Hegel ist allgemein bekannt als Autor einer monumentalen Logik, oder als Berliner Professor, dessen Vorlesungen mehrbändige Vorlesungsnachschriften zur Geschichte der Philosophie, zur Logik und Metaphysik, zur Ästhetik und zur Rechtsphilosophie veranlassten, aber nicht als Dichter. Als junger Mensch hatte Hegel aber auch einige (wenige) Gedichte verfasst, die, von ihrem literarischen Wert abgesehen, philosophisch sehr interessant sind. Ein kurzes Gedicht aus der Frankfurter Zeit enthält eine Antwort auf die Frage „Was sollen wir tun?“ und betrifft zugleich ein logisches Phänomen, das man eine „gescheiterte Transzendenz“, oder eine „Immanenz-gerichtete Transzendenz“ nennen könnte. Das Gedicht beginnt mit der Lebensanweisung:
„Brich den Frieden mit dir, brich mit dem Werke der Welt!/Strebe, versuche du mehr als das Heut und das Gestern,“
und endet mit der Angabe dessen, was passiert, wenn man der Anweisung folgt:
„so wirst du/Besseres nicht, als die Zeit, aber aufs Beste sie sein“.
Wir sollen also den Frieden mit uns selbst und mit den Bedingungen, in denen wir leben, nicht schließen sondern brechen. Gemeint ist die Anstrengung des geistigen Welt-verändern und -verbessern, d.h. der Veränderung der Welt und unserer selbst in die Richtung des Guten, Wahren, Gerechten. Das Ergebnis der Anstrengung ist ernüchternd: Unser Tun wird nichts mehr als das erreichen, was es in der Zeit, in der wir leben, schon gibt. Aber durch unsere Anstrengung wird das, was ist, in der bestmöglichen Art und Weise das sein, was es ist.
Apl. Prof. Dr. Elena Ficara ist apl. Professorin im Bereich Philosophie und Bildung an der Universität Paderborn.
In wahrlich in jeder Hinsicht bewegten und bewegenden Zeiten zwischen Unentschlossenheiten, Pseudo-Alternativlosigkeiten, Kontingenz-Overloads, Hyperrealitäten, Medientechnik-Overkill, Ungleichheiten, Weltkrisen, Fundamentalismen, Radikalismen, Populismen, Ver:Achtsamkeiten – so der Titel unserer Ringveranstaltung vom C:POP im gerade ablaufenden Wintersemester, Link: https://kw.uni-paderborn.de/cpop/aufgaben-aktivitaeten-1 – werden wir mal mehr, mal weniger gnadenlos hin- und hergewirbelt. Da überrascht es umso deutlicher, wenn wir plötzlich in zwar vorgeplanten, dennoch letztlich von Zufällen, Stimmungen und Begebenheiten abhängigen Ereignissen wie etwa popmusikalischen Performances und hier vor allem Live-Auftritten unvermutet stark be- oder gerührt werden.
Pop wird hier verstanden nicht als Genre, das historisch oftmals im Volksmund unterkomplex und wenig divers als ‚weiblich‘, ‚seicht‘, ‚eingängig‘ oder ‚künstlich‘ versus Rock als ‚männlich‘, ‚hart‘, ‚handgemacht‘ oder ‚echt‘ bezeichnet wurde, sondern als populäre Musikkultur(en) in Gänze, die niedrigschwellig funktionieren und Vergnügen evozieren, bei genauerem Hinhören, -sehen, -fühlen und manchmal auch -riechen und -schmecken gleichwohl sehr komplex oder doppelbödig werden können, für Mengen von Publika, Fans, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen. Derart kommunikativ und sozial provozieren diese Kulturen eben ‚kultürlich‘ mitunter starke Emotionen – mal hochgeplant, mal unerklärlich. Und können so durch alle Genres und Szenen hindurch Trost spenden, Gänsehäute erzeugen für die eine in Form von Playlists zur Stimmungsregulation, für den anderen eben durch die heimische analoge oder digitale Sammlung, für dritte zuvorderst im Live-Konzert mit seinen Zufällen, Improvisationen, Unwägbarkeiten und daraus resultierenden Überraschungen.
