(Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung durch Sprache
Vor kurzem war ich zu einer Tagung eingeladen, bei der das Thema „Partizipation und Leitung in der frühen Kirche“ diskutiert wurde. Dabei ging es unter anderem auch darum, die Teilhabe von Frauen an frühchristlichen Leitungsfunktionen aufzuzeigen. Diese in den Quellen eindeutig zu belegen, ist oft gar nicht einfach, da männliche Sprachformen – als generisches Maskulinum – den Blick auf mitgemeinte Frauen verstellen. Damit werden aber auf Männer zentrierte Textwelten entworfen, die wiederum in der Rezeption die Exklusion von Frauen argumentativ untermauern. Grammatikalisch männliche Formen haben nicht Wirklichkeit abgebildet, sondern geschaffen und in der realen Praxis jahrtausendelang zum Ausschluss von Frauen geführt (und tun dies teilweise noch immer).
Es ist das Verdienst kritischer exegetischer Rekonstruktionsarbeit, die in den Texten durchaus belegte inklusive Wirklichkeit aus dieser Unsichtbarkeit zu holen. Beispielsweise ergibt sich in der neutestamentlichen Briefliteratur aus beiläufigen Grüßen des Paulus an Mitarbeiterinnen ein partizipatives Bild von Diakoninnen, Gemeindeleiterinnen und Apostelinnen. Dabei verbirgt sich aber die leitende Funktion von Phoebe etwa als „Diakonin“ (bezeichnet mit der männlichen Singularform diakonos in Röm 16,1) häufig hinter einer unspezifischen Übersetzung als „Dienerin“ oder verbalen Umschreibungen. Bei Junia, die in Röm 16,7 als „ausgezeichnet unter den Aposteln (und Apostelinnen)“ bezeichnet wird, musste die jahrhundertelange Geschlechtsumwandlung zu einem Junias erst wieder rückgängig gemacht werden. Hier haben aus männerzentrierten Textwelten generierte Vorstellungen und Denkmuster sogar zu korrigierenden Texteingriffen geführt: eine Frau als Apostel*in? Das kann nicht sein – das Apostelamt ist Männern vorbehalten. Doch offenbar war es das nicht.
In den gängigen Übersetzungen der entsprechenden Pluralformen von Leitungsbezeichnungen werden Frauen jedoch auch heute weithin nicht sichtbar. Auch in Vorträgen und Publikationen, die das generische Maskulinum verwenden, wird, auch wenn Frauen mitgemeint, aber nicht genannt sind, deren Teilhabe verdunkelt. Dies ist aber nicht harmlos im Sinne von harmless, keinen Schaden verursachend: Denn indem Sprache Realitäten schafft, hat diese Unsichtbarmachung nach wie vor reale Konsequenzen. Angestoßen durch das Engagement von Frauen- und Geschlechterforschung ist es gelungen, mit Kreativität inklusive, geschlechtersensible Sprachformen zu entwickeln, welche Menschen einbeziehen und nicht diskriminierend ausgrenzen. Nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart geht es um die Frage von (Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Beteiligung. Doch es ist ein fragiler Erfolg, wie aktuelle amtliche „Genderverbote“ zeigen.[1] Diese müssen sich wie Exklusionsstrategien der Geschichte auf damit verfolgte Machtpolitiken befragen lassen. Die geforderte Klarheit ist mit dem generischen Maskulinum nicht gegeben. Sprachverbote gerade an Bildungsinstitutionen behindern den Auftrag zur Vermittlung von Menschenrechtsbildung und kritischem Denken und verstoßen grundsätzlich gegen die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre.
[1] Mehrere Bundesländer wie Bayern oder Hessen haben in den letzten Monaten Verbote zum Gebrauch geschlechtergerechter Sprache an Schulen, Hochschulen und in öffentlich-rechtlichen Medien verordnet bzw. angekündigt.
Prof. Dr. Andrea Taschl-Erber verantwortet den Bereich Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.
Was heißt Frieden? Wie und wo wird er in den Traditionen gesucht, wie und wo wird er (nicht) gefunden? Darf auf Frieden gehofft werden? Kann gemeinsam für den Frieden gebetet werden? Wie kann er als fragiles Gut erhalten werden in einer Zeit voller globaler und gesellschaftlicher Konflikte? Inwiefern und in welchem Rahmen kann Universität, Forschung und Dialog dazu beitragen? Wie können konstruktive religiös-politische Anstöße in Zeiten dieser Konflikte entfaltet werden? Sind Humanisierungs- und Pazifizierungsstrategien möglich und findbar? Wo und wann trifft der Dialog der Theologien auf seine Grenzen?
Diese und andere Fragen umgarnen auch unser Verbundprojekt, welches das Ziel hat, Komparative Theologie an der Universität mit den gesellschaftlichen Akteuren und Orten, die das Sichzueinanderverhalten der religiösen Traditionen betreffen, miteinander ins Gespräch zu bringen, Impulse zu setzen und mögliche Orientierungspunkte zu markieren. Da Komparative Theologie das Ziel hat, in Bezug auf bestimmte Fragestellungen vom jeweils Anderen zu lernen, braucht es dafür nicht nur geeignete Orte, Formate und Begegnungen, um Wege für Antworten zu suchen. Es braucht auch Akteure, die sich auf diese Versuche einlassen, sie gestalten und Einblicke in die jeweils eigene Tradition zulassen, sich berühren lassen vom jeweils Anderen und zugleich kritisch mit der eigenen und den anderen Traditionen umgehen können.
In den Formaten des ZeKK in diesem Jahr, die sich an das Thema des Friedens annähern, ist das bisher auf unterschiedlichen Wegen versucht worden. In einer gemeinsamen Podiumsdiskussion unter dem Titel „Der rechte Ring war nicht erweislich … – Lessings Ringparabel im Spiegel der Religionen“ veranstalteten das Theater Paderborn und das ZeKK im Februar anlässlich der Aufführung von „Nathan der Weise“ ein gemeinsames Podiumsgespräch zu der Frage, ob Lessings Toleranzgedanke in der Ringparabel uns heute noch etwas zu sagen hat oder ob der Idealismus der Aufklärung vor den Gräueltaten des 20. und 21. Jahrhunderts kapitulieren muss. Das ganze Gespräch ist auf dem Forum für Komparative Theologie abrufbar.
