„Ich kann nicht richtig lesen und schreiben“: Wie funktionale Analphabeten in Deutschland unbemerkt durch die Schule kommen und was das zur Folge haben kann

Viele von uns erinnern sich sicher noch an den alten Werbespot der „Alpha-Telefon“, in welchem ein Vater seine Tochter von der Schule abholt, und diese ihn bittet, ihr Gedicht vorzulesen. Er möchte der Situation ausweichen und als er schließlich erfolglos versucht ihr das Gedicht vorzulesen, fragt seine Tochter: „Papa, du kannst echt nicht lesen?“

So ergeht es vielen Menschen in Deutschland, denn laut der „Aktion Mensch“ ist jeder siebte Erwachsene funktionaler Analphabet. Anders als bei Analphabeten, welche keine Lese- und Rechtschreibkenntnisse besitzen, sind funktionale Analphabeten in der Lage Worte und Sätze zu schreiben oder zu lesen, jedoch wird der Sinn dahinter gar nicht oder nur mit Mühe verstanden. Der Großteil der gering literalisierten Erwachsenen hat einen Schulabschluss und mehr als die Hälfte einen Job. Wie lassen sich die Zahlen trotz Schulpflicht in Deutschland erklären und wie beschreiben Betroffene ihre Schulzeit? (https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/analphabetismus.html)

Julia Dotter (Von Studierenden für Studierende)

In einem Y-Kollektiv Film wird Martin interviewt. Er ist einer von rund 6,2 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland (Stand 2019) (https://alphabetisierung.de/2019/05/07/leo-studie-2018-6-millionen-erwachsene-sind-funktionale-analphabeten/) und 44 Jahre alt. Bereits in seiner Kindheit wurde eine Lese- Rechtschreibschwäche diagnostiziert. An seine Schulzeit hat er keine schönen Erinnerungen, denn schon in der Grundschule kam er nicht so gut mit wie seine Mitschüler*innen und wurde viel gemobbt. In der 5. Klasse kam er erst auf eine Waldorfschule und dann auf eine Förderschule, doch Lesen und Schreiben gelang ihm nie so richtig. Wegen Problemen in der Schule und wenig Unterstützung zu Hause, hat er erst mit 24 und nach 6 Jahren auf der Volkshochschule lesen und schreiben gelernt, wobei es ihm auch heute nicht leichtfällt. Lange Zeit hat er sich versteckt und sich immer wieder Ausreden einfallen lassen, um dem Lesen und Schreiben aus dem Weg zu gehen. Ausreden, wie die vergessene Lesebrille oder eine verletzte Hand begleiteten seinen Alltag. „Und Brille, da ist ja wieder Verständnis.“ Dies hatte auch soziale Folgen. Aus Scham und Angst vor negativen Reaktionen, vermied er engeren Kontakt zu anderen Menschen, wodurch er viele Jahre allein gewesen ist. Bereits ein Umzug ist für ihn mit Problemen verbunden, da er befürchtet sich in der neuen Umgebung nicht zurecht finden zu können. Als Lagerlogistiker wird Martin auf der Arbeit überall mit Buchstaben konfrontiert, was für ihn vor allem mit Stress verbunden ist. Beim Lesen der Lieferscheine, liest er nur das Wichtigste und bei Computerarbeiten hilft ihm auch mal ein Kollege. Sein Selbstbewusstsein leidet darunter, da er täglich mit seinen Problemen konfrontiert wird. Wenn ihr mehr darüber erfahren wollt, welche Strategien Martin im Alltag nutzt und wie der funktionale Analphabetismus sein Leben beeinflusst, könnt ihr euch gerne das ganze Video unter folgendem Link anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=-ksA2NPuuNw.

In derselben Reportage werden Betroffene in einer Hamburger Selbsthilfegruppe interviewt. So erzählt Gruppenmitglied Thorsten über seine Schulzeit: ,,Ich hab‘ mich da durchgewurschtelt […], ich hatte halt meine Schwierigkeiten in Deutsch, dass ich da nicht richtig lesen konnte und schreiben konnte […]. Ja, beim Diktat da hab ich wirklich Blut und Wasser geschwitzt.“ Weiter erzählt er, dass er unter Zeitdruck keine Schulaufgaben bearbeiten konnte und dadurch schlechte Noten bekam. Seine Noten konnte Thorsten durch mündliche Mitarbeit oder Hausaufgaben ausgleichen, sodass es in Deutsch für die Note 4 reichte. Am Ende erhielt er auch die mittlere Reife. Die Gruppenleiterin spricht hier von einer „pädagogischen 4“, welche ihrer Meinung nach häufig aus Hilflosigkeit vergeben wird, wodurch Betroffene sogar ihren Schulabschluss schaffen. 

Doch wie ist funktionaler Analphabetismus trotz Schulpflicht möglich? Urda Thiessen unterrichtet an der Berliner Schule für Analphabeten, die sich „Lesen und Schreiben e.V.“ nennt. Sie sagt dazu in einem Interview: „Nicht lesen und schreiben zu können ist für unsere Schüler*innen meist das kleinste Problem.“ Viele der Schüler*innen hätten mit ganz anderen Problemen wie Prügel, Missachtung, Vernachlässigung und Drogen zu kämpfen. Außerdem haben viele wenig Vertrauen in sich selbst. „Wie auch, wenn ihnen zu Hause immer wieder gesagt wurde, du kannst das doch sowieso nicht, das kapierst du nicht […]“ (https://www.welt.de/wissenschaft/article9750415/Wie-Analphabeten-in-Deutschland-unerkannt-bleiben.html). Oft werden Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche auch nicht erkannt, da Analphabetismus für viele Lehrkräfte in ihrem Studium nur auf freiwilliger Basis als Wahlfach eine Rolle spielt. Sobald Kinder mit Lese-Rechtschreib-Defiziten auf die weiterführende Schule wechseln, wird es immer schwieriger, diese individuell zu fördern. Doch mit einer gezielten Förderung durch speziell geschulte Lehrkräfte, könnte in den meisten Fällen dem funktionalen Analphabetismus entgegengewirkt werden (https://www.sueddeutsche.de/bildung/analphabetismus-an-schulen-man-kann-sich-durchmogeln-1.1566695).

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