„Multikulti“ in der Antike

Wer in den Wochen vor der Wahl in Thüringen oder Sachsen unterwegs war, konnte auf den Wahlplakaten einer Partei den Slogan „Schluss mit Multikulti“ lesen. Vorausgesetzt wurde von den Machern dieser Plakate, dass die multikulturelle Gesellschaft eine neuartige Erfindung sei, vielleicht sogar etwas, was man mit dem Schimpfwort „woke“ betiteln kann, und das deshalb abzuschaffen ist. Zurück zum Alten, würden Vertreter:innen dieser Partei wohl propagieren, und die vermeintlich neuartige multikulturelle Gesellschaft gerne wieder abwickeln. Als die Studierenden des Instituts für Evangelische Theologie im August die Museumsinsel in Berlin besuchten und sich auf die Spuren der Bibel und der Religionen im alten Orient begaben, stellten sie u.a. fest, dass „Multikulti“ keinesfalls eine neuartige Erfindung ist. Zum Kontext: Die antiken Völker im Mittelmeer-Raum und weiter östlich bis nach Persien standen über Jahrtausende in regelmäßigem Austausch. Selten ging es um kulturelles Interesse am Anderen, stattdessen meist um politische Vorherrschaft und gewinnbringenden Handel. Regelmäßig bekriegten sich die Hochkulturen der Hethiter, Assyrer, Babylonien, Perser, Griechen, Römer und Ägyptern, in unterschiedlichen Kombinationen, jedoch meist auf dem Gebiet des heutigen Israel/Palästina. Der sogenannte Fruchtbare Halbmond, ein sichelförmiges geographisches Gebiet mit dem Nil im Westen, der Levante im Zentrum und den Zwillingsflüssen Euphrat und Tigris im Osten, war nicht nur vielbetretener Handelsweg, sondern auch der Schauplatz zahlreicher grausamer Vernichtungsfeldzüge. Und trotz aller Konflikte fand im Fruchtbaren Halbmond religiöser und kultureller Austausch statt, und zwar in einem Umfang, der aus heutiger Sicht erstaunt. Das beste Beispiel dafür: die Flussinsel Elephantine. Sie ist nur 1,2 Kilometer lang und 400 Meter breit, befand sich aber ideal gelegen auf dem günstigsten und sichersten Handelsweg Ägyptens, dem Nil, und im Grenzland zu den südlicher gelegenen afrikanischen Nachbarn. Auf ihr lebten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammen: Menschen aus Ägypten, Nubien, Syrien, Äthiopien, den hellenistischen und römischen Weltreichen, aus Makedonien, Assyrien und Kush, dazu Aramäer und Judäerinnen, Caspier und Araberinnen. Die kleine Insel Elephantine gab diesen Menschen ein kosmopolitisches Zuhause. Sprachen, Kulturen und Religionen mischten sich, die Welten des großen Fruchtbaren Halbmonds und lokale Traditionen existierten nebeneinander. Ein großes europäisches Forschungsprojekt (ERC Grant „Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt“) in Zusammenarbeit mit dem Ägyptischen Ministerium für Tourismus und Antiken hat nun tausende Texte und viele andere Funde aus Elephantine, die in 60 Sammlungen in 24 Ländern verstreut waren, ausgewertet, erstmalig digitalisiert und für alle öffentlich gemacht. Die bearbeitete Zeitspanne umfasst Zeugnisse aus dem dritten Jahrtausend vor unserer Zeit bis zum Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeit. Die Ausstellung „Elephantine, Insel der Jahrtausende“ ist, passend zu ihrem Thema, dreisprachig beschriftet: in arabischer, englischer und deutscher Sprache. Geruchstationen lassen orientalische Düfte durch den Ausstellungsraum schweben, vieles kann berührt und ertastet werden, ein ägyptischer DJ interpretiert Elephantine noch einmal auf ganz andere Weise. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Mathematiker:innen und Physiker:innen ermöglichte es, geschlossene Papyri und Papyruspäckchen „virtuell“ zu entblättern und lesbar zu machen.  Besonders interessant: Die Forscher:innen fanden Dokumente in zehn verschiedenen altorientalischen Sprachen und Belege dafür, dass die Menschen auf Elephantine nicht etwa getrennt in ihren Kiezen lebten, sondern sich auch untereinander kannten, schätzten und sich miteinander verständigen wollten. So nennt ein Ehevertrag aus der Perserzeit (etwa 433-403 v.u.Z.) die Namen von Zeugen der Eheschließung, die aramäischen, judäischen und ägyptischen Ursprungs sind. Ein anderer Text in aramäischer Sprache wurde mit demotischen Schriftzeichen aus der ägyptischen Kultur niedergeschrieben. Er beinhaltet eine biblischen Psalm und einen altägyptischen Totentext und vereint so nicht nur Sprachen, sondern auch Konzepte aus zwei unterschiedliche Religionen. Pluralität und Vielfalt also. „Multikulti“ in der Antike. Ganz selbstverständlich nebeneinander und wahrscheinlich zum Nutzen aller. Dass „Multikulti“ auch damals nicht immer eine leichte Angelegenheit war, zeigen Schreibübungen von Kindern auf Tonscherben. Ungelenk werden dort die fremdem Schriftzeichen niedergeschrieben und Begriffe in der fremden Sprache wieder und wieder geübt. „Multikulti“ mag es schon in der Antike gegeben haben, aber mit ein wenig Mühe ist es schon verbunden. Mühe, die sich lohnte und lohnt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 27.10.2024 in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum auf der Museumsinsel in Berlin zu sehen.