Letzte Woche hat ein multireligiöses Friedensgebet mit Beiträgen aus Judentum, Christentum und Islam stattgefunden, welches von Musik gerahmt worden ist. Während alle Beiträge der Traditionen nebeneinander für sich gestanden haben, wurde trotzdem für einen gemeinsamen, unteilbaren Wunsch nach Frieden zusammengefunden. Gemeinsam auf den Weg gemacht haben sich dafür die Teams aus Bonn und Paderborn, die am Verbundprojekt mitwirken und hier einen Einblick gewähren.
Ebenfalls in der letzten Woche hat auch der Auftakt der Paderborner Friedensgespräche stattgefunden. In dieser Reihe geben Referent*innen je aus islamischer, jüdischer und christlicher Perspektive Impulse zu der Frage nach dem Frieden in der je eigenen Tradition und kommen danach mit Respondees aus den anderen Traditionen und dem Publikum ins Gespräch darüber, was sie beschäftigt, irritiert, berührt, vor Fragen stellt oder bei ihnen Resonanzen schafft. Den Beginn gestaltete der Islam- und Politikwissenschaftler Dr. Sameer Murtaza von der Stiftung Weltethos im AStA Gewölbekeller, der mit Dr. Domenik Ackermann und Yael Attia ins Gespräch gegangen ist. Auch der Vortrag wird zeitnah zur Verfügung gestellt (Foto s. unten).
Am 19. Juni gehen die Friedensvorträge mit einem Vortrag von Rabbinerin Elisa Klapheck unter dem Titel „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ im Historischen Rathaus Paderborn weiter. Wer vorbeischauen möchte, kann sich noch bis zum 10. Juni anmelden, um im Anschluss bei einem gemeinsamen Empfang in den Austausch mit allen Gästen und Beteiligten zu gehen.
Sarah Lebock ist Geschäftsführerin vom und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften sowie Koordinatorin des Verbundprojekts zum Transfer Komparativer Theologie in die Gesellschaft.
Am 25. und 26. April 2024 fand in Siegburg das 1. Forum differenzsensible Religionspädagogik unter dem Motto MenschensBilder statt. Dieses Forum steht gewissermaßen in der Tradition des Forums für Heil- und Religionspädagogik, das von 2000 bis 2020 alle zwei Jahre stattgefunden hat. Und doch ist es ganz anders gewesen als die Jahre zuvor. Dem diesjährigen Forum ging ein partizipativer und kreativer Gestaltungsprozess voraus, in dem kleine Knetfiguren die ersten MenschensBilder des Forums waren.[1]
Auf die Frage „Und, wie fandest du das Forum?“ kam im Anschluss an die Veranstaltung meistens die Antwort „Es war so ganz anders als bei anderen Tagungen.“ Die Differenz zum bekannten Tagungsformat mit zahlreichen Vorträgen und kurzen Kaffeepausen war beabsichtigt und spiegelte sich auch im Programm wider, in dem es offene Phasen gab, in denen verschiedene Angebote wahrgenommen und Pausen individuell gestaltet werden konnten. Für mich war das einer der auffälligsten konzeptionellen Aspekte von Differenzsensibilität, die dadurch nicht nur als Forumsinhalt zur Geltung kam. Denn Menschen sind unterschiedlich lang aufnahmefähig und benötigen in unterschiedlichen Rhythmen Unterbrechungen und Erholungsphasen.
Inhaltlich wurde Differenzsensibilität in der Reflexion des eigenen Umgangs mit MenschensBildern erfahrbar. Wie sehe ich Menschen? Wie gehe ich auf sie zu? Welche Unterschiede sehe und mache ich in meinem beruflichen Alltag? Wie bewerte ich Differenzen? In dem Dreischritt Rekonstruktion, Dekonstruktion und Konstruktion fand die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auf methodisch vielfältige Weise statt. Von der Gurkentruppe über das Kasperletheater bis zur praxistheoretischen Analyse von Unterrichtsvideos war fast alles dabei. Theaterpädagogisch begleitet wurden die drei Phasen auch performativ durchlebt. Dadurch wurde ein Neujustieren von MenschensBildern möglich. Welche Unterschiede sind wann wie wichtig? Und welche eher nicht? Und am Ende wurde deutlich: Es muss nicht immer Entweder-Oder sein. Differenzsensibilität heißt oftmals auch, Ambivalenzen auszuhalten – und das ganz besonders in (religions-)pädagogischen Kontexten.
Eine Besonderheit des 1. Forums differenzsensible Religionspädagogik wurde gleich zu Beginn erkennbar: Das Format der Veranstaltung führte dazu, dass Differenzen, die im Arbeitskontext häufig sehr hoch gewichtet werden, vor Ort ausgehebelt wurden. Durch die Struktur und den Ablauf wurde unwichtig, welche berufliche Position die Teilnehmenden jeweils besetzen. So kam es in mehreren Situationen zu Überraschungsmomenten, wenn sich jemand als Lehrer*in, Gemeindepädagog*in oder Professor*in geoutet hat. Die von Irritation geprägte Frage „Wie, du bist …??? Das hätte ich ja gar nicht vermutet!“ wurde dadurch mehrfach zum Ausdruck des Hinterfragens eigener MenschensBilder.
Zusammengefasst habe ich das Forum unter dem Motto MenschensBilder als Veranstaltung wahrgenommen, in der Form und Inhalt harmonieren und kreative Prozesse anstoßen. Weitere Informationen zum Forum differenzsensible Religionspädagogik sind hier zu finden.