Als im letzten Jahr am 2. Juni etwa die britische Sängerin und Musikerin Beth Gibbons (u.a. Portishead) ihr einziges Deutschlandkonzert in der Berliner Uber Eats-Halle vor etwa 3000 Menschen gab, verfielen die allermeisten von ihnen in kathartisches Schluchzen, Weinen oder zumindest Schlucken. Freilich kongeniale, vielköpfige Band, Performance, Setting, eigentlich fast alles, bis auf die Musik und vor allem Gibbons‘ Stimme, waren vermeintlich unspektakulär; auch die eher zurückhaltend-nüchterne Halle. Doch schon beim ersten Song und im Verlauf des gesamten, durchaus komprimierten Konzerts wurde praktisch alles gesungen und bewirkt, was das Publikum vielleicht geahnt, aber in dieser Intensität denn doch nicht erwartet hätte: „The burden of life… Just won’t leave us alone“, sang Gibbons tieftraurig und auch brüchig im Song „Burden of Life“. Plötzlich waren um eine/n herum tatsächlich Schniefen, Schluchzen, Schlucken und glasige Augen zu erkennen. Eine Art Erlösung – manche berichteten auch vom Erlebnis, als seien sie auf einem befreienden Raumschiff gewesen, machte sich breit und tief, nicht nur im großen Block der Stehenden. Zahlreiche Gespräche nach dem Konzert, journalistische Rezensionen und Artikel schienen sich einig: Hier war etwas durch und durch Be-rührendes geschehen, Überwältigung wurde erfahren an einem zunächst nur scheinbar eben durchaus gewöhnlichen Konzertabend: „Da weinen die ersten schon“, titelte „Die Zeit“.
Ähnlich (und doch ganz anders) zog der australische ehemalige Post Punk- und Swamp Blues-Sänger, Autor und Künstler Nick Cave sein Publikum von 13000 Menschen in der Oberhausener Rudolf-Weber-Arena im Centro am 24. September in seinen Bann. Auch hier schien vieles vorab bestenfalls für die ganz treuen Fans klar. Aber dass eine derart ungemütliche riesige Konzert- und Event-Halle von dem ehemaligen Punk und Junkie Cave und seiner Band The Bad Seeds inklusive Gospel-Sängerinnen gewissermaßen egalisiert und zum beinahe religiösen Akt transformierte („Look at me now, I’am transforming“, singt Cave etwa im Song „Jubilee Street“), überraschte und überwältigte dann doch sehr. Hier beinahe drei Stunden lang verwandelte Cave auch durch seine Persona die Beton-Halle in einen Club, indem er sein Konzert fast schon un-heimlich heimlich werden ließ, auch in den oberen Sitzreihen. Beim Herausgehen aus der Halle waren vielfältige, ruhig-aufgeregte Unterhaltungen zu erhaschen, die sich um Trost, Überwältigung oder einfach nur starke Emotionalität und Caves Performance drehten: „Eleganter Surfer auf der Pathoswelle“, titelte der „General-Anzeiger“.
Alles schien für einen Moment von ca. 80 Minuten bei Beth Gibbons (Jahrgang 1965) und ca. zweieinhalb Stunden Bei Nick Cave (Jahrgang 1957) außeralltäglich, be-rührend und fast transzendent. Und das, ganz nebenbei, bei zumeist sehr erfahrenen Stars, Fans und Publika, die zeigen, dass Pop schon lange nicht mehr nur eine Jugendkultur, sondern eine intergenerationelle Trostkultur sein kann. Ich bin mir sicher, wir alle haben eine Beth Gibbons oder einen Nick Cave ‚bei und für uns‘. Erst im anschließenden Nahverkehrs- oder Parkhausgepöbel wutbürglicher Stumpfheit und Aggression verflogen Trost, Gemeinschaft, Be-Rührung und Ekstase, aber nur vorübergehend…
Foto: CJ, Mond über Spiekeroog
Prof. Dr. Christoph Jacke ist Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Dort leitet er den Studiengang „Populäre Musik und Medien“ (BA/MA). Zudem ist er stellvertrender Sprecher des Instituts für Kunst, Musik, Textil und des Fachs Musik sowie stellvertretender Geschäftsführer Direktor und Vorstandsmitglied des „C:POP – Transdisciplinary Research Center for Popular Music Cultures and Creative Economies“.
