Sünde revisited

Jürgen Habermas hat einmal treffend festgehalten, dass bei der Übersetzung des Begriffs der Sünde in den Begriff der Schuld etwas verloren gegangen ist. ‚Schuld‘ meint vor allem die persönliche Verantwortung für Verstöße gegen Recht und Moral. ‚Sünde‘ aber greift tiefer. Über individuelle Verfehlungen hinaus verweist sie auf gestörte Beziehungen: zwischen Menschen untereinander – und zwischen Mensch und Gott.   

In diesem relationalen Sinne zeigt sich Sünde als zerstörerische Dynamik der Selbsterhebung – das Sich-Über-Andere-Stellen –, die nie nur einzelne Opfer trifft, sondern das soziale Gefüge insgesamt gefährdet. Die Taten anderer gehen uns etwas an, selbst wenn wir die Augen vor ihnen verschließen wollen. Die Flucht vor der eigenen Verantwortung wird unweigerlich zur Mittäterschaft.

In den extremen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit schieben wir die Verantwortung positiv wie negativ oft gerne öffentlichen Akteuren zu, ohne unsere notwendige Mittäterschaft zu reflektieren. Es ist eine Sache, massive Aufrüstung und Wehrhaftigkeit zu fordern, eine andere, ob wir bereit wären, unser eigenes Leben oder das unserer Kinder für mehr Wehrhaftigkeit einzusetzen. Es ist das eine, eine offene und humane Migrationspolitik zu wollen, eine andere, die eigene (Frei-)Zeit auf das gelingende Zusammenleben konkreter Menschen verschiedener Herkünfte zu verwenden. 

In den Widersprüchen dieser Fragen, die die allgemeine Situation mit unserem Leben verbinden, wird erst klar, wie es wirklich um die Welt steht. Erst im Ansichtigwerden der eigenen Verantwortung und der Weigerung, sie zu übernehmen, im Angesicht des eigenen Scheiterns, der (unbeabsichtigten) Selbsterhebung über andere – sei es aus Trägheit, Neid, Habgier, Eitelkeit, Völlerei, Lust oder Zorn – wird das ganze mich betreffende Ausmaß der Lage der Menschheit sichtbar.

Das Museum für Kommunikation in Berlin hat den sieben der christlichen Tradition entstammenden und zuvor genannten Todsünden eine bemerkenswerte interaktive Ausstellung gewidmet, die diese im Zusammenhang mit social media reflektiert. Das Projekt zitiert Reid Hoffmann, Gründer des sozialen Job-Netzwerks Linkedin, mit dem Satz: „Soziale Netzwerke sind am erfolgreichsten, wenn sie eine der sieben Todsünden triggern.“ Und tatsächlich: Die Mechanismen von social media – ständiges Vergleichen, Selbstdarstellung, Wut- und Empörungszyklen – verstärken gezielt diese ‚Todsünden‘. Sie schaffen für uns oft nicht mehr durchsichtige Abhängigkeiten, ein unkontrolliertes ‚Dranbleiben‘. Neben zweifellos positiven Aspekten entfremdet uns social media im gezielten Aufbau dieser Abhängigkeiten von der realen Verantwortung füreinander und ersetzt diese durch ein nur anscheinendes Fürmichsein.  

Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff ‚Sünde‘ als ein erstaunlich zeitgemäßes Instrument der anthropologischen Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften wiederentdeckt werden. Theologisch im Horizont gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten durchdacht, ließe sich ‚Sünde‘ nicht zuerst als moralischer Ausdruck, sondern als Kategorie der Diagnostik sozialer und spiritueller Pathologien begreifen. ‚Sünde‘ beschreibt dann die Zerstörung des Vertrauens der Menschen ineinander, die mit der Zerstörung des Grundvertrauens in die Welt als gute Schöpfung Gottes verschränkt ist. Dieses Grundvertrauen kann mit dem Begriff des Glaubens übersetzt werden, der bereits bei Paulus das Gegenstück zur Sünde darstellt.

Quelle: KI-generiertes Bild

Weder – Noch

Wichtige Wahlen haben stattgefunden, in den USA, in Deutschland. Ihre Ergebnisse werden Konsequenzen haben – im Inneren wie im Äußeren. Die Weltordnung, wie wir sie in Deutschland und Europa seit 80 (1945) bzw. 35 (1990) Jahren kennen, ist in Auflösung begriffen. Die Mächtigen, gegen die der große Rest der Welt wenig auszurichten vermag, setzen auf Durchsetzung ihrer Macht ohne Rücksicht auf Verluste. Und wir in Deutschland, in Europa scheinen nun zum Rest der Welt zu gehören, denn es scheint völlig offen, ob wir noch zu den Mächtigen zählen oder nicht. Die Logik des Militärischen verbindet sich mit der Logik der Finanzen und der Logik der Ausbeutung unserer Ressourcen. Die Macht scheint sich auf wenige Männer zu konzentrieren, die mit ihren gekränkten Eitelkeiten in infantiler Dummheit und Rücksichtslosigkeit diesen Planeten in Haft zu nehmen scheinen. Das größte Problem, das wir vor uns haben, die Bewältigung der Folgen des Klimawandels, wird sträflich ignoriert, ja schlimmer noch: Es gibt Bestrebungen, dieses Problem zu verschärfen. 