#differenz #forum #religionspädagogik
[1] An der Planung waren mehrere Personen aus unterschiedlichen Institutionen beteiligt, die Universität Paderborn war durch Prof. Dr. Dr. Oliver Reis (Institut für Katholische Theologie) und Anna Neumann (Institut für Evangelische Theologie) vertreten.
Jun.-Prof. Dr. Vera Uppenkamp ist Juniorprofessorin für Evangelische Religionspädagogik am Institut für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität Lüneburg.
Die Digitalisierung bewegt uns alle, ob privat, im Lehrkontext oder im Hinblick auf die Entwicklung unserer Gesellschaft. Neue Technologien bringen nicht nur ethische Herausforderungen mit sich, sondern lassen uns auch grundlegende Fragen neu stellen: Wie verstehen wir uns als Menschen? Welche grundlegenden Eigenschaften des Menschseins sind durch die kommenden Entwicklungen in Gefahr? Welche Art von Beziehung zu anderen Menschen erachten wir als notwendig für ein gelungenes Leben? Das sind alles Fragen der Anthropologie, ein Fach, das sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in Philosophie und Theologie angesiedelt ist: ein ideales Thema für unser Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.
Doch welchen Mehrwert hat es, wenn Theologinnen und Theologen sich mit diesen Fragen beschäftigen? Erstens unterscheidet sich das Menschenbild bestimmter religiöser Traditionen in manchen Punkten von einem säkularen oder gar naturalistischen Verständnis. Zweitens könnten gesellschaftlich-technologische Entwicklungen wichtige Voraussetzungen für den Glauben unterminieren, wie etwa Religionsfreiheit, die Möglichkeit von Spiritualität und Charakterformung oder Kontingenzbewusstsein. Drittens gibt es spezifische Herausforderung wie auch Chancen von künstlicher Intelligenz und virtueller Realitäten für die religiöse Praxis: Kann und darf man digital Eucharistie feiern oder virtuell nach Mekka pilgern? Kann und darf man menschliche Bewusstseine technologisch verbinden, um eine religiöse Einheitserfahrung zu erlangen? Sollte man religiöse Gefühle mithilfe von spirituellen Enhancements auch denen ermöglichen, die sich als „religiös unmusikalisch“ verstehen?
All diesen Fragen geht die aktuelle Ringvorlesung „Anthropologie der Digitalisierung“ des Zentrums für Komparative Theologie nach. Den Auftakt hierzu machte in der vergangenen Woche Professor Benedikt Schmidt von der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte in Freiburg bei Eberhard Schockenhoff zum Verhältnis von autonomer Vernunft und Offenbarung in der theologischen Ethik. Unter der Leitfrage „Wie kann ich der werden, der ich sein soll?“ stellte der Gastreferent eine mögliche Perspektive theologischer Ethik auf die Digitalisierung vor.
Schmidt nannte Elon Musk „einen der großen Visionäre unserer Zeit“. Allerdings müsse das Versprechen der Digitalisierung, den Menschen als Objekt visionärer Gestaltung zu betrachten, anthropologisch und ethisch eingeordnet werden. Anhand des Themenfeldes der öffentlichen Kommunikation arbeitete Schmidt beispielhaft heraus, welche Gefahren etwa für die Demokratie bestehen, wenn der öffentliche Diskurs sich in großen Teilen auf privatwirtschaftliche, gewinnorientierte Plattformen verlagere. Der Deutsche Ethikrat habe unmissverständlich auf negative Entwicklungen hingewiesen.
Eine vollkommen „smarte Ordnung“, in welcher die Bedürfnisse der Menschen zwar bestmöglich befriedigt wären, liefe der Selbstbestimmung des Menschen zuwider. Diese Selbstbestimmung des Menschen stellte Schmidt als zentrales ethisches Kriterium bei der Bewertung der Digitalisierung dar.
Schmidt stellte anschließend drei Leitbilder des guten Lebens vor: Elon Musk stand stellvertretend für die „digitale Existenz“ der „Ingenieure“; Friedrich Nietzsche wurde als Vertreter der „ästhetischen Existenz“ der „Genies“ herangezogen; Repräsentant der „religiösen Existenz“ der „Heiligen“ war Jesus. Das Leitbild der „religiösen Existenz“ unterscheidet sich vom Leitbild der „digitalen Existenz“ vor allem durch die Dimension der Transzendenz, die unbedingte Affirmation der Person (auch durch Selbstliebe), das sittlich Gute als Werthorizont sowie das relationale Eingebundensein in eine Beziehungswelt. Gemeinsam seien den drei Leitbildern jeweils Formen der Selbstüberwindung.
Meine Einschätzung: Technologien können uns nicht dabei helfen, eine Vorstellung des guten Lebens zu erhalten. Vielmehr besteht die Gefahr, dass verschiedene Interessengruppen versuchen, mithilfe digitaler Technologien uns Werte und Ziele zu „implantieren“, die letztlich nicht zu einem gelungenen Leben führen. Wenn wir allerdings einen klaren Kompass, klare Leitbilder, klare Vorstellungen von einem „guten Leben“ haben – ob nun philosophisch oder religiös begründet – dann können wir neue Technologien verantwortungsvoll nutzen, um diesem Ziel schrittweise näher zu kommen.
PD Dr. Johannes Grössl vertritt aktuell die Professur für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn.
Religious culpability is the sense of duty or accountability that people experience in the context of their religious beliefs and behaviors. It includes the moral, ethical, and spiritual aspects of faith, which shape people’s conceptions of right and wrong and influence their behaviors and decisions.
At its core, religious culpability is rooted in the belief that individuals are accountable for their actions before a divine authority or moral standard. Many religious traditions teach that adherence to religious teachings and principles is essential for leading a virtuous and righteous life. When individuals deviate from these standards or commit moral transgressions, they may experience feelings of guilt, remorse, or self-reproach. This sense of moral responsibility is intrinsic to religious identity and shapes believers‘ understanding of their relationship with the divine.
