Keine „Fetten“ mehr – Zeitgemäß oder Zensur?

Der britische Puffin Verlag hat Kinderbuchklassiker von Roald Dahl neu herausgegeben und dabei hunderte von Änderungen vorgenommen. Stereotypen, die sich auf Themen wie das Geschlecht, die Hautfarbe oder den Körper beziehen, wurden gestrichen oder ersetzt. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten – und sind äußerst kontrovers.

Julian Schmid (Von Studierenden für Studierende)

Der „Daily Telegraph“ hat kürzlich eine Recherche veröffentlicht, in der die neuen Ausgaben von Werken wie „Charlie und die Schokoladenfabrik“ oder „Matilda“ des britischen und 1990 verstorbenen Bestsellerautors Roald Dahl durchsucht und mit alten verglichen wurden. Das Ergebnis: Der mit einem ausgeprägten Appetit gesegnete Augustus Glupsch in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ ist nun nicht mehr „enorm fett“, sondern lediglich „enorm“. Überhaupt sind Figuren nicht mehr „dick“ oder „hässlich“. Sie werden auch nicht mehr „weiß im Gesicht“, sondern lediglich „recht blass“. Eine Frau an der Supermarktkasse wird zur „Spitzenforscherin“ und selbst ein Regenwurm hat nun nicht mehr „rosafarbene“, sondern „weiche“ Haut (https://www.telegraph.co.uk/news/2023/02/17/roald-dahl-books-rewritten-offensive-matilda-witches-twits/).

Die Reaktionen auf die Anpassungen folgten prompt und teilweise mit großer Empörung. So twitterte der mit dem Bookerpreis ausgezeichnete Autor Salman Rushdie umgehend, dass es sich bei den Eingriffen und Änderungen um eine „absurde Zensur“ durch eine „verhunzende Empfindsamkeitspolizei“ handele. Und auch die stellvertretende Literaturchefin der Londoner „Sunday Times“ Laura Hackett schlug in die gleiche Kerbe: „Die Herausgeber von Puffin sollten sich schämen für die verpfuschte Operation, die sie an einigen der besten Kinderbücher Großbritanniens vorgenommen haben“ (https://www.spiegel.de/kultur/literatur/roald-dahl-fett-verrueckt-und-rudyard-kipling-aus-romanen-gestrichen-a-3e14264e-b77f-45c8-a1ca-bf2cdedcb624).

Die von Rushdie geschimpfte „Empfindsamkeitspolizei“ sind in Wahrheit Organisationen wie Inclusive Minds, die sich dafür einsetzen, Kinderliteratur inklusiver und für alle zugänglicher zu machen. Der Sensitivity Reader, bei denen literarische Texte im Auftrag von Verlagen auf diskriminierende Sprache und stereotypisierende Darstellungen überprüft werden, Aşkın-Hayat Doğan erzählt aus aktuellem Anlass im Interview beim Deutschlandfunk, dass er als Teenager noch ein „Ausländer“ gewesen und inzwischen eine Person of Color sei, womit er sich „viel wohler“ fühle. Auch in deutschen Kinderbüchern habe er sich als schwuler Muslim mit türkischer Migrationsgeschichte nicht repräsentiert gesehen: „Alle Bücher waren durchgehend weiß und alle Charaktere waren durchgehend heterosexuell.“ Doğan plädiert dafür, auch Klassiker der Kinderliteratur „dem heutigen Zeitgeist und den heutigen Rezipient:innen“ anzupassen (https://www.deutschlandfunk.de/was-machen-sensitivity-reader-a-k-n-hayat-do-an-im-interview-dlf-b5e68af1-100.html).

So wie nun bei den Dahl-Werken geschehen. „Bei der Veröffentlichung neuer Auflagen von Büchern, die vor Jahren geschrieben wurden, ist es nicht unüblich, die verwendete Sprache zu überarbeiten und gleichzeitig andere Details zu aktualisieren, zum Beispiel den Einband und das Seitenlayout eines Buches“, erklärt die Roald Dahl Story Company. „Unser Grundprinzip ist es stets, die Geschichten, die Figuren und den scharfen Geist des Originaltextes beizubehalten“ (https://www.spiegel.de/kultur/literatur/roald-dahl-fett-verrueckt-und-rudyard-kipling-aus-romanen-gestrichen-a-3e14264e-b77f-45c8-a1ca-bf2cdedcb624).

Zugegeben ein geradezu paradoxes, weil widersprüchliches Unterfangen. Denn wenn das Adjektiv „fett“ sprachlich so mächtig und schwerwiegend ist, dass man es einem Kind nicht zumuten kann, dann ist der Eingriff und das Streichen des Wortes ja nicht weniger schwerwiegend.

Auch Kim Kindermann, zuständig fürs Kinder- und Jugendbuch bei Deutschlandfunk Kultur, wünscht sich ein bisschen mehr Mut: „Wenn wir Begriffe vorauseilend wegnehmen, dann erziehen wir Kinder zur Unmündigkeit, die wir ja gerade nicht wollen. Wir wollen doch, dass sie verstehen, dass so ein Begriff wie ‚fett‘ für Menschen beleidigend sein kann. Und wir müssen doch über Gefühle sprechen, die Worte und Geschichten auslösen“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/kinder-im-bullerbue-zur-debatte-um-glaettungen-in-comics-von-roald-dahl-dlf-kultur-df8d899f-100.html). Dabei kann Literatur wunderbar helfen. Auch die Publikationen von Roald Dahl, findet der Philosoph Philipp Hübl: „Seine teils alptraumhaften Erzählungen bereiten junge Leute darauf vor, dass die Welt voller fragwürdiger Charaktere ist“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/roald-dahl-neuauflage-kommentar-100.html). Das kann durchaus verstörend sein. „Aber bereitete man Kinder auf ein Leben vor, in dem Verstörungen nicht mehr vorkommen werden: Wären sie dann auf das Leben vorbereitet?“, fragt SZ-Journalistin Susan Vahabzadeh (https://www.sueddeutsche.de/kultur/roald-dahl-kinderbuecher-aenderungen-salman-rushdie-1.5755108).

Eine unterschiedslose Welt, in der alle weder dünn noch dick, weder dumm noch schlau sind, ist nicht nur langweilig und daher weniger erzählenswert, sondern konterkariert vor allem eins: die Heterogenität einer Gesellschaft.