Übergänge gestalten

Als Religionspädagogin und Praktische Theologin bin ich besonders sensibilisiert für Ritualtheorie. Deshalb nehme ich Übergänge von einer Zeit in die andere immer besonders intensiv wahr und sie regen mich zur Reflexion an. Nun befinde ich mich selbst in einem Übergang, denn die Doktorarbeit ist abgegeben und die Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin endet bald. Auch jenseits von meiner individuellen Situation erlebe ich Übergänge. Gerade wechselt der Herbst in den Winter, evangelisch endet mit dem Toten- oder Ewigkeitssonntag das alte Kirchenjahr und am kommenden Sonntag wird am ersten Adventssonntag der Beginn des neuen Kirchenjahres gefeiert, als Ankunftserwartung vor Weihnachten.

Übergänge vollführen Menschen ständig, nicht nur jahreszeitenbezogen oder religiös. Gerade fühlt es sich politisch so an, als wären wir kollektiv mitten in einer „rite de passage“ (vgl. Arnold van Genneps Aufteilung in Ablösungs-, Zwischen- und Integrationsphase oder Victor Turners rituelles Dazwischen). Wir spüren die Liminalität, den Übertrittsprozess von einem nicht mehr vorhandenen Zustand in einen mit Erwartungen oder Ängsten verbundenen, unbekannten zukünftigen Zustand. In Deutschland ist die eine Bundesregierung nicht mehr vollständig im Amt, die neue Bundesregierung wird erst im Februar gewählt. Auf globaler Ebene sind Menschen weltweit seit dem eindeutigen US-Wahlergebnis am 5. November in (an)gespannter Erwartung der offiziellen Ernennung des neu gewählten Präsidenten Ende Januar. Wir wissen nicht genau, was uns in der neuen politischen Zeit, in der neuen Phase erwartet und können lediglich versuchen, den Übergang aufmerksam mitzuverfolgen und die Initiationsrituale, die politisch sehr gezielt inszeniert werden, zu reflektieren.

Auch universitär gibt es ständig mehr oder weniger rituell begangene Übergänge, sei es für Studierende, Lehrende, Menschen in Qualifikationsphasen oder nicht-wissenschaftliche Mitarbeitende. Die Immatrikulation in einen Studiengang gehört für Abiturient*innen oft zum Übergang von der Jugend in das junge Erwachsenenalter. Das Ende des Bachelors ist für viele Studierende zugleich der Beginn des Masters, das Praxissemester stellt gerade für Lehramtsanwärter*innen den Übergang des Erwerbs von Theoriewissen zu Praxisanwendung dar (vgl. Malte Klings Dissertation von 2017 „Das Praxissemester als Übergang. Eine praktisch-theologische Untersuchung des Rollenwechsels von Studierenden zu Lehrenden“). Lehrende erleben sehr bewusst den Anfang und das Ende der Vorlesungszeit als Übergänge; ersterer bedeutet mehr Zeit in Seminarräumen und Hörsälen, letzterer bringt Lehrende durch Korrekturen von Studienleistungen und eigene Forschung mehr an die Schreibtische. Auch Promovierende oder Habilitierende erleben Übergangsphasen, wenn z. B. die Doktorarbeit oder Habilitationsschrift abgegeben ist, aber die Disputation oder der Habilitationsvortrag noch bevorsteht. Ein*e neue*r Mitarbeiter*in kommt, gibt einen Einstand, während eine andere Person ein Institut verlässt und sich nach der Schlüsselabgabe neuen Zielen widmet. Selbst solche profane Übergangskommunikation wie die wiederkehrende Mail des Präsidiums zu Jahresendregelungen mit Bestellschluss, Abrechnungshinweisen und Schließzeiten können insofern rituellen Wert haben, da sie jedes Jahr vom Alten ins Neue weisen.

Alle diese Übergänge werden von Menschen an der Universität performt, teils bewusst zelebriert – wie das 15. Jubiläum des ZeKKs – , teils nur individuell oder in kleinem Kreis wahrgenommen. Angesichts der Vielzahl der universitär wie global erlebten Übergänge bietet es sich m. E. theologisch und kulturwissenschaftlich an, den Wert des bewussten Gestaltens und Reflektierens der Rituale im Kleinen wie im Großen herauszustellen. Denn wir gewinnen durch das bewusst performte Erleben von Übergängen nicht nur Halt; wir können Kraft schöpfen aus Wiederkehrendem und Gemeinschaft fördern, statt nur auf das Ungewisse zu warten. Auf dass wir uns alle immer wieder bewusst machen, welche Schwellen wir individuell oder institutionell überschreiten!