The causes of religious culpability are multifaceted and may vary depending on individual beliefs, cultural influences, and religious teachings. Moral failings, such as lying, cheating, or harming others, can trigger feelings of guilt and remorse. Religious scrutiny, whether internal or external, may lead individuals to judge themselves harshly for perceived moral lapses or deviations from religious norms. Additionally, religious upbringing, parental influences, and societal expectations can shape individuals‘ beliefs about morality and contribute to the development of religious culpability.
The implications of religious culpability are significant and can have far-reaching effects on individuals‘ psychological, social, and spiritual well-being. Religious culpability can cause psychological symptoms such as anxiety, sadness, or low self-esteem. Believers may endure inner anguish as they struggle with emotions of worthlessness or inadequacy in their connection with the divine. Religious guilt may have an influence on interpersonal relationships and communal dynamics, since people may feel pressured to comply to religious standards or expectations.
Despite its potential harmful implications, religious culpability may also act as a spur for moral development and ethical thinking. It can encourage people to admit their sins, ask for forgiveness, and strive for moral growth. Individuals may endeavor to atone for their perceived faults and restore their sense of moral integrity by engaging in acts of repentance, charity, or religious practice.
To summarize, religious culpability is an important part of religious experience, expressing people’s feeling of moral obligation and accountability within their faith traditions. While it may cause psychological suffering and interpersonal strife, it may also provide moral inspiration and spiritual refreshment. Religious leaders and believers may negotiate the challenges of religious guilt by cultivating empathetic, supportive communities and encouraging ethical contemplation and moral growth.
Nadia Saad ist ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.
Das Wort „Religion“ ist im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache gekommen. Rasch hat man es in Verbindung mit dem Wort „Freiheit“ gebraucht. Die Koppelung von „Religion und Freiheit“ wurde zu einer festen Redewendung – einer von vielen, in denen das mehrdeutige neue Wort erschien. Gemeint war damit die Freiheit von Landesherrn und Stadtregierungen, für ihre Gebiete vom alten Glauben der lateinischen Kirche abzugehen und einen neuen, den lutherischen Glauben für verbindlich zu erklären. Unter diesem obrigkeitlichen Schutz erhielt eine Glaubensgemeinschaft, die eine Minderheit darstellte, das Recht, ihren Glauben zu bekennen, zu lehren, durch neue Formen von Andacht und Gottesdienst auszuüben. Entscheidend war, dass diese Glaubensfreiheit durch den Reichstagsabschied von 1555 rechtlich festgeschrieben wurde. Als „Augsburger Religionsfriede“ bezeichnet, sprachen die Lutheraner diesem Gesetz Verfassungsrang zu. Mit ihm wurde die Religionsfreiheit zu einem Bestandteil der allgemeinen Rechtsordnung gemacht – insofern politisiert. Politisch war die Religionsfreiheit, weil sie den Landesherrn und Städten ein Recht gab, das zuvor beim Kaiser gelegen hatte. Er hatte sich als Schutzherr der Kirche gesehen. D.h. Religionsfreiheit hieß in Deutschland Verlagerung von Hoheitsrechten zu den Regionalgewalten – eine Weichenstellung in Richtung föderaler Verfassungsordnung. Politisch war die Religionsfreiheit aber auch, weil sie seit damals stets als Bestandteil von öffentlicher Ordnung begriffen wurde: als Verfassungsrecht. Religionsfreiheit wurde zu etwas, das alle angeht, nicht nur die Glaubensgruppen, die sie schützt. So ist das bis heute geblieben, auch wenn es noch einer langen Entwicklung bedurfte, ehe Religionsfreiheit auch die Bedeutung von persönlicher Gewissensfreiheit annahm – oder das Recht, keine Religion zu haben, vor Bekenntniszwang geschützt zu sein.
Prof. Dr. Johannes Süßmann ist Professor am Historischen Institut im Bereich Frühe Neuzeit an der Universität Paderborn.
Angesichts der Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten werden vielerorts Friedensgebete gehalten. Der Friede wird dabei von Gott erbeten, mit anderen Worten: Friede wird als Gabe Gottes verstanden. Wird Friede christlicherseits somit als etwas verstanden, das ausschließlich auf Gott zurückgeht, sodass Menschen nichts dazu beitragen können?
Diese Frage ist mit Bezug auf biblische Aussagen wie in Psalm 34, 15 mit einem „Nein“ zu beantworten. Dieser Psalmvers hat folgenden Wortlaut: „Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ Er war der Losungstext für den 10. Januar dieses Jahres. Der zu dieser Losung ausgesuchte neutestamentliche Lehrtext lautet: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Römer 14, 19). In diesen beiden Bibelversen begegnet nicht die Vorstellung von Frieden als einer Gabe Gottes, die nur erbeten werden kann, sondern vielmehr die eines Ziels, das Menschen erreichen sollen und können. Heißt dies, dass der Friede keine Gabe Gottes ist, die erbeten werden kann? Nein, Friede ist eine Gabe Gottes – eine Gabe freilich, die mit einer Aufgabe verbunden ist, der Aufgabe, sich für den Frieden einzusetzen, ihn zu suchen, ihm nachzujagen und dem nachzustreben, was ihm dient, um es mit den Worten dieses Losungstextes und dieses Lehrtextes zu sagen.
Wenn Friede keineswegs selbstverständlich ist, sondern Engagement seitens der Menschen erfordert, stellt sich die Frage, wie dieses Engagement konkret Gestalt annehmen kann. Im Neuen Testament ist die Antwort auf diese Frage die Forderung der Feindesliebe – zweifellos die schwerste Forderung an Jesu damalige Jünger*innen wie auch an alle später lebenden Menschen, die sich bemühen, ihr Leben in der Nachfolge Jesu zu gestalten.
