Jürgen Habermas hat einmal treffend festgehalten, dass bei der Übersetzung des Begriffs der Sünde in den Begriff der Schuld etwas verloren gegangen ist. ‚Schuld‘ meint vor allem die persönliche Verantwortung für Verstöße gegen Recht und Moral. ‚Sünde‘ aber greift tiefer. Über individuelle Verfehlungen hinaus verweist sie auf gestörte Beziehungen: zwischen Menschen untereinander – und zwischen Mensch und Gott.
In diesem relationalen Sinne zeigt sich Sünde als zerstörerische Dynamik der Selbsterhebung – das Sich-Über-Andere-Stellen –, die nie nur einzelne Opfer trifft, sondern das soziale Gefüge insgesamt gefährdet. Die Taten anderer gehen uns etwas an, selbst wenn wir die Augen vor ihnen verschließen wollen. Die Flucht vor der eigenen Verantwortung wird unweigerlich zur Mittäterschaft.
In den extremen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit schieben wir die Verantwortung positiv wie negativ oft gerne öffentlichen Akteuren zu, ohne unsere notwendige Mittäterschaft zu reflektieren. Es ist eine Sache, massive Aufrüstung und Wehrhaftigkeit zu fordern, eine andere, ob wir bereit wären, unser eigenes Leben oder das unserer Kinder für mehr Wehrhaftigkeit einzusetzen. Es ist das eine, eine offene und humane Migrationspolitik zu wollen, eine andere, die eigene (Frei-)Zeit auf das gelingende Zusammenleben konkreter Menschen verschiedener Herkünfte zu verwenden.
In den Widersprüchen dieser Fragen, die die allgemeine Situation mit unserem Leben verbinden, wird erst klar, wie es wirklich um die Welt steht. Erst im Ansichtigwerden der eigenen Verantwortung und der Weigerung, sie zu übernehmen, im Angesicht des eigenen Scheiterns, der (unbeabsichtigten) Selbsterhebung über andere – sei es aus Trägheit, Neid, Habgier, Eitelkeit, Völlerei, Lust oder Zorn – wird das ganze mich betreffende Ausmaß der Lage der Menschheit sichtbar.
Das Museum für Kommunikation in Berlin hat den sieben der christlichen Tradition entstammenden und zuvor genannten Todsünden eine bemerkenswerte interaktive Ausstellung gewidmet, die diese im Zusammenhang mit social media reflektiert. Das Projekt zitiert Reid Hoffmann, Gründer des sozialen Job-Netzwerks Linkedin, mit dem Satz: „Soziale Netzwerke sind am erfolgreichsten, wenn sie eine der sieben Todsünden triggern.“ Und tatsächlich: Die Mechanismen von social media – ständiges Vergleichen, Selbstdarstellung, Wut- und Empörungszyklen – verstärken gezielt diese ‚Todsünden‘. Sie schaffen für uns oft nicht mehr durchsichtige Abhängigkeiten, ein unkontrolliertes ‚Dranbleiben‘. Neben zweifellos positiven Aspekten entfremdet uns social media im gezielten Aufbau dieser Abhängigkeiten von der realen Verantwortung füreinander und ersetzt diese durch ein nur anscheinendes Fürmichsein.
Vor diesem Hintergrund könnte der Begriff ‚Sünde‘ als ein erstaunlich zeitgemäßes Instrument der anthropologischen Selbstverständigung spätmoderner Gesellschaften wiederentdeckt werden. Theologisch im Horizont gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten durchdacht, ließe sich ‚Sünde‘ nicht zuerst als moralischer Ausdruck, sondern als Kategorie der Diagnostik sozialer und spiritueller Pathologien begreifen. ‚Sünde‘ beschreibt dann die Zerstörung des Vertrauens der Menschen ineinander, die mit der Zerstörung des Grundvertrauens in die Welt als gute Schöpfung Gottes verschränkt ist. Dieses Grundvertrauen kann mit dem Begriff des Glaubens übersetzt werden, der bereits bei Paulus das Gegenstück zur Sünde darstellt.

Quelle: KI-generiertes Bild
Prof. Dr. Aaron Langenfeld, Dr. theol. habil., ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.