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Die „Schwestern vom Kostbaren Blut“ in Paderborn Neuenbeken und die Aufarbeitung ihrer kolonialen Vergangenheit

Am Arbeitsbereich Neure/Neueste Geschichte der Universität Paderborn entsteht seit 2022 ein studentischer Blog Paderborn Postkolonial, in dessen Rahmen Studierende sich mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes von Stadt und Region beschäftigen. Bei dieser Beschäftigung stößt man sehr rasch auf die zahlreichen Missionsorden, die in und um Paderborn ansässig waren und von hier aus Ihre Missionar*innen in alle Welt ausgesandt haben, z.B. die Jesuiten. Es gab aber auch Frauen-Missionsorden in der Region. In Neuenbeken siedelten sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Schwestern vom kostbaren Blut an, die 1885 im Kloster Mariannhill in Südafrika gegründet worden waren. Sie unterhalten in Neuenbeken bis heute auch ein Missionsmuseum mit Mitbringseln, Geschenken und anderen Gegenständen aus ihren Einsatzorten auf der ganzen Welt, das nach Anmeldung besichtigt werden kann.

Nach der ersten Kontaktaufnahme von Seiten des Arbeitsbereichs Neuere/Neueste Geschichte stellte sich schnell heraus, dass die Schwestern großes Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer Geschichte haben. Mehrmals konnten wir sie mit Studierenden besuchen, das Museum studieren und ins Gespräch über die Mission in Vergangenheit und Zukunft kommen. Dieser Austausch war und ist geprägt von gegenseitigem Respekt und Interesse, so unterschiedlich die Teilnehmenden auch sind. Immer wieder scheinen aber auch die Schwierigkeiten durch, die die Auseinandersetzung mit den kolonialen Verstrickungen der Mission für die Schwestern bedeutet, z.B. wenn es um das uns heute ganz fremde Missionsverständnis am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts geht oder um die Sprache der ordenseigenen Publikationen in der Zeit des Nationalsozialismus: Für die Schwestern ist die Erinnerung an ihre Gründung und die frühen Jahre wichtiger Teil ihrer Identität, und so ist es eine echte Herausforderung, Strukturen und Praktiken kritisch aufzuarbeiten, dem sich die Schwestern jedoch engagiert stellen.

Wenn wir als Historiker*innen die Vergangenheit des Ordens erforschen wollen, dann brauchen wir dazu Quellen. Einiges davon liegt publiziert vor, z.B. in dem reich bebilderten Band „Gute Erde. Missionsschwestern vom Kostbaren Blut. Pionierinnen: 1885 – 1910“ von Schwester Annette Buschgerd aus dem Jahr 2017. Darüber hinaus teilte die Autorin auch Exzerpte aus Quellen mit uns, die sie im Ordensarchiv im Mutterhaus im niederländischen Aarle-Rixtel angefertigt hat. Zuletzt stellten die Schwestern uns sogar ihre Bestände von zwei Missionszeitschriften zur Digitalisierung zur Verfügung: die „Caritas-Blüten“ und das „Vergissmeinnicht“. Für die erste ist die Digitalisierung durch die Universitätsbibliothek Paderborn inzwischen abgeschlossen, für die zweite wird das in Kürze der Fall sein. Die Zeitschriften liegen nun also über der Katalog der UPB elektronisch vor und sind nutzbar für die historische Forschung.

Auf dieser Basis und unterstützt von Schwester Annette konnte die Studentin Aminah Schneider einen Blogbeitrag Missionsschwestern vom Kostbaren Blut (Mariannhiller Missionsschwestern): Neuenbekens Rolle in der Mission schreiben. Außerdem sind inzwischen eine Masterarbeit und eine Bachelorarbeit in Arbeit, deren Ergebnisse wir mit Spannung erwarten. Mit dem Seminar „Mission und Kolonialismus im 19. Jahrhundert“ (Prof. Dr. Nicole Priesching/Prof. Dr. Korinna Schönhärl) werden wir die Schwestern auch bald schon wieder besuchen – Interessierte können sich dieser Exkursion gerne anschließen und sich bei Korinna Schönhärl dazu anmelden.

Text zum Foto: Sr. Philippine und die ersten missionierten Schülerinnen der Missionsniederlassung Mariannhill 1885: Die bewusst arrangierte Anordnung hebt die zentrale Rolle der Schwester hervor, während die Schülerinnen in gereihter Formation die
eindeutigen Hierarchien verdeutlichen. Quelle: Buschgerd, Gute Erde, S.31.