Wie kann sie gelebt werden, die Feindesliebe? Als conditio sine qua non ist die Bereitschaft zur Vergebung zu nennen. Auch sie – die Bereitschaft, zu vergeben – hat im christlichen Glauben und seiner gelebten Praxis einen hohen Stellenwert – einen so hohen, dass sie im bedeutendsten christlichen Gebet, dem Vaterunser, ihren Ort hat: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Die Vergebung, um die mit diesen Worten gebeten wird, ist ebenso lebensnotwendig wie das tägliche Brot, um das Gott in der unmittelbar vorhergehenden Bitte gebeten wird. Und so sind diese beiden Bitten durch das Wort „und“ miteinander verbunden: „Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld“. Die Bitte im Vaterunser, in der um Vergebung gebeten wird, ist in aller nur möglichen Kürze formuliert: „Und vergib uns unsere Schuld“. Aber auf diese Bitte folgt ein Nachsatz. Allein dies ist bemerkenswert, denn diese Bitte ist die einzige im gesamten Vaterunser, die mit einem Nachsatz versehen ist. Dieser Nachsatz lautet: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Damit werden göttliches und menschliches Handeln zueinander in Beziehung gesetzt. Christ*innen, die letztlich immer auf die Vergebung durch Gott angewiesen sind, können ihn nicht aufrichtig um seine Vergebung bitten, wenn sie selber nicht bereit sind, ihren Nächsten zu vergeben, die ihnen gegenüber schuldig geworden sind. Dem entspricht die Aussage, die im Matthäusevangelium unmittelbar auf das Vaterunser folgt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14f.).
Damit diese Erkenntnis jedoch nicht zu einer belanglosen theologischen Richtigkeit verkommt, sondern gelebt werden kann, gilt es wahr- und ernstzunehmen, wie schwer es ist, Menschen zu vergeben, unter denen man gelitten hat. Vergebung gehört zu den Begriffen, die nicht leichtfertig in den Mund genommen werden sollten. Denn er benennt eine der schwersten Herausforderungen, vor die Menschen gestellt werden können. Christoph Huppenbauer hat in seinem vor zehn Jahren erschienenen Buch ‚Vergebung – Zumutung des Glaubens. Herausforderung für kirchliches Handeln‘ (Rosengarten bei Hamburg: Steinmann Verlag 2014) herausgestellt, wie schwer es für Opfer von Gewalt ist, Vergebung zu praktizieren – und zugleich aufgezeigt, dass der Vergebung eine befreiende Kraft innewohnt, die den Teufelskreis von Vergeltung, von Rache durchbrechen kann. Die Möglichkeit der Vergebung ist etwas überaus Wertvolles; sie kann den Weg zu Versöhnung und Frieden ebnen.
Aber die Möglichkeit der Vergebung kann auch pervertiert werden, wenn von den Opfern von Gewalt, sei es direkt, sei es indirekt, eingefordert wird, sie müssten den Täter*innen, die ihnen Gewalt angetan haben, vergeben. Die am 25. Januar dieses Jahres der Öffentlichkeit präsentierte Aufarbeitungsstudie ForuM zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie und die anschließende Auseinandersetzung mit dieser Studie zeigen, dass eben dies geschehen ist, indem Opfer sexualisierter Gewalt unter moralischen Druck gesetzt worden sind, ihren Täter*innen zu vergeben. Die Forderung zu vergeben dürfen Menschen nie an andere stellen, sondern – wenn überhaupt – nur an sich selbst. Und auch dies ist kritisch zu hinterfragen, denn jemand sollte nur dann vergeben, wenn er bzw. sie dazu in der Lage ist, und nicht, weil er bzw. sie moralischen Maßstäben genügen möchte, die eine Überforderung darstellen können.
Bedeutet dies nun, dass Feindesliebe und Vergebung realitätsfern sind? Nein; es gibt zutiefst ermutigende Beispiele dafür, dass es gelingen kann, Feindesliebe und Vergebung nicht nur in der Theorie gutzuheißen, sondern in der Praxis eines Lebens, das durch erlebte und erlittene Gewalt zutiefst geprägt ist, zu leben. Ein Beispiel dafür ist der Parents Circle, ein Zusammenschluss von mehr als 500 israelischen und palästinensischen Familien, die durch den Konflikt zwischen ihren Völkern Kinder oder nahe Angehörige verloren haben und sich gemeinsam für Versöhnung, Dialog und Frieden einsetzen. Diese Initiative wurde bereits mit etlichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Dass israelische Eltern, deren Kind von Palästinensern getötet wurde, und palästinensische Eltern, deren Kind von Israelis getötet wurde, sich treffen, um sich gemeinsam für den Frieden zwischen ihren beiden Völkern einzusetzen, zeigt, dass Feindesliebe möglich ist.
Die christliche Feindesliebe kann also den Weg zu Frieden ebnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sämtliche Christ*innen dies als den einzigen Weg zum Frieden ansehen und somit Pazifist*innen sind. Christ*innen bilden als Kirche einen Teil der Gesellschaft ab; gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, wie Friede erreicht werden kann, in der Gesellschaft, so gibt es sie auch in der Kirche. Um auch dies anhand von konkreten Beispielen darzulegen: Der frühere Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes hatte im Jahr 1993 anlässlich des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zum militärischen Eingreifen in Bosnien aufgerufen und sich dabei auf den Artikel 16 der Confessio Augustana (Augsburgisches Bekenntnis von 1530) berufen, in dem vom „bellum iustum“, vom „gerechten Krieg“, die Rede ist. Dies löste damals eine heftige Kontroverse innerhalb der Kirche aus. Diese Debatte erlebte in unseren Tagen gleichsam eine Neuauflage, als Annette Kurschus, die mittlerweile ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die Auffassung vertrat, dass Waffenlieferungen an die Ukraine mit christlichen Grundsätzen zu vereinbaren seien. In einem online veröffentlichten Interview des Nachrichtenmagazins ‚Spiegel‘ sagte sie: „Die Menschen in der Ukraine haben ein Recht auf Verteidigung. Und es gibt auch das christliche Gebot der Nothilfe, wenn Menschen ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden.“ In einer weiteren Äußerung hat sie die Waffenlieferungen ebenfalls direkt mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht: „Waffen für die Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.“ Diesen Aussagen von Annette Kurschus wurde von anderen Christ*innen z.T. heftig widersprochen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Margot Käßmann, ebenfalls ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, spricht sich mit Vehemenz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus, da diese dem Frieden nicht dienen würden. Auch in der Stellungnahme ‚Christ*innen sagen Nein zu Waffenlieferungen und Aufrüstung‘ von einer Gruppe von Pfarrer*innen der württembergischen Landeskirche wird die Auffassung vertreten, dass eine militärische Unterstützung der Ukraine keine dauerhafte Friedensperspektive biete (vgl. Susanne Büttner, Zum andauernden Krieg in der Ukraine. Württembergischer Friedensaufruf zum Reformationstag an Kirche und Politik, in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 123, 11/2023, S. 700f.). Diese Vielfalt von Positionen gibt es in der Kirche; sie muss in der Kirche ausgehalten werden und sie kann auch ausgehalten werden.