Dietrich Bonhoeffer, der vor 80 Jahren am 9. April 1945 seinen Widerstand mit dem Leben bezahlte, notierte an der Wende zum Jahr 1943 in einem persönlichen Rechenschaftsbericht „Nach zehn Jahren“ angesichts seiner Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch mit Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseite geschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden, ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. […] Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. […] Das Wort der Bibel, daß die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sei (Sprüche 1, 7), sagt, daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“ (Widerstand und Ergebung, Dietrich Bonhoeffer Werke 8, 26-28)

Welche Rolle spielen wir in dieser Lage als Menschen, die Theologie treiben, die von unterschiedlichen Bekenntnissen gespeist sind, die von unterschiedlichen Religionen und Konfessionen herkommen, die ja auch allesamt keine monolithischen Blöcke sind. Beschämt müssen wir feststellen, dass unsere Religionen und Konfessionen allesamt auch ihren Anteil an dieser bedrohlichen Entwicklung haben. Ich kann dabei nur auf meine Konfession verweisen, wenn ich z.B. an die mächtigen, von Weißen dominierten Megachurches in den USA denke, auf deren Stimmen sich der jetzige US-amerikanische Präsident schon immer hat verlassen können. Ich sehe nicht, wie es theologisch verantwortet werden kann, sie noch zum Christentum rechnen – auch wenn sie hunderttausendmal Dschiesas im Munde führen. Mich überkommt theologischer Ekel, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus hier durch vermeintlich Christliches schöngeredet wird. Wer solche „Freunde“ oder „Brüder“ hat, braucht keine Feinde mehr!

Die Auseinandersetzung mit diesen sich christlich nennenden Theologien ist notwendig und muss um der Wahrheit willen in aller Schärfe geführt werden, aber die damit verbundene Empörung über die daran glaubenden Menschen hilft noch keinen Schritt weiter. Was also kann helfen? Woher kommen Hoffnung, Kraft, Mut, Witz, Beherztheit, Durchhaltevermögen, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, vielleicht sogar Widerstand?

Der Kirchentag in Hannover vom 30. April bis 4. Mai 2025 hat die Losung: mutig – stark – beherzt. Er tritt an, diese kritische Weltlage zu besprechen und Mut zu machen, Glauben zu stärken und beherztes Handeln zu inspirieren. Der Kirchentag bietet allen Menschen eine Plattform, die sich angesichts gegenwärtiger Machtdemonstrationen jenseits aller menschlichen Machtansprüche aus religiösen und zivilgesellschaftlichen Beweggründen um eine menschenfreundliche Zukunftsgestaltung dieser Welt bemühen. Der biblische Text für den Schlussgottesdienst gehört für mich zu den wichtigsten Texten der Bibel, die mich Christsein lassen und benennt das, was mich hoffen, leben, lieben, glauben, atmen lässt in einem großen Weder – Noch. Hier spricht der Apostel Paulus ein hymnisches Bekenntnis, das ich in der eigens für den Kirchentag 2025 angefertigten Übersetzung zitiere:

Denn ich bin felsenfest überzeugt: 

Weder Tod noch Leben, 

weder himmlische noch staatliche Mächte, 

weder Gegenwart noch Zukunft, 

auch keine Gewalten, 

weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf 

werden uns jemals trennen von Gottes Liebe, 

die im Machtbereich des Messias Jesus lebendig ist. (Römerbrief 8,38-39)

Darauf vertraue ich und hoffe zugleich auf Vertrauensbildung der Theologien als religionspädagogische Kernkompetenz im Horizont dieses Bekenntnisses. Der von Paulus bekannte Machtbereich des Messias Jesus benennt und bekennt dabei den christlichen Zugang zur Liebe Gottes, der andere Zugänge zur Liebe Gottes keineswegs ausschließt. Vielleicht wäre dies die vornehmste Aufgabe der Theologien, sich gegenseitig die Zugänge zur Liebe Gottes zu zeigen und sich dabei wechselseitig zuzutrauen, Vertrauen in diese Liebe Gottes bilden und diese Bildungsaufgabe frohgemut und beherzt angehen zu können und zu wollen.

Foto: Deutscher Evangelischer Kirchentag 2025, www.kirchentag.de

Feminismen. Positionen und Perspektiven

Geschlechtergerechtigkeits- und Chancengleichheitsforderungen haben spätestens seit den Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen der sechziger Jahre eine normative Prägekraft auf demokratische Gesellschaften weltweit entwickelt. Auch in den fachwissenschaftlichen Diskursen deutschsprachiger Philosophie und Theologie werden feministische Perspektiven und Positionen adressiert. Auf den ersten Blick lässt sich für die Sichtbarkeit feministischer Emanzipationsanliegen folglich eine positive Bilanz ziehen.   Auf den zweiten Blick erfahren feministische Fragestellungen und Analysen seit einigen Jahren jedoch wieder einen gesellschaftlichen und mitunter religiös motivierten Backlash. Anstelle feministische Beiträge als kritische Hermeneutik zu verstehen, die dabei helfen kann, kulturell normalisierte und strukturell verdeckte Vermachtungsstrukturen aufzudecken und damit einen Beitrag zur Befreiung aller Menschen (unabhängig vom Geschlecht!) zu leisten, wird behauptet, dass die Rückkehr zu den traditionellen Geschlechterrollen alle gegenwärtigen Unsicherheiten und Krisen auflösen, die Welt so wieder in Ordnung gebracht werden könne. Dieser Backlash kulminiert in rechtspopulistischen Agenden gegenwärtiger politischer Akteur*innen und ihren dezidiert antifeministischen Stellungnahmen. Auch wenn sich in philosophischen und theologischen Diskursen bisher glücklicherweise nur selten solche regressiven, die Vielfalt und Mehrdeutigkeit der Welt leugnenden Positionen erkennen lassen, so ist dennoch zu konstatieren, dass relevante Forschungsperspektiven von als Frauen identifizierten Personen übersehen oder ignoriert werden. Dieser Stilllegungs-Reflex greift dabei offenbar umso schneller, je deutlicher feministische Perspektiven die eingelebten Hierarchien und verinnerlichten Privilegien herausfordern und Herrschaftsbündnisse entlarven. Dabei wird nicht nur übersehen, dass feministische Perspektiven und ihr emanzipatorisches Profil gerade unter den Vorzeichen der kompromittierten demokratischer Gewissheiten gesellschaftlich höchst relevant sind, so sie für diskriminierende Praktiken und unzulässige Ungleichheitsstrukturen sensibilisieren. Auch auf wissenschaftstheoretischer Ebene lässt sich dafür argumentieren, dass die Bewusst- und Sichtbarmachung einzelner, vom Mainstream abweichender Positionen eine Forderung epistemischer, ethischer und sozial-politischer Verantwortung darstellt und für die Kohärenz bzw. Resilienz wissenschaftlicher Theorie- und Urteilsbildung ausschlaggebend ist. Mit anderen Worten basiert sowohl eine vielstimmige Demokratie als auch die Wissenschaftlichkeit der Theologie und Philosophie darauf, auch und gerade die nicht-identischen, unbequemen und anderen Weltdeutungen kritisch, ernsthaft und aufmerksam in ihre Diskurse zu integrieren und mit ihnen auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist eine neue Reihe im Alber-Verlag entstanden: „Feminismen. Positionen und Perspektiven / Feminisims. Positions and Perspectives“ Ihre Herausgeberinnen und der wissenschaftliche Beirat haben sich zum Mandat gemacht, Wissenschaftler*innen eine Gelegenheit zu geben, ihre Thesen und Gedanken, Analysen und Theorien in die fachwissenschaftlichen Diskurse hineinzutragen und damit dem gefährlichen Backlash ein entschiedenes Veto entgegenzuhalten: https://www.nomos-shop.de/de/series/series/view/id/B001356600