Verschwundene Hoffnung? – Gedanken zur Transformation der Apokalyptik

Bei den Recherchen zu meiner Dissertation zur Johannesapokalypse stoße ich immer wieder auf verschiedene Vorstellungen vom Begriff „Apokalypse“. Eines fällt dabei schnell auf: Er hat im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren und wird heute oft in einem ganz anderen Kontext verwendet als in seiner ursprünglichen Bedeutung. Ein kurzer Einblick in die Blütezeit der Apokalyptik am Beispiel der Johannesapokalypse sowie ein Vergleich mit der gegenwärtigen Verwendung sollen dies verdeutlichen.

Doch was genau ist eine „Apokalypse“? Der Begriff „Apokalypse“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen (ἀποκάλυψις/apokalypsis) und bedeutet „Offenbarung“ oder „Enthüllung“. Als die Apokalypse schlechthin prägte das erste Wort der Offenbarung des Johannes – die einzige Apokalypse im neutestamentlichen Kanon – eine ganze literarische Gattung (zur apokalyptischen Literatur zählen z.B. auch die Kapitel 7-12 des Buches Daniel des Alten Testaments sowie die apokryphen Apokalypsen, bspw. das Äthiopische Henochbuch (1 Hen), die Apokalypse des Baruch (2 Bar) oder das 4. Buch Esra (4 Esr)). Im biblischen Sinn bezeichnet der Begriff vor allem die Offenbarung göttlicher Geheimnisse – insbesondere im Hinblick auf zukünftige Ereignisse, dem Ende der gegenwärtigen Welt, dem Kommen des göttlichen Reiches und der Parusie (der Wiederkunft Christi). So werden im biblischen Buch der Offenbarung (auch „Apokalypse des Johannes“ genannt) eindrucksvolle Visionen vom göttlichen Gericht (vgl. Offb 14-18) und von der Entstehung einer neuen, gerechten Welt geschildert (vgl. Offb 20-21). Zentral in diesen Darstellungen ist der Gedanke der Hoffnung: Den Schwachen wird hier die Aussicht auf göttliche Rettung und Erlösung nach einer Zeit der Bedrängnis und Prüfung verheißen. Durch die Verkündigung göttlichen Eingreifens und das Versprechen eines endgültigen Endes des Bösen (im Fall der Johannesapokalypse das als Babylon chiffrierte Rom; vgl. Offb 17-18) soll die Johannesapokalypse trösten und zum Ausharren ermutigen. In genau dieser bedrohlichen Situation sollen die Menschen auf die Wiederkehr Christi warten und in Gottes Wirken vertrauen. So steht nicht primär das Ende der Welt im Fokus, sondern die Schaffung einer neuen, heilen Welt (so auch die Klimax in Offb 20-22). Durch diese subversive Kontrastwelt, in der Gott über das mit dämonischen Mächten gleichgesetzte politisch unterdrückerische Rom siegt (vgl. bes. Offb 13), wird eine Heterotopie geschaffen, in der die Schwachen die Siegenden sind.

Wirkmächtig waren in der Rezeptionsgeschichte aber v.a. die Bilder des göttlichen Gerichts, die sich in den drei Siebenerreihen offenbarten: Die sieben Siegel (Offb 6,1-8,1), die sieben Posaunen (Offb 8,2-9,21; 11,15-19) und die sieben Schalen (Offb 15,1-16,21). Unser heutiges Verständnis von Apokalypsen wurde stark auf eben diesen zerstörerischen Aspekt reduziert und häufig mit Katastrophen und dem finalen Weltuntergang gleichgesetzt. Der Begriff verweist meist auf destruktive Szenarien wie großflächige Naturkatastrophen, Kriege, Klimakatastrophen oder andere existenzbedrohende Ereignisse.

