A Brief Report on an Original Experience of “Staring at the Sun”!

Irvin Yalom describes the human being’s state of contemplating the reality of one’s death with the metaphor of a person staring barely at the sun. Applying this metaphor, Yalom means to make the point that to overcome the terror of death, every human being needs the courage to put oneself, through contemplation, in the vulnerable state of confronting the reality of one’s death and to live one’s life with the complete awareness of the fact that one day all possibilities in life will be finally narrowed down to zero.[1] Such a contemplation, according to Yalom, is usually postponed until an awakening experience, like the death of a dear one, forces one to think more deeply about one’s own death. 

Two months ago, when I moved to Bonn once again after ten years to establish a new life in that city, I had one of my most interesting awakening experiences in life. Although believers in the afterlife are usually regarded as not being subject to the same existential crises as non-believers are, my awakening experience showed me that if there is one point about the meaning of death upon which both believers and non-believers would agree, it is the simple fact that after our death, life and the present state of the universe will continue the same way as they have done so far, without us having a part in them. Within the first few days after my move, focusing attention on the preserved aspects of the city’s architecture and the shops and stores which had remained unchanged within the past ten years, and extending that experience to the scope of the whole world in my imagination, I came to realize what the normal rush of life would be like without me playing any further role on the scene of the theatre of human life. The moment at which I realized the indifference of life towards my existence in the world was my moment of staring at the sun! Although I knew that I might be an irreplaceable individual for my family and my close friends, the very thought that someday they will all die, too, and any slightest trace of my existence may vanish from the scene of the earth was concomitant with a sense of absurdity. 

As a strategy to find a way out of this absurdity, Irvin Yalom himself calls attention towards the idea of “rippling”, which he defines as follows:

“Rippling refers to the fact that each of us creates—often without our conscious intent or knowledge—concentric circles of influence that may affect others for years, even for generations. That is, the effect we have on other people is in turn passed on to others, much as the ripples in a pond go on and on until they’re no longer visible but continuing at a nano level”.[2]

The interesting point about Yalom’s idea of rippling is that it turns our attention from ourselves and the image or the name we might like to leave behind in the world towards our interpersonal relationships and our connection with other fellow human beings and puts the latter at the focal point of our endeavours. In the context of Islamic ethics, such an endeavour leading to the benefit or comfort of other human beings that has a lasting effect after one’s death is called bāqīyyāt al-ṣāliḥāt, which could be translated as “the enduring good deeds”. Yalom’s subtle idea of rippling made me rethink this Islamic concept in the light of the Heideggerian definition of death, that is, the impossibility of further possibility, to which Yalom refers in the development of his idea. Revisiting the concept of bāqīyyāt al-ṣāliḥāt in the existential philosophical framework, one could redefine this concept as one’s attempt of creating a further possibility in the form of a comfort or some piece of wisdom etc. that could transform the life of others while being aware of the upcoming moment where all further possibility in this life for oneself would be impossible. 


[1] Yalom refers to Heidegger’s definition of death as the “impossibility of further possibility” to make his point clear. See, Yalom, Irvin D., Staring at the Sun: Overcoming the Terror of Death, San Francisco: Jossey-Bass, 2008, p.59

[2] Ibid., p.83

Foto: Malihe Siahvoshan

Nasrin Bani Assadi promoviert in komparativer Theologie an der Universität Bonn.

#sun #death #heidegger #possibilities

Harmoniebedürfnis

Wenn ein Jobinterview nicht zu der Festanstellung führt, auf die man gehofft hat; wenn eine Beziehung von jetzt auf gleich beendet wird, ohne dass man es hat kommen sehen; wenn sich ein Urlaub zerschlägt, weil der Flug aufgrund eines Bahnstreiks verpasst worden ist; wenn man sich ein Bein bricht und den Wettkampf, auf den man hin trainiert hat, absagen muss – dann braucht man Coping-Strategien, die dabei helfen, mit diesen Situationen umzugehen. Jeder und jede hat andere Mechanismen, die helfen sollen, über das hinwegzukommen, was störend und unangenehm in den Ablauf des Lebens hereinbricht und verhindert, dass man dem ursprünglichen Plan folgt. In den letzten anderthalb Jahren sind die Menschen vielleicht mehr als je zuvor damit konfrontiert worden, warum der viel zitierte Satz John Lennons „Life is what happens to you while you’re busy making other plans“ nicht ohne Grund so berühmt ist. 