Wir ermutigen alle Lesenden und Interessierten, uns Beiträge in Form von Proposals und Publikationsideen zukommen zu lassen: weber@fiph.de

Wandel als Konstante – und nun mit KI: Wir müssen das Heft in die Hand nehmen

Alles ist im Fluss, nur die Veränderung ist konstant. Wenn es nicht gut läuft, sehnt man sich nach Veränderung und freut sich über den Neuanfang. Läuft es hingegen gut, wünscht man sich Stabilität, das Festhalten am Bewährten. Diese Dynamik zeigt sich nicht nur in natürlichen Prozessen, wie dem Wandel des Weltalls, der irdischen Geologie oder den stetigen Erneuerungsprozessen von Organismen (ohne die sie absterben), sondern auch in Industrie, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

In unserer modernen Welt prägt auch der technologische Fortschritt den Wandel in rasantem Tempo. Künstliche Intelligenz, beispielsweise Large Language Models wie ChatGPT und andere KI-Anwendungen, haben tiefgreifende Veränderungsprozesse angestoßen. Diese Technologien revolutionieren unsere Art zu kommunizieren, Wissen zu verarbeiten und Prozesse zu gestalten. Sie ermöglichen es, große Datenmengen in Sekundenschnelle zu analysieren, kreative Ideen zu generieren und bieten innovative Ansätze für Herausforderungen und Probleme – auf Basis der Quelltexte, mit denen sie trainiert wurden. Sie generieren Kommunikation, die kaum von menschlicher zu unterscheiden ist, neigen dazu Vereinfachungen und Stereotype zu perpetuieren und immer echter aussehende deep fakes von Audio- und Bildmaterial verdeutlichen, dass sogar das zweifache Hinsehen manchmal nicht ausreicht. Reale Kommunikation von Angesicht zu Angesicht könnte eine noch größere Bedeutung erlangen als bisher (und uns während der Covid-19 Pandemie in allen Bereichen des Lebens vor Augen geführt wurde). In der Bildung ist das Erlernen von „lower-order thinking skills“, die häufig leicht von KI übernommen werden können, schwer vermittelbar – jedoch gehen wir vielfach davon aus, dass sie die notwendige Voraussetzung für das Erlernen von „higher-order thinking skills“ sind, deren Erlernen damit zu einer noch größeren Herausforderung wird.

Gesellschaftliche Akteur*innen stehen vor der kontinuierlichen Aufgabe, den Einsatz von KI und die Entwicklung von KI-bezogenen Kompetenten sinnvoll zu integrieren, denn KI wird nicht mehr verschwinden und vermutlich diejenigen bevorteilen, die mit ihr gut umgehen können. Aber die Verbesserung ihrer Leistung und der stark zunehmende Einsatz – vielfach ohne entsprechende Kenntlichmachung, wie aus Gesprächen immer wieder deutlich wird – sorgt bei mir auch immer wieder für das bedrückende Gefühl, dass wir zunehmend durch KI miteinander kommunizieren und die menschliche Kommunikation weniger wird. 

Jede meiner Nutzungen von ChatGPT und entsprechenden KI-Anwendungen stimmt mich daher nachdenklich. Ich merke die Power und Entwicklungsgeschwindigkeit dieser Systeme, habe das Gefühl den Überblick und irgendwie die Kontrolle zu verlieren und bin irgendwie überwältigt. Jede Nutzung verdeutlicht für mich das Ausmaß des revolutionären Wandels, in dem wir uns aktuell befinden. Und ja, er geht mit Chancen einher, aber ich merke auch, dass er mir gehörigen Respekt einflößt und mir viel abverlangt: Nämlich diesen Wandel nicht einfach geschehen zu lassen, sondern ihn (für mich) aktiv, vorausschauend und kreativ zu gestalten, um nicht überwältigt zu werden – und Menschen und reale Interaktion in den Vordergrund zu stellen.