PD Dr. Hans-Christoph Goßmann ist Privatdozent an der Universität Paderborn im Bereich Religionspädagogik/ Praktische Theologie am Evangelischen Institut.
„Bist du behindert?!“ schallt es über den Schulhof. Ich bin ehrlich, an der Universität habe ich es auch schon gehört. Das sagt man halt so. Doch was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn „behindert“ ein Schimpfwort ist? Behindert im Sinne der Beschimpfung ist etwas, das man auf keinen Fall sein will. Jemanden so zu nennen, soll verletzen und beschämen. „Behindert“ als Schimpfwort zu nutzen ist ableistisch. Ableismus – ein Begriff, der noch kaum bekannt ist, den aber alle kennen sollten; ein Begriff, der irritiert und oft Fragen aufwirft. Brauchen wir noch mehr Anglizismen, fragen die einen. Die anderen nuscheln, was man denn da noch sagen darf. Und wieder andere sind froh, dass dieser Begriff sie sprachfähig macht und sie damit behinderungsbezogene Ungleichserfahrungen benennen können.
Ableismus geht auf das englische „to be able“ (fähig sein) zurück und meint die Orientierung an einer nichtbehinderten Norm. Ähnlich wie andere -ismen ist Ableismus durchdrungen von Macht und Herrschaftsverhältnissen. Er orientiert sich an dem Ideal eines leistungsfähigen, autonomen, nichtbehinderten Subjekts und bewertet behinderte Menschen als weniger wert oder unfähig. Er wirkt sich aus in Klischees und Generalisierungen, wenn z.B. der Rollstuhl die erste Assoziation ist[1], obwohl die Gruppe der behinderten Menschen höchst heterogen ist. Behinderung kann sichtbar oder unsichtbar sein, ist in den wenigsten Fällen angeboren, sondern wird meist im Laufe des Lebens erworben. Die Aussicht, eines Tages dieser Gruppe anzugehören, die ca. 10% der Bevölkerung in Deutschland ausmacht, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Und vielleicht ist genau dies der Grund für den ableistischen Abgrenzungsmechanismus und die krampfhaft konstruierte Binarität zwischen Behinderung und Nichtbehinderung (, die alltagssprachlich oft mit „Normalität“ verwechselt wird)?
Im Gegensatz zur „Behindertenfeindlichkeit“ kann sich Ableismus nicht nur in einer ab-, sondern auch aufwertenden Intention zeigen, z.B. verdeckt als gut gemeintes Kompliment: in der Bewunderung, wie held*innenhaft jemand trotz der Behinderung das Leben meistert, in unpassenden und ungefragten Hilfeleistungen oder in der Aussage „irgendwie sind wir doch alle behindert“. Ableismus zeigt sich in dem Reden über, aber nicht mit Behinderten, darin, dass Nichtbehinderung vorausgesetzt, Behinderung jedoch nicht mitgedacht wird und in der fehlenden (medialen) Repräsentation. Oder können Sie ohne Umschweife drei behinderte Menschen aus der Öffentlichkeit nennen?
Ableismus betrifft uns alle. Wir sind ableistisch sozialisiert, egal, ob wir mit oder ohne Behinderung leben, haben ableistische Denkmuster internalisiert und leben bzw. erfahren Ableismus auf zwischenmenschlicher, struktureller und ja, auch auf transzendentaler bzw. theologischer Ebene. Ableismus aufzudecken, zu benennen und zu verlernen, ist nicht zuletzt auch eine theologische Herausforderung, der es sich zu stellen gilt.[2] Wird Behinderung nicht nur als eine Heterogenitätsdimension wertschätzend und differenzsensibel betrachtet, sondern ebenso im Zusammenhang mit Ableismus und Ableismuskritik ernstgenommen, kann und wird dies in verschiedensten Bereichen selbstkritische Reflexions- und Transformationsprozesse anstoßen. Und vielleicht trägt das dann dazu bei, dass Menschen mit Behinderung nicht nur als Forschungsobjekte oder Adressat*innen barmherziger Nächstenliebe, sondern vielmehr als theologische Subjekte auftreten, auf die frei von Ableismus „behindert“ als ein Attribut neben vielen anderen zutrifft.[3]
[1] Das Bild des symbolischen „Rollifahrers“ ist häufig die erste Assoziation, die Menschen mit dem Thema Behinderung verknüpfen. Bewusst wurde es hier als Provokation gewählt, um eigene Behinderungsbilder zu hinterfragen.
[2] Als mögliche Startpunkte für die Entwicklung einer ableismuskritischen nennt Marie Hecke zwei theologische Inhaltsfelder, die häufig im Zusammenhang mit Behinderung stehen: 1. Die „Überwindung“ von Behinderung in eschatologischen Texten oder die Auslegung neutestamentlicher Heilungswunder als Normalisierungsgeschichten. Vgl. Hecke, Marie: Ableismuskritische Theologie, in: Glossar des Genderportals der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. https://gender.kiho-wuppertal.de/ableismuskritische-theologie/ , 03.03.2023.(Stand: 24.04.2024).