Denkt man an apokalyptische Filmproduktionen, stößt man direkt auf den Kriegsfilm Apocalypse Now (1979), bei dem sich der Titel auf die Grundstimmung des Films und die verheerenden Auswirkungen des Vietnamkriegs bezieht. Aber auch die Zombie-Apokalypse ist längst zu einem geprägten Motiv der Literaturwelt geworden, welchem sich u.a. die 2010 erschienene US-Serie The Walking Dead bedient, in der die Gesellschaft unter dem Ansturm eines globalen Zombievirus zusammenbricht. Auch der post-apokalyptische Film „I Am Legend“ (2008) greift das Motiv der Zombie-Apokalypse auf, indem der Protagonist (gespielt von Will Smith) als einer der letzten überlebenden Menschen die Verantwortung dafür trägt, ein Heilmittel gegen das Zombievirus zu finden bzw. dieses an die Überlebenden zu übergeben. Der Kampf um das Überleben der Menschheit wird zum Hauptanliegen der erzählten Welt. Ein göttlicher Heilsplan, wie er für jüdisch-christliche Apokalypsen ausschlaggebend ist, fehlt gänzlich. Das Ende wird hier als Folge unkontrollierter und oft chaotischer Ereignisse dargestellt, die durch menschliche Fehlentscheidungen oder Naturkatastrophen ausgelöst werden. Der Weltuntergang erscheint als unausweichlich, ohne die Aussicht auf ein göttliches Eingreifen oder eine letzte Rettung. Oder anders ausgedrückt: Während die Dystopie in Hollywoodfilmen auf die Apokalypse folgt, ist die Dystopie in der religiösen Apokalyptik bereits gelebte Gegenwart. Während moderne Apokalypsen in erster Linie Furcht und Schrecken erzeugen, vermitteln biblische Apokalypsen in besonderem Maße Hoffnung. Es geht um die Überwindung der jetzigen als ungerecht empfundenen Welt und um die göttliche Zusage einer besseren, gerechten Welt, wie ein Blick in Offb 21,4 zeigt:

Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.

Das Bild wurde am 10.11.2024 mit dem Programm https://designer.microsoft.com/image-creator KI-erstellt.

DIE WUNDE MUSS IMMER BLUTEN

Der Mittelpunkt der Welt ist Jerusalem, יְרוּשָׁלַיִם.[1]

Dies ist für Muslime der Fall, zumindest ist es für sie ein Mittelpunkt der Welt. In den ersten Jahrzehnten nach der Etablierung des Islam jedenfalls beten Muslime in Richtung dieser Heiligen Stadt alquds, القدس.

Für Juden ist Jerusalem ohne Frage der Mittelpunkt der Welt. Aber auch für Christen ist Jerusalem der Mittelpunkt der Welt.

Jesus selbst allerdings identifiziert den Tempel, und damit אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל , das «Land», und damit auch «Israel», mit sich selbst (Joh 2,19), so dass es naheliegt, die «Erwählung des Volkes Israel» nicht auf einen Landstrich auf der Erdoberfläche zu beziehen, sondern auf eine Person. So dass das Heil, wenn es von «den Juden kommt» (Joh 4,22), schon rein sprachlich nicht gleichzeitig nur für «die Juden» gedacht sein kann.

Nimmt man die unterschiedlichen alttestamentlichen oder modernen Gesetzgebungen in den Blick, so ist es auch nicht ganz einfach, wie man Jüdisch-Sein definieren soll: Bezieht es sich auf eine biologische Rasse? Hier geraten die in der jüdischen Geschichte einander abwechselnden matrilinearen und patrilinearen Abstammungsvorstellungen leicht in einen Konflikt. Oder sind Juden auch diejenigen Nichtjuden, die den jüdischen Glauben durch die Beschneidung angenommen haben? Mit anderen Worten: Wer genau waren die Menschen, denen die Balfour Declaration im Jahr 1948 “in Palestine … a national home for the Jewish people“ zuweist?

Rasch merkt man, wie man in sprachliche Paradoxien gerät.

Auch was der Begriff eines «ausgewählten Volkes» besagt, ist nicht immer ganz klar. In der Torah steht davon nichts. Verschiedene ähnlich klingende Formulierungen im Tanakh oder der jüdischen Liturgie jedenfalls weisen in ihrer Rede von einer Besonderheit, עם סגלה, am segullah (geschätztes Volk), אֲשֶׁר בָּֽחַר בָּֽנּו, ascher bachar banu (der uns erwählt hat) eher auf eine Funktion: אור לגויים, or la-goyim (Jes 49,6) – ein Licht für die Völker!

Sicher ist, dass Gott «den Kindern Abrahams ein Volk» verheißen hat (Röm 11,2) – und zwar beiden Kindern, nicht nur Isaak (Gen 21,12), sondern auch Ismael (Gen 21,13). Und nicht die beiden Knaben streiten miteinander, sondern ihre Mütter … (Gen 16,4f.; 21,10).

Sogar Christen ist etwas verheißen: Das Reich Gottes. Erwachsene erlangen es unter bestimmten Bedingungen; die Bergpredigt zählt dazu Arme, Verfolgte und solche, die das und das tun. Auch Kindern sagt Jesus das Reich Gottes zu; ihnen aber einfach so – ganz ohne Grund (Mk 10,14).

II

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem.