„Multikulti“ in der Antike

Wer in den Wochen vor der Wahl in Thüringen oder Sachsen unterwegs war, konnte auf den Wahlplakaten einer Partei den Slogan „Schluss mit Multikulti“ lesen. Vorausgesetzt wurde von den Machern dieser Plakate, dass die multikulturelle Gesellschaft eine neuartige Erfindung sei, vielleicht sogar etwas, was man mit dem Schimpfwort „woke“ betiteln kann, und das deshalb abzuschaffen ist. Zurück zum Alten, würden Vertreter:innen dieser Partei wohl propagieren, und die vermeintlich neuartige multikulturelle Gesellschaft gerne wieder abwickeln. Als die Studierenden des Instituts für Evangelische Theologie im August die Museumsinsel in Berlin besuchten und sich auf die Spuren der Bibel und der Religionen im alten Orient begaben, stellten sie u.a. fest, dass „Multikulti“ keinesfalls eine neuartige Erfindung ist. Zum Kontext: Die antiken Völker im Mittelmeer-Raum und weiter östlich bis nach Persien standen über Jahrtausende in regelmäßigem Austausch. Selten ging es um kulturelles Interesse am Anderen, stattdessen meist um politische Vorherrschaft und gewinnbringenden Handel. Regelmäßig bekriegten sich die Hochkulturen der Hethiter, Assyrer, Babylonien, Perser, Griechen, Römer und Ägyptern, in unterschiedlichen Kombinationen, jedoch meist auf dem Gebiet des heutigen Israel/Palästina. Der sogenannte Fruchtbare Halbmond, ein sichelförmiges geographisches Gebiet mit dem Nil im Westen, der Levante im Zentrum und den Zwillingsflüssen Euphrat und Tigris im Osten, war nicht nur vielbetretener Handelsweg, sondern auch der Schauplatz zahlreicher grausamer Vernichtungsfeldzüge. Und trotz aller Konflikte fand im Fruchtbaren Halbmond religiöser und kultureller Austausch statt, und zwar in einem Umfang, der aus heutiger Sicht erstaunt. Das beste Beispiel dafür: die Flussinsel Elephantine. Sie ist nur 1,2 Kilometer lang und 400 Meter breit, befand sich aber ideal gelegen auf dem günstigsten und sichersten Handelsweg Ägyptens, dem Nil, und im Grenzland zu den südlicher gelegenen afrikanischen Nachbarn. Auf ihr lebten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zusammen: Menschen aus Ägypten, Nubien, Syrien, Äthiopien, den hellenistischen und römischen Weltreichen, aus Makedonien, Assyrien und Kush, dazu Aramäer und Judäerinnen, Caspier und Araberinnen. Die kleine Insel Elephantine gab diesen Menschen ein kosmopolitisches Zuhause. Sprachen, Kulturen und Religionen mischten sich, die Welten des großen Fruchtbaren Halbmonds und lokale Traditionen existierten nebeneinander. Ein großes europäisches Forschungsprojekt (ERC Grant „Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt“) in Zusammenarbeit mit dem Ägyptischen Ministerium für Tourismus und Antiken hat nun tausende Texte und viele andere Funde aus Elephantine, die in 60 Sammlungen in 24 Ländern verstreut waren, ausgewertet, erstmalig digitalisiert und für alle öffentlich gemacht. Die bearbeitete Zeitspanne umfasst Zeugnisse aus dem dritten Jahrtausend vor unserer Zeit bis zum Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeit. Die Ausstellung „Elephantine, Insel der Jahrtausende“ ist, passend zu ihrem Thema, dreisprachig beschriftet: in arabischer, englischer und deutscher Sprache. Geruchstationen lassen orientalische Düfte durch den Ausstellungsraum schweben, vieles kann berührt und ertastet werden, ein ägyptischer DJ interpretiert Elephantine noch einmal auf ganz andere Weise. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Mathematiker:innen und Physiker:innen ermöglichte es, geschlossene Papyri und Papyruspäckchen „virtuell“ zu entblättern und lesbar zu machen.  Besonders interessant: Die Forscher:innen fanden Dokumente in zehn verschiedenen altorientalischen Sprachen und Belege dafür, dass die Menschen auf Elephantine nicht etwa getrennt in ihren Kiezen lebten, sondern sich auch untereinander kannten, schätzten und sich miteinander verständigen wollten. So nennt ein Ehevertrag aus der Perserzeit (etwa 433-403 v.u.Z.) die Namen von Zeugen der Eheschließung, die aramäischen, judäischen und ägyptischen Ursprungs sind. Ein anderer Text in aramäischer Sprache wurde mit demotischen Schriftzeichen aus der ägyptischen Kultur niedergeschrieben. Er beinhaltet eine biblischen Psalm und einen altägyptischen Totentext und vereint so nicht nur Sprachen, sondern auch Konzepte aus zwei unterschiedliche Religionen. Pluralität und Vielfalt also. „Multikulti“ in der Antike. Ganz selbstverständlich nebeneinander und wahrscheinlich zum Nutzen aller. Dass „Multikulti“ auch damals nicht immer eine leichte Angelegenheit war, zeigen Schreibübungen von Kindern auf Tonscherben. Ungelenk werden dort die fremdem Schriftzeichen niedergeschrieben und Begriffe in der fremden Sprache wieder und wieder geübt. „Multikulti“ mag es schon in der Antike gegeben haben, aber mit ein wenig Mühe ist es schon verbunden. Mühe, die sich lohnte und lohnt.

Die Ausstellung ist noch bis zum 27.10.2024 in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum auf der Museumsinsel in Berlin zu sehen.

“My body, my choice – raise your voice”

„Am 21.09 ist es endlich wieder so weit. Der Marsch für das Leben geht in die 2. Runde und wir freuen uns über jeden der kommt. Ladet eure Familie, Freunde und Bekannte ein mit uns für das Lebensrecht einzustehen! Am 21.9. um 13 Uhr auf der Deutzer Werft“

Entschieden und frustriert schließe ich den Beitrag der Instagram-Seite koelnermarschfuerdasleben, der mit den obenstehenden Sätzen untertitelt wird. Nur wenige Sekunden zuvor wurde mir zuerst von dem Account des Bündnis ProChoice aus Köln, das sich offen gegen den Marsch für das Leben positioniert, der Beitrag zur Gegendemonstration angezeigt. 

Organisiert wird der sog. Marsch für das Leben vom Bundesverband Lebensrecht e.V., der u.a. durch christliche Fundamentalist*innen, aber auch durch Vertreter*innen rechter Ideologien (u.a. Vertreter*innen der AfD) unterstützt wird. Beim Marsch für das Leben verstehen sich die Anhänger*innen als Lebensschützer*innen des Embryos. Sie verurteilen Abtreibungen und sehen diese als Mord an. 