[3] Das 2023 gegründete Netzwerk Dis/Ability und Theologie bietet Wissenschaftler*innen, die an der Schnittstelle von Theologie und Disability Studies arbeiten, Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten. Aus den jeweiligen Theologien und ihren theologischen Disziplinen heraus zeigt sich die Perspektivenvielfalt auch in den individuellen Körpererfahrungen, d.h. als Ally oder als Forschende mit sichtbarer oder unsichtbarer Behinderung, egal ob diese benannt werden oder nicht. Wer Interesse an der Aufnahme in den Netzwerkverteiler hat, melde sich bitte bei Dr. Marie Hecke (marie.Hecke@kiho-wuppertal.de) oder Anna Neumann (anna.neumann@upb.de).
Anna Neumann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Paderborn im Bereich Religionspädagogik.
Yoga bedeutet Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen und in den Schriften des Yoga – wie dem Yoga Sûtra des Patañjali – liest man, dass das Ziel von Yoga die Erleuchtung ist (vgl. Desikachar 52011: 51-53; 101). Wie passt das mit den Aussagen von Yoga-Lehrenden zusammen, die ich immer wieder während meiner Ausbildungen zur Yogalehrerin gehört habe?: “Yoga ist eine Philosophie, eine Lebensweise, die alle Menschen praktizieren können – unabhängig ihrer Religion.” Stellt das nicht einen Widerspruch zum Ziel der Erleuchtung?
In seinem Ursprung ist die Yoga-Philosophie mit Religion verknüpft (vgl. Großmann & Rübesamen 2015). Im 6. Jahrhundert vor Christus stand Yoga mit religiösen Ritualen im Zusammenhang, deren Ziel das Erreichen von Erkenntnis oder auch Erleuchtung war (vgl. ebd.; vgl. Bucar 2022: 150). Dieser Gedanke des Yoga findet sich heute “vor allem in seiner säkularisierten Form als ‘Hingabe an eine höhere Macht’: Spiritualismus statt Religion” (Großmann & Rübesamen 2015) wieder. Genauer gesagt wurde die Vedanta Metaphysik in viele Praktiken aufgenommen, die wir heute Yoga nennen. Die Yogatraditionen haben also in dieser Weltanschauung ihren Ursprung. Und eben diese Weltanschauung der Vedanta kann als religiös verstanden werden, da in ihrem Zentrum ein heiliges Bewusstsein jenseits der menschlichen Erfahrung steht (vgl. Bucar 2022: 152). Somit sind Aussagen wie “connect with your energetic source” eigentlich vage Bezüge auf die Vedanta Metaphysik (vgl. ebd.). Auch K. Pattabhi Jois – der Begründer des Ashtanga Yoga – sagte, dass Yoga-Praktizierende Gott in sich erleben würden, ob sie wollen oder nicht (vgl. ebd.: 150).
T.K.V. Desikachar – Sohn von T. Krishnamacharya, der auch als “Vater des modernen Yoga” gilt – schreibt hingegen im Kommentar zum Yoga Sûtra des Patañjali, dass Yoga eindeutig nicht religiös sei. Zum einen grenzt er Yoga zum Hinduismus und der dazugehörigen Philosophie (Vedanta) ab, da das Yoga Sûtra zwar Wege für gläubige Menschen aufzeige, aber auch Alternativen anbiete. Zum anderen betont er die große Offenheit und somit Allgemeingültigkeit des Yoga Sûtra, weshalb es viele religiöse und spirituelle Strömungen inspiriert habe, aber nie selbst zu einer Grundlage für eine eigenständige Religion geworden sei. Auch wenn das Yoga Sûtra heutzutage in Indien häufig aus hinduistischer Sicht betrachtet wird, entspreche dies nicht der eigentlichen Intention (vgl. Desikachar 52011: 9).
Die Frage, ob Yoga generell religiös ist, ist somit nicht einfach zu beantworten. Aus diesem Grund unterscheidet Liz Bucar Devotional Yoga und Respite Yoga, wobei sie Devotional Yoga über gewisse Glaubensüberzeugungen wie Kosmologie und Metaphysik, die Einbeziehung von ethischen Leitlinien der Yamas und Niyamas und intensive Asanas, Pranayama-Techniken und Meditationsformen definiert. Dieser Art des Yoga schreibt sie eine eindeutige Religiosität zu (vgl. Bucar 2022: 147). Respite Yoga unterscheidet sich hiervon vor allem durch eine ausbleibende Notwendigkeit, gewissen Überzeugungen zu folgen. Der Fokus liegt eher auf der physischen Asana-Praxis, wobei trotzdem pseudo-liturgische Elemente – wie das “Namaste” zu Beginn und zum Abschluss einer Stunde – eingebracht werden. Respite Yoga sei somit die Aneignung (=appropriation) von Devotional Yoga (vgl. ebd.: 147-148). Trotz des Versuches, sich von Religion abzugrenzen, bedient sich Yoga (auch Respite Yoga) eindeutig religiös kodierter Sprache. Beispiele hierfür sind: “Erleuchtung”, “sich mit Energie verbinden”, “Brahman”, “Shiva”, “Krishna”, “das Göttliche” im Allgemeinen (vgl. ebd.: 168). Die gleichzeitige Betonung, dass Yoga nicht religiös sei, und die Menge an religiösen Inhalten können wie ein Widerspruch wirken (vgl. ebd.). Doch dies kann auf die Einbettung in einen neuen kulturellen Kontext zurückgeführt werden. Kurz gesagt haben Elemente wie Körperhaltungen, Atemarbeit und Meditation im USA-amerikanischen Raum Anklang gefunden; andere Aspekte jedoch nicht, die dann auch nicht mehr Teil der Vermarktung waren (vgl. ebd.: 174).