Eine sehr beliebte Strategie scheint es zu sein, das, was nicht passt, passend zu machen. Widerfahrnisse wie Krankheit, Enttäuschung, Scheitern und Verlust werden harmonisch in das Gesamt des Lebens integriert, indem diese Ereignisse nicht als plötzliche Zusammenbrüche des Gewollten, sondern als unerwartete, aber in der Retrospektive willkommene Wendungen des Schicksals verstanden werden. Der Wunsch nach Harmonie und Einheit ist kein neuzeitliches Phänomen, sondern scheint ein allgemeines Bedürfnis von jeher zu sein, hält man sich beispielsweise vor Augen, mit welcher Vehemenz der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) darauf besteht, dass sich alles, das Gute und das Böse, zu einer universalen Harmonie vereinen lässt. Selbst das Böse und das Leiden lassen sich in den Plan Gottes integrieren, insofern „das Übel ein größeres Gut im Gefolge haben kann.“[1] Dass Licht Schatten braucht und man das Schöne nur sehen kann, wenn man das Unschöne kennt, das wusste auch schon Romy Schneider im dritten Film der Sissi-Trilogie. Und in Tinder-Profilen findet man das Bekenntnis, dass man in seinem Leben nichts bereut, weil man sonst ja nicht der bzw. diejenige geworden wäre, der bzw. die man ist. So schön und wichtig dieser Zug der Selbstliebe ist, er verschleiert. Er verschleiert die Menschen, die man auf dem Weg der Selbstfindung verletzt hat. Er verschleiert die vielen Erfahrungen, die uns nicht unbedingt zu besseren Menschen haben werden lassen. Und er verschleiert im Extremfall die vielen Leben, die aufgrund einer angeblichen Vorsehung des Schicksals zerstört wurden. 

Der Theologe Karl Rahner gibt ein Beispiel dafür, dass nicht alles gleich glattgebügelt werden muss, was mir im Leben an Widerständigkeit begegnet: „So unterscheidet sich der Christ dadurch von demjenigen, der wirklich weder Reflex noch anonym Christ ist, dass er aus seinem Dasein kein System macht, sondern unbefangen sich geleiten läßt durch die plurale Wirklichkeit, die auch eine finstere, dunkle, unbegreifliche ist.“ Was im ersten Moment destruktiv klingt, offenbart sich auf den zweiten Blick als gleichermaßen realistisch wie auch konstruktiv. Der Glaube an Gott behauptet eben nicht, dass alles im Leben gut ist und einen tieferen Sinn hat, der nur noch nicht erkannt worden ist. Denn das wäre nicht nur illusorisch und naiv, sondern zudem wenig empathisch und Freiheits-verneinend. Aber der Glaube spricht mir zu, dass ich die Chance, aber auch die Verantwortung habe, jeden Tag neu anzufangen, auch wenn sich in meinem Leben Brüche befinden, die ich nicht so einfach kitten kann. So verweigert sich der Glaube an Gott einer Akzeptanz und einer Integration alles Nicht-Sein-Sollenden, in der Hoffnung, dass das Nicht-Sein-Sollende nicht vom Menschen gelöst werden muss, sondern in Gott selbst aufgehoben ist. 


[1] Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, in: Ders., Philosophische Schriften. Band II, hg. von H. Herring, Darmstadt 1985, 287-313, hier 289.

Dr. Cornelia Dockter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

#Harmonie #Einheit #Leiden #Rahner

Muezzinruf

Letzten Freitag habe ich ein Foto meines guten Freundes in einem Beitrag auf der WDR-Homepage gesehen. Er lebt in Bosnien und ist langjähriger Muezzin der Gazi Husrev-beg Moschee in Sarajevo. So überrascht ich war, sein Gesicht in einem deutschsprachigen Medium zu sehen, umso mehr überraschte mich die Überschrift des Artikels: „Muezzin-Ruf zum Freitagsgebet in Köln künftig möglich.“[1]

Laut dem Beitrag will die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln Henriette Reker mit diesem Modellprojekt ein Zeichen der Toleranz und Religionsfreiheit in der deutschen Gesellschaft setzen. „Wenn wir in unserer Stadt neben dem Kirchengeläut auch den Ruf des Muezzins hören,“ sagte sie in einem Interview, „zeigt das, dass in Köln Vielfalt geschätzt und gelebt wird.“ 

Das hat mich gefreut und ein wenig an meine Heimatsstadt Sarajevo erinnert – eine Stadt, in der im Umkreis weniger Hundert Meter mehrere Moscheen, die römisch-katholische und die serbisch-orthodoxe Kathedrale, zusammen mit einer aschkenasischen Synagoge stehen. Man hört in Sarajevo sowohl den Ruf des Muezzins als auch die Glocken der Kirchen. Inzwischen empfinde ich Deutschland auch als meine Heimat und freue mich, künftig den Azan hier hören zu können. 