Nach dem Schließen des Beitrages tauchen in meiner Erinnerung die Bilder des letzten Jahres auf: Vor knapp anderthalb Jahren bin ich nach Köln gezogen und habe seitdem ziemlich viele Menschen auf die Straßen gehen sehen, um für sich und ihre Überzeugungen einzustehen.  Bei dem Marsch für das Leben habe ich mich wohl aber mit Abstand am unwohlsten gefühlt.

Ich steige gerade aus der Bahn am Heumarkt, als mir drei Jugendliche (schätzungsweise zwischen 12–16 Jahre alt) eine Rose anbieten. Dass sie damit für die Kundgebung werben wollen, begreife ich erst mit etwas Verzögerung. In meiner eigenen Studienzeit habe ich mich in einem Seminar ziemlich intensiv mit dem Bundesverband Lebensrechtauseinandergesetzt, habe mir Argumentationsstrukturen angeschaut und analysiert, wie Religion in diesem Kontext instrumentalisiert wird. Dass ich aber – als allererstes – auf dieser Kundgebung mit Menschen in Kontakt trete, die nicht einmal volljährig sind, habe ich tatsächlich nicht erwartet.  Ich lehne die Rose dankend ab und bahne mir meinen Weg durch die Menschenmassen – Ziel ist die Gegendemonstration. Auf dem Heumarkt haben sich inzwischen einige Menschen versammelt. Ganz vorne steht eine Bühne: Ein Banner vom Bundesverband Lebensrecht macht deutlich, dass hier die Befürworter*innen des Marsch für das Leben stehen. Schon hier bemerke ich, dass diese Menge zu einem entscheidenden Großteil aus männlich gelesenen Personen besteht – also aus den Menschen, die im Kontext einer Abtreibungsdebatte eigentlich eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Mittendrin befindet sich ein Stand der CDL, den sog. Christdemokraten für das Leben. Hinter dieser Gruppe stehen zwei Reihen von Polizist*innen, die mögliche Ausschreitungen verhindern sollen. Wie sich später noch zeigt, sind diese hier vorprogrammiert: Das Thema spaltet die Massen.  Direkt hinter ihnen beginnt die Gegendemonstration: Hier befinden sich Personen – primär weiblich gelesene Menschen – mit selbstgemalten Schildern, Bannern, sowie Gruppierungen mit Trommeln, die die folgenden Schlachtrufe rhythmisch begleiten. Während die Anhänger*innen des Marsch für das Leben sich gegen Abtreibungen einsetzen, kämpfen die Menschen hier für das Recht auf weibliche Selbstbestimmung. Für mich selbst ist es keine Frage, dass ich mich hier – in der Gruppe der Menschen, die „ProChoice“ sind – an der richtigen Stelle befinde. Im Laufe der folgenden Minuten wird es aber auch hier noch Momente geben, in denen ich mich unwohl fühle und mich zu keinem Zeitpunkt offen als studierte Theologin zu erkennen geben würde.  Die Plakate der einzelnen Gruppierungen könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Anhänger*innen des Marsch für das Leben setzen dabei primär auf emotionalisierende Sprache und Bilder. „Jedes Kind will leben!“ oder auch „No children, no future!“ steht es weiß auf grün auf den Plakaten der Abtreibungsgegner*innen. Zwischen den Plakaten finden sich aber auch weiße Kreuze, die die abgetriebenen Föten repräsentieren sollen, sowie weitere Schilder mit christlicher Symbolik, die somit suggerieren, dass die Kirche ganzheitlich diese Kundgebung unterstützt. Auch der Stand der CDL, der Christdemokraten, untermalt diese Vermutung.  Und so ist es nicht unverständlich, dass die Teilnehmer*innen der Gegendemonstration wiederholt auch gegen die Kirche hetzen. Neben Plakaten mit Titeln wie „My Body, my Choice“ oder „Ob Kinder oder keine, bestimmen wir alleine“ demonstrieren einige Schilder eben auch, wie die Kirche im Allgemeinen als religiöses Feindbild wahrgenommen wird. „Für ein Paradies auf Erden, Fundamentalist*innen in die Hölle!“ oder „Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben!“, heißt es so auf einigen Bannern, die mir dann noch zunehmend zusetzen. Beim Lesen dieser Schilder wird mir klar, dass ich mich zu keinem Zeitpunkt hier gerne als gläubige Christin zu erkennen geben würde – und das, obwohlich es besser weiß: Obwohl ich weiß, dass die Position der EKD nicht die der fundamentalistischen Abtreibungsgegner*innen ist; obwohl ich weiß, dass Menschen, wie die Anhänger*innen des Bundesverband Lebensrechtdie christliche Religion instrumentalisieren und obwohl ich weiß, dass ich nicht weiter von den politischen und religiösen Ideologien der rechten Vertreter*innen, die auch den Marsch für das Leben unterstützen, entfernt sein könnte. 

Und so stehe ich in der Menschenmenge mit der absoluten Gewissheit, dass ich hier auf der Seite der ProChoice-Bewegung, die sich für weibliche Selbstbestimmung einsetzt und somit genau den feministischen Werten entspricht, die ich selbst durchweg vertrete, richtig stehe und fühle mich trotzdem ein wenig fremd. Erst im Nachhinein begreife ich, dass ich mich nicht nur fremd fühle, sondern vielleicht auch ein wenig verlassen und enttäuscht. Enttäuscht von meinerKirche, die mir Rückhalt bieten sollte und von der ich mir an dieser Stelle gewünscht hätte, dass sie sich stärker und lauter von dem abgrenzt, was nur wenige Meter vor mir passiert. In meiner Welt ist Feminismus und Theologie nicht nur miteinander vereinbar, sondern sogar zwingend zusammen zu denken. Jetzt merke ich aber, dass das für die Allgemeinheit hier gerade nicht möglich ist. Und so stehe ich hier, unerkannt als gläubige Christin und stimme eben trotzdem – oder eher genau deswegen – ein, wenn gesungen wird „My body, my choice, raise your voice“. 

