Gemeinden – mehr Achtsamkeit für die nahestehenden Mitmenschen. (4) Eine emotionale Dimension, die sich aus den drei genannten entwickelt: die Liebe, die Freude, das Vergnügen und die Barmherzigkeit den anderen gegenüber sollen im Ramadan durch die Zuwendung an Gott und die intensivere Annäherung an die Offenbarung gestärkt werden. Die gemeinsamen Fastenbrechen in den Familienkreisen tragen dazu maßgeblich bei.

Fasten soll immer ganzheitlich sein und erst indem man es in allen seinen Dimensionen erlebt, kann dem koranischen Gebot der „Gottesbewusstsein“ (taqwā) gefolgt werden: „O ihr, die ihr glaubt! Das Fasten ist euch vorgeschrieben, so wie es denen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr gottesbewusst werdet.“ (Q 2:183)

Das Fasten im Ramadan soll uns den Weg zu unserer eigenen Bedürfnislosigkeit zeigen. Im Ramadan erkennen wir den positiven Wert des Wortes „Verzicht.“ In seiner inneren Dimension ist Ramadan ein Monat des Verzichtes auf alles, was den Menschen tagtäglich derart beschäftigt, dass er keine Zeit für das selbstreflexive Gespräch mit der eigenen Seele und deren Annäherung an den Schöpfer findet. Durch die intensivierte Hingabe an Gott und die Offenbarung im Ramadan verzichtet man nicht nur auf das Essen und das Trinken, sondern auch – und viel wichtiger – auf alle Nebensachen, die einem im Leben die wertvolle Zeit rauben. In der Suche nach der Nähe Gottes und der Seelenruhe ersetzt man solche Aktivitäten mit sinnstiftenden Inhalten. So heißt das für jeden Serien-Junkie einen (wenn auch anteiligen) Verzicht auf Netflix, für jeden TikTok-Suchtenden einen (wenn auch anteiligen) Verzicht auf das ewige Scrollen durch die kurzen Videos, oder für jeden Fußball-Begeisterten den (wenn auch anteiligen) Verzicht auf das Viertelfinale der Champions League. Machbar, auch wenn es aufs Erste nicht einfach klingelt. Ramadan mubarak!

Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#Ramadan #Verzicht #Hingabe #Fasten