Wenn über die Bildung oder die Ausbildung von Menschen mit Behinderung gesprochen wird, fallen zwei Begriffe ganz bestimmt: Förderschule und Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
Schüler:innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die eine Schule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung besuchen, werden mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrem späteren Leben in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten. Laut eines Artikels von dem Aktivisten Raul Krauthausen, der selbst ein Mensch mit Behinderung ist, arbeiten ungefähr 320.000 Menschen in Deutschland in solchen Werkstätten (https://www.zeit.de/arbeit/2022-02/menschen-behinderung-werkstaetten-arbeitsbedingungen-fairtrade-standards). Davon haben drei Viertel „eine kognitive Einschränkung, 22 Prozent eine psychische und nur drei Prozent eine körperliche“ (https://www.mdr.de/religion/thema-behinderten-werkstaetten-wie-weiter-100.html).
Tabea Voos (Von Studierenden für Studierende)
Zwar stellen die Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) diesen Menschen mit Behinderung Arbeitsplätze zur Verfügung, die sie im ersten Arbeitsmarkt sehr wahrscheinlich nicht bekommen würden, dennoch sind sie keine Arbeitnehmer:innen, sondern Beschäftigte. Das liegt daran, dass die WfbM eigentlich nur auf das Berufsleben vorbereiten und die Menschen in einen regulären Job übergehen sollen. Doch das passiert nur sehr selten. Weniger als ein Prozent der Menschen mit Behinderung arbeiten später im ersten Arbeitsmarkt. Konkret bedeutet dies nur „beschäftigt zu sein“, „keine Betriebsräte, nur schwache Werkstatträte, kein Streikrecht und […] im Schnitt 1,35 Euro die Stunde“ (https://www.zeit.de/arbeit/2022-02/menschen-behinderung-werkstaetten-arbeitsbedingungen-fairtrade-standards). Somit verdienen die Menschen mit Behinderung weniger als den Mindestlohn. Und das obwohl deutsche Unternehmen und somit auch die WfbM verpflichtet sind, die Menschenrechte einzuhalten.
Die UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert die Menschenrechte aus der Perspektive der Menschen mit Behinderung. Der Artikel 27 beschäftigt sich mit der Arbeit und der Beschäftigung: „[D]ies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird“ (https://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/#27-artikel-27—arbeit-und-besch%C3%A4ftigung). Dieses Recht gilt nicht für die Beschäftigten der WfbM.
Nach Imke Klocke, der Geschäftsführerin der Werkstätten der Vereinigung für Jugendhilfe, sollten die Werkstattleistungen, die eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe haben und mit Steuergeldern finanziert werden, in Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes gegeben werden. Hierbei müssten die Unterstützungsangebote, die ein Mensch mit Behinderung am Arbeitsplatz braucht, im ersten Arbeitsmarkt gewährleistet werden. Das „könnte ein guter Erfolg sein“ (https://www.mdr.de/religion/interview-imke-klocke-geschaeftsfuehrerin-behindertenwerkstaetten-100.html). Das ist aber noch lange nicht in der Realität umgesetzt. So ist keine Lösung die WfbM zu schließen, denn das könnte zu vielen Ängsten und Verunsicherungen der Beschäftigten führen.
Anne Gersdorf von „JOBinklusive“, die selbst ein Mensch mit Behinderung ist, fordert hingegen die schrittweise Schließung der WfbM. Hierbei fordert die Initiative zum Beispiel den Mindestlohn. „Das kann aber nur ein erster Schritt sein, weil es an dem System eigentlich nichts verändert“ (https://www.mdr.de/religion/interview-anne-gersdorf-jobinklusive-100.html).
Jürgen Dusel, Beauftragter für Menschen mit Behinderung, ist der Meinung, dass der erste Arbeitsmarkt offener für Menschen mit Behinderung werden sollte. In Deutschland stellen mehr als 40.000 beschäftigungspflichtige Unternehmen keine Menschen mit Behinderung ein (https://www.youtube.com/watch?v=t1b-KASKUXA). Somit wird keine Alternative zu der WfbM angeboten und die Menschen mit Behinderung haben keine wirkliche Entscheidungsfreiheit.
Trotz der vielen Probleme, die bei dem Thema „Werkstätte für Menschen mit Behinderung“ aufkommen, wird es immer Menschen mit Behinderung geben, die den geschützten Rahmen einer WfbM bevorzugen und benötigen. Nichtdestotrotz muss jede:r die Möglichkeit haben, diese Entscheidung treffen zu können.
Dazu sind alte Strukturen und Vorurteile zu verändern. Industrie und die WfbM müssen sich aufeinander zubewegen, sodass die WfbM ein Teil der Lösung werden kann. So kann, wie angestrebt, mit den Werkstätten Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für den Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt geschaffen und gleichzeitig auch die nötige Sicherheit und Geborgenheit geboten werden. Der Mindestlohn wird in vielen Artikeln vehement als Maßstab eingefordert, ist aber für mich nur ein Merkmal einer Veränderung. Gesellschaftlich wäre eine breite Diskussion über den Wert von Arbeit und die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen für mich ebenso erstrebenswert.