Foto von Brett Sayles von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/frauen-usa-schon-hubsch-12747250/

Wie es ist, mit einer Historikerin zusammenzuleben – oder – wenn es um Jesus geht, dann maximal um den historischen

„Jonas, kannst du mir noch einmal das Verständnis des Christentums von Trinität erklären?“ Meine Freundin – Historikerin – beschäftigt sich in Folge einer Hausarbeit mit dem Filioque und erhofft sich trotz eigener tiefgreifender Kompetenz durch meine theologische Expertise eine andere – eben theologische – Perspektive auf den Sachgegenstand. Ich, der sich schon während des Studiums mehr zu den didaktischen als historischen Prozessen hingezogen gefühlt hat und sogar nachfragen muss, wann der Streit um das Filioque überhaupt war, kann ihr nur eine immer noch durch Klaus von Stoschs Systematische Theologie geprägte aktuelle Einführung in die Trinität bieten, woraufhin mich ein Schwall historischen Unverständnisses ihrerseits trifft.  „Du immer mit deiner Didaktik, ich brauche das Verständnis von 1054. Gerade du als Didaktiker müsstest doch eigentlich um die Bedeutung historischer Ereignisse wissen!“ Auch wenn ich meinen Opa hier sehr präsent im Ohr habe „was interessiert mich denn, wann irgendein Kaiser geboren oder gestorben ist?“ hat meine Freundin vollkommen Recht. Wenn ich auf den schulischen Religionsunterricht schaue, wäre eine Vernachlässigung oder gar Ausblendung historischer Zusammenhänge fatal. Braucht es doch gerade die historischen Erfahrungen und Perspektiven aus der Tradition, besonders vor dem Hintergrund trauriger aktueller Ereignisse, ohne die moderne Phänomene nicht gedeutet werden könnten und Schüler*innen eine reflektierte und urteilsfähige Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft gerade im Hinblick auf eine mündige Standpunktfähigkeit hinsichtlich religiöser und demokratischer Phänomene verwehrt bliebe. Um Schüler*innen im Religionsunterricht die Möglichkeit bieten zu können, Fähigkeiten zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, religiöse und weltanschauliche Vielgestaltigkeit zu reflektieren, sich produktiv mit ihr auseinanderzusetzen und somit in einer pluralen Gesellschaft interagieren, kommunizieren und sich positionieren zu können, braucht es sowohl eine biblische, empirisch-aktuelle, systematische, schüler*innenorientierte und die immer wieder gerne vergessene, historische Perspektive. Besonders durch einen historischen, an der Tradition orientierten Bezug, kann eben die Bedeutsamkeit eines Themas für die Lebenswirklichkeit der Schüler*innen ersichtlich werden, wodurch Wirklichkeitserfahrungen vor dem Hintergrund tradierter Erfahrungen reflektiert und transformiert werden können. Unsere leidige Diskussion „Alt“ gegen „Neu“ entbehrt demnach jegliche Zeitmäßigkeit, da es sich doch eher um ein korrelatives miteinander und eben nicht um ein „entweder – oder“ handelt. Gerade ich als Didaktiker, dem Klaus Bergmann, seine Multiperspektivität und sein historisches Lernen fest im Gedächtnis verankert sind, müsste um die Bedeutung der Perspektivenvielfalt historischer Sachverhalte für den Religionsunterricht und die Schüler*innen wissen.

Daher kann ich nur jedem empfehlen, einmal mit einer Historikerin unter einem Dach zu leben, die einem beizeiten den historischen „Tritt in den Allerwertesten“ verpasst, um eben auch die historischen Phänomene wertzuschätzen und gerade nicht zu vernachlässigen.

Qumran Nationalpark

Gabriel, der Gesandte Gottes – Überlegungen über Surat at-takwīr (Koransure 81)

Ich war gerade einmal fünf Jahre alt, als ich zum ersten Mal in die Koran-Schule (arab. kuttāb) kam. In diesem kleinen, staubigen kuttāb saßen wir auf bunten Teppichen und wiederholten die Verse auswendig. Als mein Scheich eines Tages zu Surat at-Takwīr (Koransure 81) kam, spürte ich eine besondere Ehrfurcht. Seine Stimme, warm und sanft, rezitierte die Sure wie ein Gesang. Doch als ich zu den Versen 19 bis 22 nachrezitierte, stockte ich plötzlich: „Er (der Koran) ist die Aussage eines edlen Gesandten, der beim Herrn des Thrones über (große) Macht verfügt und Ansehen hat, dem gegenüber man (im Himmel) Gehorsam leistet, und der vertrauenswürdig istUnd euer Gefährte ist nicht ein Besessener“ (Koran: 81:19-21) 

„Scheich,“ fragte ich zögerlich, „wer ist unser Gefährte, der nicht besessen ist?“ 

Er antwortete: „Damit ist Muhammad, Friede sei auf ihm, gemeint, denn die Menschen in Mekka nannten ihn einen Verrückten.

Ich entgegnete: „Ich dachte, die Aussage „edler Gesandter …“ am Anfang des Verses beziehe sich auf ihn.“ 

„Nein, mein Kind“ antwortete der Scheich lächelnd, „das ist nicht Muhammad, sondern der Gesandte Gottes zu Muhammad, er ist Gabriel.“

Ich nickte langsam und kehrte zu meinem Platz zurück und las die Verse erneut. Die wunderbaren Eigenschaften, die der Koran Gabriel zuschreibt – ehrenwert, mächtig und wahrhaftig – beeindruckten mich zutiefst, und beindrucken mich noch immer.  