Geflüchtete, Frau mit Migrationsgeschichte, Sex-Sklavin, Leihmutter, alleinerziehende Mutter eines Sohnes: die biblische Figur Hagar, von der im ersten Buch in der Hebräischen Bibel (Genesis), berichtet wird, ist alles das und viel mehr. Ihre Geschichte ist kurz. In Gen 16 erfährt man, dass Abram und Sarai (später umbenannt zu Abraham und Sara) kein Kind bekommen können und deshalb Hagar als Mutter für einen Sohn benötigen. Hagar dient in ihrem Haushalt und stammt aus Ägypten. Ihr Kind Ismael ist dann der Erstgeborene Abrahams. Ismael wird jedoch zusammen mit seiner Mutter verstoßen, als Sarai in Gen 21 doch noch schwanger wird und Isaak zur Welt bringt.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist Hagars Geschichte in der hebräischen Bibel eine ganz besondere. Die Autoren nutzen nämlich die unterschiedlichsten literarischen Bezüge, um Hagar – eigentlich eine Nebenfigur in der großen Geschichte der Erzeltern – zu porträtieren. Zweimal geht Hagar in die Wüste und trifft dort auf Gottes Boten und göttlichen Beistand. In Gen 16 erhält sie ein göttliches Versprechen von großer Nachkommenschaft, das dem göttlichen Versprechen an Abraham ähnelt. In Gen 21 werden sie und ihr Sohn gerettet, sie erhalten Wasser in der Wüste und einen göttlichen Zuspruch, den sonst nur wichtige männliche Figuren bzw. Propheten in der Hebräischen Bibel erhalten: „Fürchte dich nicht.“ Wüste, Wasser, eine Gottesbegegnung, eine göttliche Geburtsankündigung, ein Erstgeborener in Gefahr, göttlicher Zuspruch und göttliche Hilfe, Gott einen Namen geben … alles diese bedeutsamen Zuschreibungen zeigen, dass Hagars kurze biblische Geschichte keinesfalls nebensächlich ist, sondern dass die Autoren dieser Passagen Hagar sogar mit Abraham vergleichen. Und auch im Quran wird Hagar eine Rolle spielen.
Etwas Besonderes ist auch, dass es den Autoren gelingt, Hagar so zu porträtiert, dass sie über die Zeiten hinweg bis heute ein Spiegel ist für Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten. Menschen aller Art – und besonders Frauen – sehen in Hagars Schicksal Parallelen zu ihrem eigenen. Menschen aller Art finden in ihr die Kraft und die Zuversicht, um die sie selbst noch ringen.
Prof. Dr. Claudia D. Bergmann vom Institut für Evangelische Theologie beginnt in diesem Semester mit Forschungen zur Rezeptionsgeschichte der Hagar-Figur. Sie sollen perspektivisch in einer Publikation münden, die Bergmann und ihr amerikanischer Kollege Thomas R. Blanton verantworten, und die der Nachfolgeband des gerade erscheinenden Sammelbandes Imitating Abraham: Ritual and Exemplarity in Jewish and Christian Contexts (Brill 2025) sein wird. Alle, die Interesse an der Hagar-Figur und ihrer Geschichte haben, können ein Stück weit am Projekt teilhaben:
Das Oberseminar am Institut für Evangelische Theologie bietet am 23.04. und 07.05. eine kleine Vorlesungsreihe in englischer Sprache zu den Figuren Sara und Hagar an. Das geschieht in Kooperation mit dem ZeKK und Lehrenden und Studierenden der John Carroll University und dem Tuohy Center for Interreligious Understanding (USA), die jeweils für einen Teil der Abende digital zugeschaltet werden (siehe dazu das verlinkte Plakat).
Wer nach dieser Vortragsreihe noch mehr zu Sara und Hagar erfahren will, hat im Wintersemester 2025/26 Gelegenheit dazu. Dann bietet Bergmann ein Blockseminar mit einem Workshop vom 07.-08.11.2025 an. Auch hier wird es Gelegenheit zur Teilnahme in Präsenz und per Zoom geben.