“My body, my choice – raise your voice”

„Am 21.09 ist es endlich wieder so weit. Der Marsch für das Leben geht in die 2. Runde und wir freuen uns über jeden der kommt. Ladet eure Familie, Freunde und Bekannte ein mit uns für das Lebensrecht einzustehen! Am 21.9. um 13 Uhr auf der Deutzer Werft“

Entschieden und frustriert schließe ich den Beitrag der Instagram-Seite koelnermarschfuerdasleben, der mit den obenstehenden Sätzen untertitelt wird. Nur wenige Sekunden zuvor wurde mir zuerst von dem Account des Bündnis ProChoice aus Köln, das sich offen gegen den Marsch für das Leben positioniert, der Beitrag zur Gegendemonstration angezeigt. 

Organisiert wird der sog. Marsch für das Leben vom Bundesverband Lebensrecht e.V., der u.a. durch christliche Fundamentalist*innen, aber auch durch Vertreter*innen rechter Ideologien (u.a. Vertreter*innen der AfD) unterstützt wird. Beim Marsch für das Leben verstehen sich die Anhänger*innen als Lebensschützer*innen des Embryos. Sie verurteilen Abtreibungen und sehen diese als Mord an. 

Nach dem Schließen des Beitrages tauchen in meiner Erinnerung die Bilder des letzten Jahres auf: Vor knapp anderthalb Jahren bin ich nach Köln gezogen und habe seitdem ziemlich viele Menschen auf die Straßen gehen sehen, um für sich und ihre Überzeugungen einzustehen.  Bei dem Marsch für das Leben habe ich mich wohl aber mit Abstand am unwohlsten gefühlt.