Wenn man alle Koranverse betrachtet, die vom Engel Gabriel sprechen, so erkennt man, dass er in der koranischen Darstellung einen besonderen Rang bei Gott innehat. Seine Rolle als Vermittler der Offenbarung, insbesondere an den Propheten Muhammad, ist im islamischen Glauben unbestritten. Doch seine Bedeutung geht weit über diese Funktion hinaus. Er ist der einzige, dem hervorragende sittliche Eigenschaften von Gott zuteilwerden. Neben diesen in Sure at-Takwir erwähnten Eigenschaften von Gabriel gibt es noch zwei weitere bemerkenswerte Aspekte: Erstens: Gott hat die Offenbarung des Korans Gabriel zugeschrieben und nicht sich selbst. In Sure at-Takwir, die in einem Kontext offenbart wurde, in dem die Botschaft des Islam von den Mekkanern angezweifelt wurde, betonte Gott die göttliche Herkunft des Korans, indem Er ihn einem Himmelsboten zuschrieb. Dies ist ein klares Zeichen für die Vermittlung der göttlichen Botschaft durch einen Zwischenträger. An einer anderen Stelle wird diese Rolle Gabriels deutlich, wenn Gott über den Propheten Muhammad sagt: „Und er spricht nicht aus (persönlicher) Neigung. Es ist nichts anderes als eine Offenbarung. Gelehrt hat (es) ihn einer, der über große Kräfte verfügt, dessen Macht sich auf alles erstreckt.“ (Koran 53: 3-6). Das bedeutet, Muhammad brachte den Koran nicht von sich selbst, sondern er von seinem Lehrer, dem mächtigen Gabriel. Zweitens: Die Sure deutet darauf hin, dass Gabriel im Himmel gehorcht wird. Dies zeigt deutlich, dass Gott Seine Befehle an die Engel meist über Gabriel übermittelt. Gabriel ist somit nicht nur der Gesandte Gottes bei den Menschen, sondern auch bei den Engeln. Seine Stellung als starker, treuer Engel unterstreicht seine besondere Nähe zu Gott.Im Rahem dieses besonderen, im Koran verankerten Rangs Gabriels wird er, im Vergleich zu anderen Engel, die oft kollektiv als Gruppe bezeichnet werden, häufig namentlich genannt und von den anderen Engeln abgehoben. So finden wir Formulierungen wie „die Engel und Gabriel“ (Koran 2:98), „der Geist und die Engel“ (Koran 78:38; 70:4) oder „Gabriel, die aufrichtigen Gläubigen und die Engel“ (Koran 66:4). Beim ersten einfachen Lesen geben die Formulierungen den Eindruck, als ob er mehr als ein Engel gewesen wäre; er ist aber doch, soweit ihn Gott noch als seinen Geist bezeichnet, kein einfacher Engel. 

Die Bezeichnung „Geist“ (arab. rūḥ) wird im Koran häufig mit Gabriel in Verbindung gebracht. Er ist z.B. Geist Gottes, der Maria, Mutter Jesu, gesandt wurde, um ihr ein Kind zu verkünden: „Da nahm sie sich einen Vorhang (um sichvor ihnen (zu verbergen). Und wir sandten unseren Geist zu ihr. Der stellte sich ihr dar als ein wohlgestalteter Mensch“ (Koran 19:17). Es ist ein bemerkenswerter Aspekt, dass Gott seinen Geist, Gabriel, in Menschengestalt bei der Begegnung mit Maria erscheinen ließ, was die enge Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen unterstreicht und die Rolle Gabriels als Mittler zwischen beiden Welten verdeutlicht. Auch in Begegnung mit dem islamischen Propheten Muhammad wurde Gabriel als Geist Gottes bezeichnet: Und er (der Koranist vom Herrn der Menschen in aller Welt (als Offenbarung) herabgesandt. Der zuverlässige Geist hat ihn herabgebracht, dir (Mohammedins Herz, damit du ein Warner seiest.“ (Koran 26: 192-194) 

Zum Schluss kann man feststellen, dass Gabriel, Geist und Gott am nächsten stehender Gesandter, nach der koranischen Darstellung die zentrale Figure in der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen ist. Seine herausragende Stellung, seine besonderen körperlichen und sittlichen Eigenschaften und seine Rolle als Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen machen ihn zu einem faszinierenden Studien- und Forschungsobjekt. Forschungsfragen für Studierenden der Komparativen Theologie können lauten: Wie wird Gabriel in anderen (nicht-)abrahamitischen Religionen dargestellt? Wie wird Gabriel in der islamischen Kunst und Literatur visualisiert und beschrieben? Welche Rolle spielt Gabriel bei der Offenbarung an andere Propheten wie Abraham oder David? Welche Rolle wird Gabriel am Jüngsten Tag zugeschrieben?

Dr. Mohammed Abdelrahem ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie und am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Rote Dreiecke in Gaza

Erregt zeigt mir mein jüdischer Kollege Moshe eine Karte mit der an Gaza grenzenden Gebiete Israels. Sie enthält lauter rote Dreiecke. Jedes Dreieck steht für ein Kibbuz, das am 7. Oktober von der Hamas angegriffen würde. Jedes Dreieck steht damit für unzählige tote Juden. Moshe deutet auf ein kleines Kibbuz, aus dem die Familie seiner Frau stammt und das – wie durch ein Wunder – nicht vernichtet wurde, obwohl es mitten unter den vernichteten Ortschaften liegt. Er schildert mir seine Erregung direkt nach dem Angriff. 48 Stunden war er wie von Sinnen. Die Gewissheit, dass die Hamas auch alle Juden in Israel getötet hätte, wenn sie die militärische Macht dazu hätte, raubt ihm den Schlaf. Der Gedanke nach Vergeltung ergreift ihn. Das Schicksal der Geiseln peinigt ihn. Der Wunsch nach Ausmerzung der Hamas nimmt ihn ein. 48 Stunden hält dieser Zustand an und nimmt ihm jedes klare Urteilsvermögen. Da sind nur noch eine unbändige, ohnmächtige Wut und Angst.