Heutiges Yoga lässt sich laut Liz Bucar auch wie folgt zusammenfassen: “the result of the interaction of multiple South Asian traditions, nationalism, imperialism, capitalism, and globalization” (ebd.: 150). Sie betont hierbei, dass es falsch sei zu sagen, dass Yoga hinduistisch ist, genauso sei es aber auch falsch zu sagen, dass Yoga nichts mit dem Hinduismus oder anderen östlichen religiösen Praktiken zu tun hat (vgl. ebd.).
Bucar folgert aus ihren Überlegungen, dass die indische Kultur, Philosophie und religiöse Praxis im modernen Respite Yoga nicht angeeignet werden, sondern es sich vielmehr um eine koloniale Vorstellung von diesen Dingen handelt (vgl. ebd.: 184). Kritische Aspekte sind beispielsweise die Vermarktung unter dem Gesichtspunkt der individuellen Gesundheit auf Kosten der Ausbeutung anderer (vgl. ebd.: 197) und die Verwendung von ursprünglich religiösen Elementen wie dem Sanskrit (vgl. ebd.: 164), was nicht zuletzt mit der politischen Konstruktion einer hinduistisch geprägten indischen nationalen Identität in Verbindung steht, die die Muslime des Landes ausschließt (vgl. ebd.: 185-186).
Yogalehrer:in zu sein bedeutet also, andere durch religiöse Aneignung zu führen (vgl. ebd.: 201) und die Aussage, dass es sich um eine areligiöse Lebenspraxis für alle handle, ist meiner Ansicht nach damit eindeutig zu kurz gedacht. Vor dem erläuterten Hintergrund erachte ich es als äußerst wichtig, meine Yogapraxis und den Unterricht, den ich gebe, zu reflektieren, indem ich mir beispielsweise die folgenden Fragen stelle, die Rina Deshpande vorschlägt:
“Do I really understand the history of the yoga practice I’m so freely allowed to practice today that was once ridiculed and prohibited by colonists in India?”
“As I continue to learn, am I comfortable with the practices and purchases I’m choosing to make, or should I make some changes?”
“Does the practice I live promote peace and integrity for all?”
(Deshpande 2019)
Quellen
Bucar, Liz (2022), “Respite Yoga”, in: Stealing My Religion. Not Just Any Cultural Appropriation, Cambridge (Massachusetts)/London: Harvard University Press, 145-202.
Deshpande, Rina, (2019), “What’s the Difference Between Cultural Appropriation and Cultural Appreciation?”, in: Yoga Journal, URL: www.yogajournal.com/yoga-101/yoga-cultural-appropriation-appreciation/ (26.11.2022).
Desikachar, T.K.V. (52011), Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sûtra des Patañjali. Eine Einführung, Petersberg: Via Nova.
Großmann, Katharina / Rübesamen, Kristin (2015), “Die Geschichte des Yoga”, in: Yoga Easy, URL: www.yogaeasy.de/artikel/Die-Geschichte-des-Yoga (01.11.2022).
Stefanie Mühlbächer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik und Mitarbeiterin der Geschäftsführung beim Zentrum für Sprachenlehre.
Vor einiger Zeit saß ich im Zug einer elegant gekleideten älteren Dame gegenüber. Vertieft in Arbeit und grundsätzlich in Sorge davor, in ein Gespräch verwickelt zu werden, übte ich mich zunächst in höflicher Distanz. Einen Halt vor meinem Ausstieg aber klappte ich den Laptop zu und wir kamen unmittelbar ins Gespräch. Schnell zeigte sich, dass es kein Plausch über das Wetter werden würde: Mein Gegenüber war unterwegs zur Nachlassverwaltung ihres vor wenigen Tagen verstorbenen Bruders. Sie berichtete kurz von seinem Leben, von gemeinsamen Zeiten, auch vom Tod ihres Mannes vor einigen Jahren und vom bedrückenden Gefühl, die letzte dieser Generation in ihrer Familie zu sein.
Ich hatte den dringenden Wunsch, ihr etwas Gutes zu sagen, ihr gegenüber auszudrücken, dass weder ihr Bruder noch sie in ihren Sorgen vergessen ist. In der Öffentlichkeit des Zuges aber zu sagen „Ich bete für Sie“ fiel mir unendlich schwer. Woher kommt eigentlich dieser Zeugniskrampf? Warum ist es für viele so schwierig geworden, etwa in einem Segen oder Gebet zu bekennen, was wir glauben? Warum schämt man sich dafür, anderen öffentlich etwas Gutes zu wünschen?
Scham, so meinte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, ist die emotionale Erkenntnis, für andere ein Objekt zu sein. Wenn wir uns schämen, sehen wir uns aus den Augen der anderen und machen uns selbst über uns lustig oder urteilen über unser Handeln – oft bevor wir überhaupt gehandelt haben. Die Sorge davor also, dass andere sich über mich lustig machen könnten, hätte mich beinahe daran gehindert, mich jemandem in einer Lebenskrise zuzuwenden. Mir ist daran noch einmal deutlich geworden, wie zentral es für den Glauben ist, dass er öffentlich, gerade in den kleinen Momenten des Alltags, zur Sprache gebracht wird. Nicht um besonders fromm zu sein, sondern damit die Scham nicht gegen unseren guten Willen anderen gegenüber gewinnt. Was anderes aber ist ein Gebet für andere als Ausdruck unseres guten Willens? Was könnte selbst jemanden, der nicht an Gott glaubt, in einer existenziellen Krise daran stören, wenn man zu ihm sagt: ‚Ich denke an Dich, ich bete für Dich, ich will Dir Gutes!‘ – und wie unglaubwürdig wird der Glaube an einen guten Grund des Lebens, wenn man sich des Guten schämt.
Ich habe mich schlussendlich durchringen können, meinem Gegenüber zu sagen, dass ich für sie und ihren Bruder beten werde. Ich kann zumindest sagen, dass sie alles andere als empört war. Und dass sich schräg gegenüber jemand irritiert umgedreht hat, war mir offen gesagt beim Aussteigen ziemlich egal.
Prof. Dr. Aaron Langenfeld (*1985), Dr. theol. habil., ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.