Prof. Dr. Claudia D. Bergmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.
Jürgen Habermas hat einmal treffend festgehalten, dass bei der Übersetzung des Begriffs der Sünde in den Begriff der Schuld etwas verloren gegangen ist. ‚Schuld‘ meint vor allem die persönliche Verantwortung für Verstöße gegen Recht und Moral. ‚Sünde‘ aber greift tiefer. Über individuelle Verfehlungen hinaus verweist sie auf gestörte Beziehungen: zwischen Menschen untereinander – und zwischen Mensch und Gott.
In diesem relationalen Sinne zeigt sich Sünde als zerstörerische Dynamik der Selbsterhebung – das Sich-Über-Andere-Stellen –, die nie nur einzelne Opfer trifft, sondern das soziale Gefüge insgesamt gefährdet. Die Taten anderer gehen uns etwas an, selbst wenn wir die Augen vor ihnen verschließen wollen. Die Flucht vor der eigenen Verantwortung wird unweigerlich zur Mittäterschaft.
In den extremen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit schieben wir die Verantwortung positiv wie negativ oft gerne öffentlichen Akteuren zu, ohne unsere notwendige Mittäterschaft zu reflektieren. Es ist eine Sache, massive Aufrüstung und Wehrhaftigkeit zu fordern, eine andere, ob wir bereit wären, unser eigenes Leben oder das unserer Kinder für mehr Wehrhaftigkeit einzusetzen. Es ist das eine, eine offene und humane Migrationspolitik zu wollen, eine andere, die eigene (Frei-)Zeit auf das gelingende Zusammenleben konkreter Menschen verschiedener Herkünfte zu verwenden.
In den Widersprüchen dieser Fragen, die die allgemeine Situation mit unserem Leben verbinden, wird erst klar, wie es wirklich um die Welt steht. Erst im Ansichtigwerden der eigenen Verantwortung und der Weigerung, sie zu übernehmen, im Angesicht des eigenen Scheiterns, der (unbeabsichtigten) Selbsterhebung über andere – sei es aus Trägheit, Neid, Habgier, Eitelkeit, Völlerei, Lust oder Zorn – wird das ganze mich betreffende Ausmaß der Lage der Menschheit sichtbar.
Das Museum für Kommunikation in Berlin hat den sieben der christlichen Tradition entstammenden und zuvor genannten Todsünden eine bemerkenswerte interaktive Ausstellung gewidmet, die diese im Zusammenhang mit social media reflektiert. Das Projekt zitiert Reid Hoffmann, Gründer des sozialen Job-Netzwerks Linkedin, mit dem Satz: „Soziale Netzwerke sind am erfolgreichsten, wenn sie eine der sieben Todsünden triggern.“ Und tatsächlich: Die Mechanismen von social media – ständiges Vergleichen, Selbstdarstellung, Wut- und Empörungszyklen – verstärken gezielt diese ‚Todsünden‘. Sie schaffen für uns oft nicht mehr durchsichtige Abhängigkeiten, ein unkontrolliertes ‚Dranbleiben‘. Neben zweifellos positiven Aspekten entfremdet uns social media im gezielten Aufbau dieser Abhängigkeiten von der realen Verantwortung füreinander und ersetzt diese durch ein nur anscheinendes Fürmichsein.
Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff ‚Sünde‘ als ein erstaunlich zeitgemäßes Instrument der anthropologischen Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften wiederentdeckt werden. Theologisch im Horizont gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten durchdacht, ließe sich ‚Sünde‘ nicht zuerst als moralischer Ausdruck, sondern als Kategorie der Diagnostik sozialer und spiritueller Pathologien begreifen. ‚Sünde‘ beschreibt dann die Zerstörung des Vertrauens der Menschen ineinander, die mit der Zerstörung des Grundvertrauens in die Welt als gute Schöpfung Gottes verschränkt ist. Dieses Grundvertrauen kann mit dem Begriff des Glaubens übersetzt werden, der bereits bei Paulus das Gegenstück zur Sünde darstellt.
Quelle: KI-generiertes Bild
Prof. Dr. Aaron Langenfeld, Dr. theol. habil., ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.