Morgen ist es zu spät;[1]

Die Neubewertung der Friedenstheologie von Papst Franziskus im Lichte der aktuellen Geschehnisse


Wir erleben tagtäglich, welche wichtige Rolle die Religionen auf gesellschaftspolitischer Ebene spielen. Menschen werden aufgrund ihres religiösen und/oder ethnischen Hintergrunds diskriminiert. Es kommt zu (anti)religiös-motivierten Handlungen, die gesellschaftspolitische Auswirkungen auf internationaler Ebene haben. Politiker:innen benutzen (anti)religiös-motivierte Argumente in ihren angeblich rein politischen Polemiken. All dies zeigt, dass „Religion“ in unseren säkularisierten Gesellschaften immer noch eine wichtige Rolle spielt. Die aktuellen Geschehnisse sind Zeugnisse dafür.

Nach der Tötung eines Jugendlichen mit Migrationshintergrund, nach der Zuschreibung, seine Identität als „muslimisch“ zu lesen, kam es in Frankreich zu gewaltsamen Ausschreitungen. Dieses Geschehnis ist ein Ergebnis einer jahrelang-verleugneten rassistisch begründeten Spaltung Frankreichs.[1]

Die Koranverbrennung in Schweden am Opferfest vergangene Woche hat scharfen Protest in mehreren muslimischen Ländern ausgelöst. „Verbote von Anti-Koran-Demonstrationen waren zuvor von Gerichten mit Verweis auf die Redefreiheit aufgehoben worden.“[2] Dies hat politische Konsequenzen für Stockholm, denn Ankara kann den Nato-Beitritt Schwedens erschweren. So verschärft sich die Spannung zwischen zwei Ländern. „Ankara wirft Stockholm vor, islamfeindliche Stimmungen im Land mindestens zu tolerieren – unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit“.[3]

Die aktuellen Ereignisse in Frankreich und Schweden sollten in einem breiteren Kontext gesehen werden. In der Welt, vor allem in der westlichen Welt, werden der Islam und die Muslim:innen in den letzten Jahrzehnten überwiegend als Feindbilder stilisiert. Beispiele dafür: In den USA wurde unter Trump ein Reiseverbot erlassen, das im Wesentlichen ein „Verbot für Muslim:innen“ war, mit dem „sie“ daran gehindert werden sollten, das Land zu betreten. In Indien werden Gesetze erlassen – ermutigt durch einige religiös-nationalistische Tendenzen –, die Muslimen die Staatsbürgerschaft streitig machen. In Frankreich vertritt der Präsident 2020 als Reaktion auf ein Verbrechen, das jemand „im Namen des Islam“ begangen hat, eine negative Position gegenüber dieser Religion als Ganze und erklärt sie zu „einer Religion, die heute überall in der Welt in einer Krise steckt“ und drängt auf die Notwendigkeit, einen „Islam des Lumières“ (Islam der Aufklärung) aufzubauen.[4] Diese Reaktion des französischen Präsidenten, die eine Art Gleichstellung von „Islam“ mit „Islamismus“ implizierte, führte zu einem Wutausbruch in der muslimischen Welt und heizte die antiwestliche Stimmung wieder an. Sie brachte unter anderem den türkischen Präsidenten dazu, sein französisches Gegenüber offen anzugreifen.

Während sich gläubige Muslim:innen durch die antimuslimischen Aktionen im Westen und das Schweigen der meisten Behörden und Politiker:innen im Namen der „Meinungsfreiheit“ beleidigt fühlen, könnten die positiven Schritte von Papst Franziskus in Richtung Frieden von sehr großer Bedeutung sein. Vor allem seine jüngste Reaktion auf Koranverbrennung kann als eine sehr konstruktive Geste der Solidarität in einer Zeit der religiös-grundierten Krisen verstanden werden. „Ich bin entrüstet und angewidert von diesen Vorgängen“, sagte der Papst. Jedes Buch, das als heilig gelte, müsse, so Franziskus, aus Respekt gegenüber den Gläubigen respektiert werden. „Die Redefreiheit sollte niemals als Mittel benutzt werden, um andere zu verachten – und dies zu erlauben, sollte zurückgewiesen und verurteilt werden“.[5]

Von Beginn seiner Aufgabe als neuer Papst an hat Franziskus einige sehr wichtige Schritte für den Weltfrieden unternommen, sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene.

Die Papst-Enzyklika „Fratelli Tutti“ erschien auch zu einem kritischen Zeitpunkt, an dem die Welt einerseits mit zunehmender Islamophobie und der damit wachsenden Fremden- und Islamfeindlichkeit in der westlichen Gesellschaft, andererseits mit Islamismus und Salafismus und damit verbundenen Hassreden von der Kanzel konfrontiert war. Heute stehen wir dem erschreckenden Phänomen des wachsenden Rassismus, Nationalismus und Rechtspopulismus in der ganzen Welt gegenüber, in denen die Religionen manipuliert werden. Daher ist die aktuelle Reaktion des Papstes wie es auch seine päpstlichen Dokumente zum Thema Frieden von äußerster Wichtigkeit im gegenwärtigen kritischen politischen Klima. Sie bedeuten viel in einer Zeit, in der „Religion“ erneut in den Vordergrund gerückt wird, um wieder für politische Interessen genutzt zu werden. Die Welt scheint auf einen „Kampf der Zivilisationen/ Kulturen“ zuzusteuern, in dem „Religion“ eine wichtige Rolle spielt, um den aggressiven Diskurs über kulturelle, nationale, ethnische und sogar rassistische Überlegenheit zu befeuern.

Um diese religiös-ethnisch grundierten Spannungen zu beenden oder mindesten zu entschärfen, können und sollten die religiösen Autoritäten und Theolog:innen schnellstmöglich eine aktivere Rolle für den Frieden übernehmen. Denn, morgen ist es zu spät![6]


[1] „Blackout – Morgen ist es zu spät“ (2012) ist der Titel eines Technik-Thrillers des österreichischen Autors Marc Elsberg. Das Buch ist der SPIEGEL-Bestseller.

[1] https://www.nytimes.com/2023/07/02/france-nahel-soccer-hijab.html

[2] https://www.spiegel.de/panorama/papst-franziskus-verurteilt-koran-verbrennung-in-schweden-a-3aff16f9-f4b8-4fe8-b8e3-774deb6e1f89

[3] https://www.tagesspiegel.de/internationales/antiislamischer-protest-in-stockholm-koranverbrennung-ist-barbarisch-und-schrecklich-10062178.html

[4] Dazu mehr unter:https://www.euronews.com/2020/11/02/macron-and-islam-what-has-the-french-president-actually-said-to-outrage-the-muslim-world

[5] https://www.spiegel.de/panorama/papst-franziskus-verurteilt-koran-verbrennung-in-schweden-a-3aff16f9-f4b8-4fe8-b8e3-774deb6e1f89

[6] Die Autorin dieses Blog-Textes hat zwei Beiträge zur Friedenstheologie von Papst Franziskus, vgl.:

Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden; Der Beitrag von Papst Franziskus zum Weltfrieden. Eine Betrachtung aus muslimischer Sicht“, in Papst Franziskus: Mensch des Friedens. Zum friedenstheologischen Profil des aktuellen Pontifikats, Herder, S. 111-127, 2022.

Fratelli e sorelle tutti; Die Sozialenzyklika aus islamischer Sicht“, Amos-international 1/2021, S. 27–35.

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Dr. Seyedeh Saeideh Mir Sadri ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Islamische Systematische Theologie am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

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