Dieses Projekt ist ein wichtiger Schritt für junge Muslime, die immer noch identitätssuchend sind und seit Jahren aufgefordert werden, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und Deutschland als ihre Heimat anzunehmen. Es ist auch ein vielversprechendes Zeichen für inzwischen mehr als 5,6 Millionen Muslime in Deutschland, die ein wichtiger Bestandteil dieser Gesellschaft sind und die den Wohlstand des Landes in den letzten Jahrzehnten fleißig mitaufgebaut haben. 

Das Projekt ist auf zwei Jahre begrenzt und erlaubt den Muezzinruf ein Mal in der Woche beschränkt auf fünf Minuten. Dazu kommen noch weitere Regeln, die teilnehmende Moscheegemeinden befolgen müssen. Daher ist die tendenziöse Aussage in vielen Medien „Die Stadt Köln erlaubt (ab sofort) den Muezzinruf“ nur mit Vorsicht zu genießen.

Ritualrechtlich ist der Azan eine (für Muslime obligatorische) Einladung zum Gebet. Im weiteren Sinn ist der Azan ein Hinweisgeber für den praktizierenden Gläubigen, dass eine neue Gebetszeit angetreten ist und er seine Verbindung mit Gott erneuern kann/soll. Der sprachliche Inhalt des Azans wurde zu den Zeiten des Propheten Muhammad festgelegt. In dieser Form wird er rezitiert und kann und soll nicht – wie manche „Islamexpert*innen“ vorschlagen – mit anderen „Formen von Geräuschen“ ersetzt werden. 

Der Gebetsruf entwickelte sich später in eine Kunst, die viele Jahre geübt wird, bevor man als Muezzin in einer Moschee antreten kann. Den Azan kann man eben auch in dieser ästhetischen Form wahrnehmen. So wie das Anhören eines berühmten Sonetts oder das Anschauen eines alten Gemäldes im Menschen Gefühle und Stimmungen erzeugen kann, genauso kann die Kunst des Azans ästhetische Emotionen im Menschen erwecken. Diese Emotionen kann der Hörende dann in seine eigenen selbstbestimmten Inhalte kanalisieren. Diese Inhalte müssen nicht unbedingt religiöse oder mit Religion verbundene Erfahrungen sein. Sicherlich wäre es deswegen wichtig, dass Moscheegemeinden, die sich überhaupt am Projekt in Köln beteiligen, Muezzine engagieren, die sanfte und melodische Stimmen haben.

Mich persönlich erinnert der Azan an meine Jugend. In einem hektischen Alltag war der Azan für mich ein Zeichen für eine Auszeit, in der ich meine alltäglichen Sorgen und Probleme zur Seite legen und über den größeren Sinn des Lebens nachdenken konnte. Die ersten Worte des Azan „Allahu akbar“ (Gott ist je größer) erinnern daran, dass Gott größer ist als alle meine täglichen Sorgen. Ich denke, dass viele Muslime in Deutschland solche und ähnliche Erfahrungen mit dem Azan teilen und diesen nie als ein Zeichen der Unterwerfung anderer Religionen, Götter oder Glaubensüberzeugungen betrachten würden. 


[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/freitagsgebet-ruf-muezzin-moschee-koeln-modellprojekt-100.html

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Muezzinruf #Köln #Gebetsruf

Von der Dankbarkeit über ein offenes Ohr

In den letzten fünf Jahren als Studentische bzw. Wissenschaftliche Hilfskraft war ich neben meiner Anstellung in der Philosophie bei der Studentischen Schreibberatung an der Universität Paderborn tätig. Die Schreibberatung steht fachübergreifend allen Studierenden offen, die von anderen in Gesprächsführung und Schreibdidaktik geschulten Studis Beratung auf Augenhöhe zu all ihren Fragen, Sorgen oder Problemen rund um den wissenschaftlichen Schreibprozess erhalten möchten und Austausch über ihr Schreiben suchen.[1] Gemeinsam werden die individuellen Schreibprozesse und Texte betrachtet, um Strategien und Lösungen zu finden. Eine Grundannahme ist dabei, dass Schreiben nicht eine Tätigkeit ist, die zu Hause allein am Schreibtisch stattfinden muss, sondern von der Interaktion mit anderen maßgeblich bereichert werden kann. So konnte auch ich als Schreibberaterin in den vielen Jahren auf allen möglichen Ebenen von den Ratsuchenden lernen und Inspiration finden.