Ich steige gerade aus der Bahn am Heumarkt, als mir drei Jugendliche (schätzungsweise zwischen 12–16 Jahre alt) eine Rose anbieten. Dass sie damit für die Kundgebung werben wollen, begreife ich erst mit etwas Verzögerung. In meiner eigenen Studienzeit habe ich mich in einem Seminar ziemlich intensiv mit dem Bundesverband Lebensrechtauseinandergesetzt, habe mir Argumentationsstrukturen angeschaut und analysiert, wie Religion in diesem Kontext instrumentalisiert wird. Dass ich aber – als allererstes – auf dieser Kundgebung mit Menschen in Kontakt trete, die nicht einmal volljährig sind, habe ich tatsächlich nicht erwartet.  Ich lehne die Rose dankend ab und bahne mir meinen Weg durch die Menschenmassen – Ziel ist die Gegendemonstration. Auf dem Heumarkt haben sich inzwischen einige Menschen versammelt. Ganz vorne steht eine Bühne: Ein Banner vom Bundesverband Lebensrecht macht deutlich, dass hier die Befürworter*innen des Marsch für das Leben stehen. Schon hier bemerke ich, dass diese Menge zu einem entscheidenden Großteil aus männlich gelesenen Personen besteht – also aus den Menschen, die im Kontext einer Abtreibungsdebatte eigentlich eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Mittendrin befindet sich ein Stand der CDL, den sog. Christdemokraten für das Leben. Hinter dieser Gruppe stehen zwei Reihen von Polizist*innen, die mögliche Ausschreitungen verhindern sollen. Wie sich später noch zeigt, sind diese hier vorprogrammiert: Das Thema spaltet die Massen.  Direkt hinter ihnen beginnt die Gegendemonstration: Hier befinden sich Personen – primär weiblich gelesene Menschen – mit selbstgemalten Schildern, Bannern, sowie Gruppierungen mit Trommeln, die die folgenden Schlachtrufe rhythmisch begleiten. Während die Anhänger*innen des Marsch für das Leben sich gegen Abtreibungen einsetzen, kämpfen die Menschen hier für das Recht auf weibliche Selbstbestimmung. Für mich selbst ist es keine Frage, dass ich mich hier – in der Gruppe der Menschen, die „ProChoice“ sind – an der richtigen Stelle befinde. Im Laufe der folgenden Minuten wird es aber auch hier noch Momente geben, in denen ich mich unwohl fühle und mich zu keinem Zeitpunkt offen als studierte Theologin zu erkennen geben würde.  Die Plakate der einzelnen Gruppierungen könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Anhänger*innen des Marsch für das Leben setzen dabei primär auf emotionalisierende Sprache und Bilder. „Jedes Kind will leben!“ oder auch „No children, no future!“ steht es weiß auf grün auf den Plakaten der Abtreibungsgegner*innen. Zwischen den Plakaten finden sich aber auch weiße Kreuze, die die abgetriebenen Föten repräsentieren sollen, sowie weitere Schilder mit christlicher Symbolik, die somit suggerieren, dass die Kirche ganzheitlich diese Kundgebung unterstützt. Auch der Stand der CDL, der Christdemokraten, untermalt diese Vermutung.  Und so ist es nicht unverständlich, dass die Teilnehmer*innen der Gegendemonstration wiederholt auch gegen die Kirche hetzen. Neben Plakaten mit Titeln wie „My Body, my Choice“ oder „Ob Kinder oder keine, bestimmen wir alleine“ demonstrieren einige Schilder eben auch, wie die Kirche im Allgemeinen als religiöses Feindbild wahrgenommen wird. „Für ein Paradies auf Erden, Fundamentalist*innen in die Hölle!“ oder „Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“, heißt es so auf einigen Bannern, die mir dann noch zunehmend zusetzen. Beim Lesen dieser Schilder wird mir klar, dass ich mich zu keinem Zeitpunkt hier gerne als gläubige Christin zu erkennen geben würde – und das, obwohlich es besser weiß: Obwohl ich weiß, dass die Position der EKD nicht die der fundamentalistischen Abtreibungsgegner*innen ist; obwohl ich weiß, dass Menschen, wie die Anhänger*innen des Bundesverband Lebensrechtdie christliche Religion instrumentalisieren und obwohl ich weiß, dass ich nicht weiter von den politischen und religiösen Ideologien der rechten Vertreter*innen, die auch den Marsch für das Leben unterstützen, entfernt sein könnte. 

Und so stehe ich in der Menschenmenge mit der absoluten Gewissheit, dass ich hier auf der Seite der ProChoice-Bewegung, die sich für weibliche Selbstbestimmung einsetzt und somit genau den feministischen Werten entspricht, die ich selbst durchweg vertrete, richtig stehe und fühle mich trotzdem ein wenig fremd. Erst im Nachhinein begreife ich, dass ich mich nicht nur fremd fühle, sondern vielleicht auch ein wenig verlassen und enttäuscht. Enttäuscht von meinerKirche, die mir Rückhalt bieten sollte und von der ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte, dass sie sich stärker und lauter von dem abgrenzt, was nur wenige Meter vor mir passiert. In meiner Welt ist Feminismus und Theologie nicht nur miteinander vereinbar, sondern sogar zwingend zusammen zu denken. Jetzt merke ich aber, dass das für die Allgemeinheit hier gerade nicht möglich ist. Und so stehe ich hier, unerkannt als gläubige Christin und stimme eben trotzdem – oder eher genau deswegen – ein, wenn gesungen wird „My body, my choice, raise your voice“. 

Foto von Brett Sayles von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/frauen-usa-schon-hubsch-12747250/

Wie es ist, mit einer Historikerin zusammenzuleben – oder – wenn es um Jesus geht, dann maximal um den historischen