Seine Frau ist es schließlich, die ihn wieder zurückholt in seine Berufung als Talmudgelehrter. Obwohl sie es ist, deren Familie noch viel stärker bedroht war, analysiert sie schon von der ersten Stunde mit Klarheit und Leidenschaft, was heute jeder sehen muss, der noch einen Funken Verstand hat: „Siehst Du denn nicht, dass Du in die Falle der Hamas gehst, wenn Du so reagierst? Dieser Wunsch nach Vergeltung, dieser blinde Hass, diese Angst – das ist genau das, was sie wollen. Sie wollen uns auseinander bringen; sie wollen Gräben schaffen und so alle Muslime gegen uns aufbringen. Sie wollen jedes friedliche Miteinander von Juden und Muslimen in Israel unmöglich machen.“ Seitdem gilt Moshes Aufmerksamkeit in Israel den Arabern, den Muslimen, den Palästinensern. Ihnen steht er bei, von ihnen will er sich nicht trennen lassen, für sie ist er da.

Wenn Netanjahu immer wieder sagt, dass die Hamas ausgemerzt und vernichtet werden muss, übernimmt er die Rhetorik und das Weltbild der Hamas. Langfristig führt er sie auf diese Weise zum Sieg, und schon jetzt muss man kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die Existenz Israels umso stärker gefährdet wird, je mehr Opfer in der Zivilbevölkerung leiden müssen und je deutlicher die Vernichtungslogik der Regierung Netanjahu sichtbar wird. Und schon jetzt mussten in Gaza viel zu viele Unschuldige leiden und sterben. 

Aber auch umgekehrt dürfen wir uns nicht der Logik der Hamas beugen. Wenn wir uns Karten von Gaza mit roten Dreiecken anschauen, die zeigen, wo überall unschuldige Zivilisten brutal von der israelischen Armee ermordet wurden, wenn wir immer wieder die Bilder des Schreckens israelischer Bombardierungen vor unsere Augen rufen, wenn wir nur die Opfer auf der eigenen Seite sehen und nicht die Schrecken der anderen, dann betreiben wir das Geschäft der Polarisierung. 48 Stunden lang ist das menschlich und nur zu gut zu verstehen. Auch danach bleiben Schmerz, Angst und Wut. Aber wir sollten uns davon nicht überwältigen lassen. Denn als Juden, Christen und Muslime hoffen wir doch auf mehr als auf Vergeltung und von Menschen hergestellte Gerechtigkeit. Es ist Zeit, dass wir auf die Stimme der Frau Moshes hören. „Siehst du denn nicht, dass sich Deine Handlungen der Logik des Terrors unterwerfen, wenn sie sich von Ohnmacht, Wut und Hass leiten lassen?“ Lernen wir also endlich auf die Leiden der anderen zu schauen, nicht nur auf die Leiden des eigenen Volkes.  

Ich weiß weder wie Moshes Frau aussieht, noch wie die Frau von Mose aussah. Aber dieses Bild drückt den Charakter, der mir vorschwebt, in sehr schöner Weise aus.

Aufgaben in der Begegnung mit dem Judentum

In ihrem Vortrag am 19. Juni 2024 zum Thema „Ein wichtiges Stück Europa: Politische Theologie aus dem Judentum“ hat Prof.in Elisa Klapheck in wunderbarer Weise die Potentiale einer aus jüdischen Quellen erarbeiteten politischen Theologie herausgestellt. Der Vortrag fand im Rahmen der Paderborner Friedensgespräch im Historischen Rathaus Paderborn statt. Elisa Klapheck betont immer wieder, dass nicht nur vom Antisemitismus gesprochen werden sollte, wenn es ums Judentum geht. Es sollte vielmehr um die positiven Seiten und der Reichtum der jüdischen Tradition gehen.
Dabei gebe ich ihr grundsätzlich Recht. Andererseits ist es gut, dass spätestens seit dem 7. Oktober 2023 der steigende Antisemitismus wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. Im Dialog wird mir durch die wenigen jüdischen Gesprächspartnerinnen immer wieder bewusst, wie die Folgen der Shoah auch heute noch spürbar sind. Mit wenigen Ausnahmen ist die Geschichte des Christentums gegenüber dem Judentum eine Geschichte der Polemik, der Abwertung und der Vernichtung. Erst nach der Shoah im 20. Jahrhundert hat es ein Umdenken in den christlichen Theologien gegeben. Erst jetzt setzte sich die Erkenntnis durch, dass Jesus selbst Jude gewesen ist und die neutestamentlichen Schriften nur aus seinem jüdischen Umfeld heraus zu verstehen sind. Der christlichen Theologie bleibt immer noch viel Arbeit, das antijüdische Erbe in ihrer Geschichte und ihren Theologien aufzuarbeiten. Immer wieder höre ich bei gläubigen Christen unbewusst und ungewollt Aussagen, die das Judentum abwerten. Aber vielleicht ist besser weiterzudenken, indem man sich nicht nur selbstkritisch mit dem Erbe in der christlichen Theologie auseinandersetzt, sondern konstruktiv aus dem Gespräch mit jüdischen Partnerinnen eine neue Theologie entwickelt, die die Stärken und Potentiale jüdischen Denkens wahrnimmt und aufnimmt. Wenn ich einsehe, dass die Verheißungen an das Volk Israel durch die Erfüllungen in Jesus Christus nicht abgegolten sind (Mt 5,17-20), dann muss neu gefragt werden: Was heißt dann „Erfüllung“ in Jesus Christus (z.B. Mt 2,15)? Was heißt Erfüllung aus verschiedenen jüdischen Perspektiven? Wie kann ich im Dialog voneinander lernen? Am 12.9.2024 darf ich meine Ideen dazu in der Reihe „Bildstörungen“ der Evangelischen Akademie zu Berlin vorstellen: https://www.eaberlin.de/seminars/data/2024/09/verheissung-und-erfuellung/

Die Tora beinhaltet den ersten Teil der heiligen jüdischen Schrift (Tanach) und besteht aus den 5 Büchern Mose [Bereschit (Genesis), Schemot (Exodus), Wajikra (Levitikus), Bemidbar (Numeri), Devarim (Deuteronomium)]. Sie ist ein grundlegendes Gesetzeswerk der jüdischen Religion und wird in den Synagogen abschnittsweise vorgelesen.