In den fünf Jahren habe ich auch ständig die Erfahrung gemacht, dass es oftmals viel leichter war, Ratsuchenden bei Problemen zuzuhören und Impulse zu ihrem Schreibprozess zurückzuspiegeln, als in herausfordernden Situationen einen Überblick über den eigenen Schreibprozess zu bekommen. Manchmal ist es einfach hilfreicher, Feedback von anderen zu erhalten oder zumindest sich selbst bei Seite zu nehmen und „in eine Beratung mit sich selbst“ zu gehen, um ein bisschen Distanz zu gewinnen und die Dinge aus einem anderen Blickwinkel neu betrachten zu können. Phänomene wie diese, die wir alle kennen, werden in der Psychologie auch mit dem „Salomon-Paradox“ bezeichnet: Der Blick aus der Distanz hilft, in herausfordernden Situationen „weisere“ bzw. konstruktivere Schritte zu sehen und zu gehen, wie es oft der selbstkritische Blick auf das eigene Werk aus der Nähe zulässt.[2] Deshalb besteht Schreibberatung nicht nur aus Feedback und dem Teilen von Wissen, sondern noch viel mehr darin, Anderen als Expert*innen für ihr eigenes Schreiben zuzuhören und gemeinsam die Gedanken zu sortieren.

Nicht nur beim Schreiben, sondern auch im sonstigen Leben ist es gerade in Zeiten der Veränderung nicht immer leicht, Orientierung für die nächsten Schritte zu finden. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schreibt in seinen Tagebüchern, dass das Leben nur vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden kann. Umso gesegneter ist man, wenn man Personen um sich herum hat, die nicht nur gute Impulse geben, sondern uns vor allem mit einem offenen Ohr und ihrer Zeit, Empathie und Aufmerksamkeit bei Seite stehen.[3]

Neben dieser Erkenntnis um die Bedeutung des Zuhörens mit einer wertschätzenden Aufmerksamkeit, die auch für den interreligiösen Dialog nicht zu unterschätzen ist, hoffe ich auch etwas von dem fachsensiblen Umgang mit den verschiedenen, sich an der Universität begegnenden Fächern und Disziplinen vom fachübergreifend agierenden Schreibzentrum mitnehmen zu können, wenn ich nun meinen Neuanfang als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften antrete. Ich blicke voller Dankbarkeit zurück auf die schöne gemeinsame Zeit und freue mich auf den Neubeginn und die gemeinsame Zusammenarbeit mit allen am und um das ZeKK herum beteiligten Kolleg*innen und Fächern!


[1] Auf der Seite vom Kompetenzzentrum Schreiben finden sich alle Informationen zum Beratungsangebot der Studentischen Schreibberatung: https://www.upb.de/schreiben/schreibenssb.

[2] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0956797614535400

[3] https://www.spektrum.de/news/kommunikation-ratgeben-ist-eine-kunst/1873108

Sarah Lebock ist seit Anfang Oktober Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin vom Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn.

#Salomon-Paradox #StudentischeSchreibberatung #ZeKK #Zuhören #Neuanfang

Büsra und ihre Heimat

Heute besuchen wir Büşra. „Wir gehen gleich rechts und dann sind wir da“, sagt ihre Tante. Wir gehen den Weg entlang, den sie mit ihrer Hand angedeutet hatte. Nach wenigen Metern bleibt sie stehen und hält inne. Wir verstummen und blicken hinunter auf das Grab von Büşra. Sie liegt nun seit knapp drei Wochen hier begraben. Sie wurde auf dem Friedhof in Dortmund beerdigt, einem Ort, über den sie selbst gesagt hat, dass sie sich hier besonders wohl fühle. Ein Ort, den sie oft mit ihrer Familie, aber auch alleine aufgesucht hat. Regelmäßig kam sie her, um die Gräber auf dem muslimischem Grabfeld zu pflegen, um die sich niemand kümmert. 