„Jonas, kannst du mir noch einmal das Verständnis des Christentums von Trinität erklären?“ Meine Freundin – Historikerin – beschäftigt sich in Folge einer Hausarbeit mit dem Filioque und erhofft sich trotz eigener tiefgreifender Kompetenz durch meine theologische Expertise eine andere – eben theologische – Perspektive auf den Sachgegenstand. Ich, der sich schon während des Studiums mehr zu den didaktischen als historischen Prozessen hingezogen gefühlt hat und sogar nachfragen muss, wann der Streit um das Filioque überhaupt war, kann ihr nur eine immer noch durch Klaus von Stoschs Systematische Theologie geprägte aktuelle Einführung in die Trinität bieten, woraufhin mich ein Schwall historischen Unverständnisses ihrerseits trifft.  „Du immer mit deiner Didaktik, ich brauche das Verständnis von 1054. Gerade du als Didaktiker müsstest doch eigentlich um die Bedeutung historischer Ereignisse wissen!“ Auch wenn ich meinen Opa hier sehr präsent im Ohr habe „was interessiert mich denn, wann irgendein Kaiser geboren oder gestorben ist?“ hat meine Freundin vollkommen Recht. Wenn ich auf den schulischen Religionsunterricht schaue, wäre eine Vernachlässigung oder gar Ausblendung historischer Zusammenhänge fatal. Braucht es doch gerade die historischen Erfahrungen und Perspektiven aus der Tradition, besonders vor dem Hintergrund trauriger aktueller Ereignisse, ohne die moderne Phänomene nicht gedeutet werden könnten und Schüler*innen eine reflektierte und urteilsfähige Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft gerade im Hinblick auf eine mündige Standpunktfähigkeit hinsichtlich religiöser und demokratischer Phänomene verwehrt bliebe. Um Schüler*innen im Religionsunterricht die Möglichkeit bieten zu können, Fähigkeiten zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, religiöse und weltanschauliche Vielgestaltigkeit zu reflektieren, sich produktiv mit ihr auseinanderzusetzen und somit in einer pluralen Gesellschaft interagieren, kommunizieren und sich positionieren zu können, braucht es sowohl eine biblische, empirisch-aktuelle, systematische, schüler*innenorientierte und die immer wieder gerne vergessene, historische Perspektive. Besonders durch einen historischen, an der Tradition orientierten Bezug, kann eben die Bedeutsamkeit eines Themas für die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen ersichtlich werden, wodurch Wirklichkeitserfahrungen vor dem Hintergrund tradierter Erfahrungen reflektiert und transformiert werden können. Unsere leidige Diskussion „Alt“ gegen „Neu“ entbehrt demnach jegliche Zeitmäßigkeit, da es sich doch eher um ein korrelatives miteinander und eben nicht um ein „entweder – oder“ handelt. Gerade ich als Didaktiker, dem Klaus Bergmann, seine Multiperspektivität und sein historisches Lernen fest im Gedächtnis verankert sind, müsste um die Bedeutung der Perspektivenvielfalt historischer Sachverhalte für den Religionsunterricht und die Schüler*innen wissen.

Daher kann ich nur jedem empfehlen, einmal mit einer Historikerin unter einem Dach zu leben, die einem beizeiten den historischen „Tritt in den Allerwertesten“ verpasst, um eben auch die historischen Phänomene wertzuschätzen und gerade nicht zu vernachlässigen.

Qumran Nationalpark

Gabriel, der Gesandte Gottes – Überlegungen über Surat at-takwīr (Koransure 81)

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, als ich zum ersten Mal in die Koran-Schule (arab. kuttāb) kam. In diesem kleinen, staubigen kuttāb saßen wir auf bunten Teppichen und wiederholten die Verse auswendig. Als mein Scheich eines Tages zu Surat at-Takwīr (Koransure 81) kam, spürte ich eine besondere Ehrfurcht. Seine Stimme, warm und sanft, rezitierte die Sure wie ein Gesang. Doch als ich zu den Versen 19 bis 22 nachrezitierte, stockte ich plötzlich: „Er (der Koran) ist die Aussage eines edlen Gesandten, der beim Herrn des Thrones über (große) Macht verfügt und Ansehen hat, dem gegenüber man (im Himmel) Gehorsam leistet, und der vertrauenswürdig istUnd euer Gefährte ist nicht ein Besessener“ (Koran: 81:19-21) 

„Scheich,“ fragte ich zögerlich, „wer ist unser Gefährte, der nicht besessen ist?“ 

Er antwortete: „Damit ist Muhammad, Friede sei auf ihm, gemeint, denn die Menschen in Mekka nannten ihn einen Verrückten.

Ich entgegnete: „Ich dachte, die Aussage „edler Gesandter …“ am Anfang des Verses beziehe sich auf ihn.“ 

„Nein, mein Kind“ antwortete der Scheich lächelnd, „das ist nicht Muhammad, sondern der Gesandte Gottes zu Muhammad, er ist Gabriel.“

Ich nickte langsam und kehrte zu meinem Platz zurück und las die Verse erneut. Die wunderbaren Eigenschaften, die der Koran Gabriel zuschreibt – ehrenwert, mächtig und wahrhaftig – beeindruckten mich zutiefst, und beindrucken mich noch immer.  

