Analphabetismus – Kleines Problem oder doch größer als man denkt?

Laut der Grundbildungsstudie Leo 2018 (https://leo.blogs.uni-hamburg.de/) weisen in Deutschland hochgerechnet 6,2 Millionen deutschsprechende Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren eine geringe Literalität auf. Das heißt, sie werden durch ihre schriftsprachlichen Kompetenzen in verschiedensten Lebensbereichen in der selbständigen Teilhabe eingeschränkt, da sie Schwierigkeiten haben Buchstaben, Wörter oder Sätze zu lesen oder zu schreiben (funktionaler Analphaetismus). Das bedeutet, dass sie keine Nachrichten, keine Zeitung, keine Bücher oder ähnliches einfach so lesen können, sondern unter großem Aufwand die Wörter und Sätze sinnvoll zusammenbasteln müssen, wobei es sogar einigen wenigen Menschen schwerfällt, auf der Buchstabenebene zu arbeiten.

„Zählt man diejenigen hinzu, die nur fehlerhaft schreiben können, aber noch nicht zu den funktionalen Analphabeten gezählt werden, sind weitere 10 Prozent der Auszubildenden betroffen“, so Dietmar Heisler, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Paderborn. Er geht davon aus, dass „in jeder Berufsschulklasse mindestens zwei funktionale Analphabeten sitzen, in Berufsvorbereitungsklassen möglicherweise sogar mehr“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/blockaden-und-vermeidungsstrategien/).

Johannes Ritter (Von Studierenden für Studierende)

In Deutschland ist in vielen Bundesländern ein sprachsensibler Unterricht im Lehrplan verankert. Grundsätzlich gilt es, den Umgang mit der deutschen Sprache generell zu fördern. Allerdings berichtet Ursula Baxmann, die am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung zuständig für Sprachbildung in der beruflichen Bildung ist, dass „auch wenn der Fachunterricht sensibel gestaltet ist, gering literalisierte Schüler oft kaum folgen [können]“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/blockaden-und-vermeidungsstrategien/). Die Lehrkräfte wären zwar sehr engagiert, allerdings fehle an beruflichen Schulen häufig das Fachwissen, um effektiv mit dem Problem umzugehen. Dieses Problem wird durch eine Aussage von Ilka Koppel, Juniorprofessorin an der PH Weingarten spezifiziert. Demnach haben gering literalisierte Schüler*innen unterschiedlichste Biografien und auch negative Lernerfahrungen hinter sich, allerdings sind viele Lehrkräfte nicht dafür ausgebildet, die verschiedenen sozialpsychologisch begründeten Ursachen zu erkennen und auf diese zu reagieren.  

Eine Sozialpädagogin und Lehrkraft für Alphabetisierung und Grundbildung, deren Name in dem Artikel geändert wurde, zeigt ein weiteres Problem auf. Die persönlichen Lebensumstände, also die Konflikte, Krisen oder Erkrankungen, die die Betroffenen durchlaufen, können die individuellen Bildungsbiografien ab dem Grundschulalter nachhaltig beeinflussen. Die psychosozialen Belastungen, die durch den Alltag entstehen, führen dazu, dass Kinder und Jugendliche nur noch unregelmäßig zur Schule gehen und sich nicht mehr auf den Unterrichtsinhalt konzentrieren können, wodurch die Schüler*innen unter anderem Blockaden und Vermeidungsstrategien aufbauen können, welche die Lernbiographie der Betroffenen zusätzlich erschwert. Die Sozialpädagogin bot innerhalb eines Projekts zehn Jahre lang an einem Berufskolleg in NRW eine individuelle Lese- und Schreibförderung in Kleingruppen mit maximal zwei Auszubildenden an, welche durch Curriculum, Stundenplan und personelle Ausstattung zu wenig Raum hatten.

Wie können diese Probleme also behoben werden? Eine allgemeingültige Lösung gibt es sicherlich nicht. Jedoch wäre eine Qualifizierung der Lehrkräfte an allen Schulformen hilfreich. Sprachstandserhebungen könnten konsequent und regelmäßig durchgeführt werden, um Betroffene frühzeitig zu erkennen und unterstützen zu können. Ein weiterer Schritt wäre also eine Sprach-, Lese- und Schreibförderung für Betroffene zu ermöglichen, die nicht ,wie im Beispiel der Sozialpädagogik, durch Lehrplan und weitere Faktoren behindert wird, sondern durch Zusammenarbeit gefördert wird. Einen Schritt, den wir alle machen können, ist mehr Aufmerksamkeit für Analphabetismus als auch für Förderangebote in diesem Bereich zu schaffen, aber auch Aufklärung, um zu verhindern, dass Betroffene stigmatisiert und ausgeschlossen werden.

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