Ihr Grab ist mit bunten Blumen bedeckt, rechts und links wurden viele Veilchen gepflanzt. „Menekşe (übersetzt Veilchen) war auch ihr Kosename“, sagt ihre Tante. Büşra hat nur 22 Jahre auf der Erde verweilen dürfen und ist wieder zu ihrem Herrn, zu ihrem Ursprung, zurückgekehrt. Sie ist in meinem Umfeld das jüngste Corona-Opfer. Ende Juli war sie mit ihrer Familie in den langersehnten Urlaub in die Türkei geflogen. Dort angekommen, begann sie kurz darauf zu husten und bekam bereits nach 3 Tagen hohes Fieber. Das Testergebnis war Corona positiv, worauf hin sie sich in Quarantäne begab. Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich schließlich so sehr, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. „Meine liebe Familie, mein Körper ist sehr schwach. Ich werde gleich ins künstliche Koma versetzt. Wenn ich Corona überstehe, werden wir wieder zusammen sein. Eure Menekşe“, hatte sie auf eine Serviette geschrieben, die die Krankenschwester ihren Eltern später übergab. Sie war eine junge, gesunde Frau, hatte keine Vorerkrankungen und umso größer war die Hoffnung, dass ihr Körper über das Virus siegt. Einige Tage später jedoch verstarb sie unerwartet auf der Intensivstation. „Ganz alleine ist sie von dieser Welt gegangen. Obwohl sie so viele Menschen lieben, konnte niemand ihre Hand halten“, hat ihre Cousine in den sozialen Medien geschrieben. In ihrer Familie ist sie das dritte Corona-Opfer. Nachdem die Familie im Winter den Großvater, im Frühjahr die Tante verloren hat und noch nicht einmal die Trauer über ihre Angehörigen verarbeitet war, wurde nun auch diese junge Frau aus dem Leben gerissen. Eine junge Frau, die dem Leben zugewandt war. Lehrerin wollte sie werden, demnächst ein halbes Jahr in Frankreich studieren. 

Als ihre Familie überlegte, auf welchem Friedhof sie sie in der Türkei beilegen sollen, erinnerte ihre jüngere Schwester ihre Eltern an Büşras Wunsch: „Erinnert ihr euch nicht daran, was sie gesagt hat?“, sagte sie. Als sie im Winter nach dem Tod des Großvaters darüber diskutierten, ob sie seinen Leichnam in die Türkei überführen sollen, hatte Büşra gesagt, dass sie im Alter gerne in Dortmund beerdigt werden wollen würde. Ihr Großvater hingegen, der mindestens über 50 Jahre hier gelebt hatte, wollte in seinem Heimatort in der Türkei die letzte Ruhe finden. Büşra jedoch fühlte sich vor allem mit Dortmund verbunden, dem Ort ihrer Herkunft, an dem sie aufgewachsen und der für sie zur Heimat geworden war. Ein Ort, der ihrem Großvater sowie vielen Gastarbeitern der ersten Generation fremd geblieben ist. 

Ihr Leichnam wurde schließlich nach Deutschland überführt und auf dem muslimischem Grabfeld in Dortmund beigesetzt, wo Familie und Freunde Abschied nahmen. Ein entgegengesetzter Weg vor dem Hintergrund, dass nur sehr wenige Musliminnen und Muslime in Deutschland beigesetzt werden und zum anderen auch, dass sie aus der Türkei hierhin überführt wurde. 

Der Koran macht keine Aussagen zum Begräbnisort und weist nur darauf hin, dass die „wahre Heimat“ nicht irgendwo auf der Erde ist: „Von ihm kommen wir und zu ihm kehren wir zurück.“ Ein Freund hatte ihrer Tante bei der Beisetzung gesagt, dass Büşras letzter Wille uns nachdenklich stimmen sollte über den (Un-) Sinn von Überführungen in die Herkunftsländer. 

Die Trauer und das Mitgefühl über Büşras unerwarteten und tragischen Tod sind groß. Neben der tiefen Bestürzung ermöglicht er in meinen Augen dennoch einen Lichtblick. Er ermöglicht ihrer Familie einen anderen Umgang mit der Trauer, den sie durch die regelmäßigen Besuche ihres Grabes haben. Dieser ist ihrer Familie nach der Beisetzung des Großvaters in der Türkei nicht möglich gewesen. Zum anderen macht Büşras Tod uns aber auch darauf aufmerksam, dass für viele junge Musliminnen und Muslime Deutschland mehr und mehr zur Heimat geworden ist. Aus dieser Perspektive betrachtet hält der viel zu früh erfüllte Beisetzungswunsch der jungen Muslima den Spiegel auf Identität und Zugehörigkeit. 

Büşra und ihr Wunsch stehen somit als Beispiel für all jene, die sich danach sehnen, unsere multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft mehr und mehr mitzugestalten und zusammenwachsen zu sehen.

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

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