Wenn man alle Koranverse betrachtet, die vom Engel Gabriel sprechen, so erkennt man, dass er in der koranischen Darstellung einen besonderen Rang bei Gott innehat. Seine Rolle als Vermittler der Offenbarung, insbesondere an den Propheten Muhammad, ist im islamischen Glauben unbestritten. Doch seine Bedeutung geht weit über diese Funktion hinaus. Er ist der einzige, dem hervorragende sittliche Eigenschaften von Gott zuteilwerden. Neben diesen in Sure at-Takwir erwähnten Eigenschaften von Gabriel gibt es noch zwei weitere bemerkenswerte Aspekte: Erstens: Gott hat die Offenbarung des Korans Gabriel zugeschrieben und nicht sich selbst. In Sure at-Takwir, die in einem Kontext offenbart wurde, in dem die Botschaft des Islam von den Mekkanern angezweifelt wurde, betonte Gott die göttliche Herkunft des Korans, indem Er ihn einem Himmelsboten zuschrieb. Dies ist ein klares Zeichen für die Vermittlung der göttlichen Botschaft durch einen Zwischenträger. An einer anderen Stelle wird diese Rolle Gabriels deutlich, wenn Gott über den Propheten Muhammad sagt: „Und er spricht nicht aus (persönlicher) Neigung. Es ist nichts anderes als eine Offenbarung. Gelehrt hat (es) ihn einer, der über große Kräfte verfügt, dessen Macht sich auf alles erstreckt.“ (Koran 53: 3-6). Das bedeutet, Muhammad brachte den Koran nicht von sich selbst, sondern er von seinem Lehrer, dem mächtigen Gabriel. Zweitens: Die Sure deutet darauf hin, dass Gabriel im Himmel gehorcht wird. Dies zeigt deutlich, dass Gott Seine Befehle an die Engel meist über Gabriel übermittelt. Gabriel ist somit nicht nur der Gesandte Gottes bei den Menschen, sondern auch bei den Engeln. Seine Stellung als starker, treuer Engel unterstreicht seine besondere Nähe zu Gott.Im Rahem dieses besonderen, im Koran verankerten Rangs Gabriels wird er, im Vergleich zu anderen Engel, die oft kollektiv als Gruppe bezeichnet werden, häufig namentlich genannt und von den anderen Engeln abgehoben. So finden wir Formulierungen wie „die Engel und Gabriel“ (Koran 2:98), „der Geist und die Engel“ (Koran 78:38; 70:4) oder „Gabriel, die aufrichtigen Gläubigen und die Engel“ (Koran 66:4). Beim ersten einfachen Lesen geben die Formulierungen den Eindruck, als ob er mehr als ein Engel gewesen wäre; er ist aber doch, soweit ihn Gott noch als seinen Geist bezeichnet, kein einfacher Engel. 

Die Bezeichnung „Geist“ (arab. rūḥ) wird im Koran häufig mit Gabriel in Verbindung gebracht. Er ist z.B. Geist Gottes, der Maria, Mutter Jesu, gesandt wurde, um ihr ein Kind zu verkünden: „Da nahm sie sich einen Vorhang (um sichvor ihnen (zu verbergen). Und wir sandten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar als ein wohlgestalteter Mensch“ (Koran 19:17). Es ist ein bemerkenswerter Aspekt, dass Gott seinen Geist, Gabriel, in Menschengestalt bei der Begegnung mit Maria erscheinen ließ, was die enge Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen unterstreicht und die Rolle Gabriels als Mittler zwischen beiden Welten verdeutlicht. Auch in Begegnung mit dem islamischen Propheten Muhammad wurde Gabriel als Geist Gottes bezeichnet: Und er (der Koranist vom Herrn der Menschen in aller Welt (als Offenbarung) herabgesandt. Der zuverlässige Geist hat ihn herabgebracht, dir (Mohammedins Herz, damit du ein Warner seiest.“ (Koran 26: 192-194) 

Zum Schluss kann man feststellen, dass Gabriel, Geist und Gott am nächsten stehender Gesandter, nach der koranischen Darstellung die zentrale Figure in der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen ist. Seine herausragende Stellung, seine besonderen körperlichen und sittlichen Eigenschaften und seine Rolle als Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen machen ihn zu einem faszinierenden Studien- und Forschungsobjekt. Forschungsfragen für Studierenden der Komparativen Theologie können lauten: Wie wird Gabriel in anderen (nicht-)abrahamitischen Religionen dargestellt? Wie wird Gabriel in der islamischen Kunst und Literatur visualisiert und beschrieben? Welche Rolle spielt Gabriel bei der Offenbarung an andere Propheten wie Abraham oder David? Welche Rolle wird Gabriel am Jüngsten Tag zugeschrieben?

Dr. Mohammed Abdelrahem ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie und am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.