Rote Dreiecke in Gaza

Erregt zeigt mir mein jüdischer Kollege Moshe eine Karte mit der an Gaza grenzenden Gebiete Israels. Sie enthält lauter rote Dreiecke. Jedes Dreieck steht für ein Kibbuz, das am 7. Oktober von der Hamas angegriffen würde. Jedes Dreieck steht damit für unzählige tote Juden. Moshe deutet auf ein kleines Kibbuz, aus dem die Familie seiner Frau stammt und das – wie durch ein Wunder – nicht vernichtet wurde, obwohl es mitten unter den vernichteten Ortschaften liegt. Er schildert mir seine Erregung direkt nach dem Angriff. 48 Stunden war er wie von Sinnen. Die Gewissheit, dass die Hamas auch alle Juden in Israel getötet hätte, wenn sie die militärische Macht dazu hätte, raubt ihm den Schlaf. Der Gedanke nach Vergeltung ergreift ihn. Das Schicksal der Geiseln peinigt ihn. Der Wunsch nach Ausmerzung der Hamas nimmt ihn ein. 48 Stunden hält dieser Zustand an und nimmt ihm jedes klare Urteilsvermögen. Da sind nur noch eine unbändige, ohnmächtige Wut und Angst.

Seine Frau ist es schließlich, die ihn wieder zurückholt in seine Berufung als Talmudgelehrter. Obwohl sie es ist, deren Familie noch viel stärker bedroht war, analysiert sie schon von der ersten Stunde mit Klarheit und Leidenschaft, was heute jeder sehen muss, der noch einen Funken Verstand hat: „Siehst Du denn nicht, dass Du in die Falle der Hamas gehst, wenn Du so reagierst? Dieser Wunsch nach Vergeltung, dieser blinde Hass, diese Angst – das ist genau das, was sie wollen. Sie wollen uns auseinander bringen; sie wollen Gräben schaffen und so alle Muslime gegen uns aufbringen. Sie wollen jedes friedliche Miteinander von Juden und Muslimen in Israel unmöglich machen.“ Seitdem gilt Moshes Aufmerksamkeit in Israel den Arabern, den Muslimen, den Palästinensern. Ihnen steht er bei, von ihnen will er sich nicht trennen lassen, für sie ist er da.

Wenn Netanjahu immer wieder sagt, dass die Hamas ausgemerzt und vernichtet werden muss, übernimmt er die Rhetorik und das Weltbild der Hamas. Langfristig führt er sie auf diese Weise zum Sieg, und schon jetzt muss man kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die Existenz Israels umso stärker gefährdet wird, je mehr Opfer in der Zivilbevölkerung leiden müssen und je deutlicher die Vernichtungslogik der Regierung Netanjahu sichtbar wird. Und schon jetzt mussten in Gaza viel zu viele Unschuldige leiden und sterben. 

Aber auch umgekehrt dürfen wir uns nicht der Logik der Hamas beugen. Wenn wir uns Karten von Gaza mit roten Dreiecken anschauen, die zeigen, wo überall unschuldige Zivilisten brutal von der israelischen Armee ermordet wurden, wenn wir immer wieder die Bilder des Schreckens israelischer Bombardierungen vor unsere Augen rufen, wenn wir nur die Opfer auf der eigenen Seite sehen und nicht die Schrecken der anderen, dann betreiben wir das Geschäft der Polarisierung. 48 Stunden lang ist das menschlich und nur zu gut zu verstehen. Auch danach bleiben Schmerz, Angst und Wut. Aber wir sollten uns davon nicht überwältigen lassen. Denn als Juden, Christen und Muslime hoffen wir doch auf mehr als auf Vergeltung und von Menschen hergestellte Gerechtigkeit. Es ist Zeit, dass wir auf die Stimme der Frau Moshes hören. „Siehst du denn nicht, dass sich Deine Handlungen der Logik des Terrors unterwerfen, wenn sie sich von Ohnmacht, Wut und Hass leiten lassen?“ Lernen wir also endlich auf die Leiden der anderen zu schauen, nicht nur auf die Leiden des eigenen Volkes.  

Ich weiß weder wie Moshes Frau aussieht, noch wie die Frau von Mose aussah. Aber dieses Bild drückt den Charakter, der mir vorschwebt, in sehr schöner Weise aus.

Aufgaben in der Begegnung mit dem Judentum

In ihrem Vortrag am 19. Juni 2024 zum Thema „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ hat Prof.in Elisa Klapheck in wunderbarer Weise die Potentiale einer aus jüdischen Quellen erarbeiteten politischen Theologie herausgestellt. Der Vortrag fand im Rahmen der Paderborner Friedensgespräch im Historischen Rathaus Paderborn statt. Elisa Klapheck betont immer wieder, dass nicht nur vom Antisemitismus gesprochen werden sollte, wenn es ums Judentum geht. Es sollte vielmehr um die positiven Seiten und der Reichtum der jüdischen Tradition gehen.
Dabei gebe ich ihr grundsätzlich Recht. Andererseits ist es gut, dass spätestens seit dem 7. Oktober 2023 der steigende Antisemitismus wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Im Dialog wird mir durch die wenigen jüdischen Gesprächspartnerinnen immer wieder bewusst, wie die Folgen der Shoah auch heute noch spürbar sind. Mit wenigen Ausnahmen ist die Geschichte des Christentums gegenüber dem Judentum eine Geschichte der Polemik, der Abwertung und der Vernichtung. Erst nach der Shoah im 20. Jahrhundert hat es ein Umdenken in den christlichen Theologien gegeben. Erst jetzt setzte sich die Erkenntnis durch, dass Jesus selbst Jude gewesen ist und die neutestamentlichen Schriften nur aus seinem jüdischen Umfeld heraus zu verstehen sind. Der christlichen Theologie bleibt immer noch viel Arbeit, das antijüdische Erbe in ihrer Geschichte und ihren Theologien aufzuarbeiten. Immer wieder höre ich bei gläubigen Christen unbewusst und ungewollt Aussagen, die das Judentum abwerten. Aber vielleicht ist besser weiterzudenken, indem man sich nicht nur selbstkritisch mit dem Erbe in der christlichen Theologie auseinandersetzt, sondern konstruktiv aus dem Gespräch mit jüdischen Partnerinnen eine neue Theologie entwickelt, die die Stärken und Potentiale jüdischen Denkens wahrnimmt und aufnimmt. Wenn ich einsehe, dass die Verheißungen an das Volk Israel durch die Erfüllungen in Jesus Christus nicht abgegolten sind (Mt 5,17-20), dann muss neu gefragt werden: Was heißt dann „Erfüllung“ in Jesus Christus (z.B. Mt 2,15)? Was heißt Erfüllung aus verschiedenen jüdischen Perspektiven? Wie kann ich im Dialog voneinander lernen? Am 12.9.2024 darf ich meine Ideen dazu in der Reihe „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie zu Berlin vorstellen: https://www.eaberlin.de/seminars/data/2024/09/verheissung-und-erfuellung/

Die Tora beinhaltet den ersten Teil der heiligen jüdischen Schrift (Tanach) und besteht aus den 5 Büchern Mose [Bereschit (Genesis), Schemot (Exodus), Wajikra (Levitikus), Bemidbar (Numeri), Devarim (Deuteronomium)]. Sie ist ein grundlegendes Gesetzeswerk der jüdischen Religion und wird in den Synagogen abschnittsweise vorgelesen.