In Jerusalem, im Heilgen Land und in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens (der Eurozentrismus dieser Redewendung bewirkt bereits Verzerrungen) liegen alle miteinander im Streit.

Nicht in erster Linie – wie es die Medien den Menschen einflüstern – Juden und Muslime. Auch gegenüber Christen kommt es von staatlich-israelischer Seite immer wieder zu Schikanen.

In der Kirche Vom Heiligen Grab kommt es zu Schlägereien zwischen den Mönchen verschiedener christlicher Konfessionen. Wegen dieser Streitigkeiten werden die Schlüssel zur Grabeskirche nicht von ihnen verwahrt, sondern von zwei muslimischen Familien.

In Jerusalem, genauer: «nahe bei der Stadt» (Joh 19,20), ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Die schon rein sprachlichen Komplikationen, in die das Sprechen von den Juden, von den Christen, von den Muslimen an diesem einen, «auserwählten» Ort führt, finden ihr Spiegelbild in der Paradoxie der sich schneidenden Vertikalen und Horizontalen des KreuzesJesu.

Und wenn im Verlauf dieser Kreuzigung «Wasser und Blut aus seiner Seite fließen» (Joh 19,33), stirbt er nicht nur für einige wenige «Auserwählte», sondern «pro multis», wie es die katholische Liturgie singt; für «die Vielen» also, die, nach semitischem Sprachverständnis, nicht durch eine Selektion (Juden schaudert bei diesem Begriff!) bestimmt sind, sondern durch das Umfassen aller.

III

Der Bezugspunkt der ganzen Welt liegt also in Jerusalem.

Kann es angesichts solcher semantischer Verwicklungen verwundern, dass Jerusalem bleibender Bezugspunkt bitterster Bedrohungen «bis ans Ende der Welt» bleiben muss?

Wenn Juden sich in und nach den Gaskammern des Holocaust (Ps 50,21 Vulgata!) nach Palästina (also nach Jerusalem) sehnen – denken sie dabei nur an einen geographischen Zufluchtsort, oder ringt hier eine tiefere Sehnsucht um Ausdruck?

Wenn bestimmte Gruppen der Hamas (also nicht die Ḥarakat al-Muqāwamah al-‘Islāmiyyah) jüdische Menschen (mit ganz verschiedenen Reisepässen) verschleppen – geht es dabei nur um die nakba und alquds, oder lassen solche Taten in tiefere Abgründe blicken?

Wenn israelische Soldaten arabische Menschen zu Zehntausenden töten, weil einige wenige unter ihnen eine wirkliche Bedrohung darstellen könnten – handelt es sich dabei um eine Militäroperation (ein interessanter Begriff, der auch in anderen Zusammenhängen der Gegenwart eine Rolle spielt) von Juden gegen Muslime? Werden nicht auch christliche Araber in gleicher Weise erschossen?

Und sterben dabei nicht auch Kinder? Die, die Jesus der Zugehörigkeit zum Reich Gottes versichert hatte? Arabische christliche und muslimische Kinder, die sterben müssen, weil andernfalls aus ihnen «palästinensische Terroristen» werden? So wie vor achtzig Jahren jüdische Kinder sterben mussten, weil sonst aus ihnen «jüdische Bolschewisten» geworden wären?

IV

Die Wunde der Welt heißt Jerusalem – der Mittelpunkt der Welt.

In Jerusalem zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie jederzeit und überall auf der Welt ihr wahres Gesicht aufdecken können: im ständigen Gefühl, bedroht zu sein, zerrissen von Angst, voller Hass, entwürdigt von ihrer eigenen Niedertracht. Eine unstillbare blutende Wunde.

In Jerusalem zeigt sich auch Jesus Christus, wie er wirklich ist. Immer wieder aufs Neue erschossen in den unschuldigen jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, lässt er sich töten «für die Vielen». In Jerusalem zeigt sich Jesus Christus, wie er wirklich ist. In Jerusalem nimmt Jesus Christus die Menge der unsagbaren Taten der Menschen überall auf der Welt auf sich selbst und öffnet seine Wunde, damit Blut und Wasser heraustreten.

Darum muss die Wunde immer bluten. Damit durch diese Wunde (Jes 53,5) die Welt «heil» – سلام, שָׁלוֹם – wird.

Weil Gott im Angesicht des Hasses Heil wirkt.

Weil er durch Wunden Wunder wirkt.

Darum muss die Wunde immer bluten.


[1] Vgl. die Skulptur יְרוּשָׁלַיִם מֶרְכַּז הָעוֹלָם (Jerusalem as the Center of the World) von David Breuer-Weil (2013).