Am 26. März hat das Forum für Komparative Theologie Navid Kermani zu einer Lesung seines neuen Buches “In die andere Richtung jetzt” mit einem anschließenden Gespräch eingeladen. Einstimmig wurde im Anschluss gesagt, es sei ein gelungener Abend gewesen. Tatsächlich ist den gelungenen Abend selbstverständlich Navid Kermani, nicht zuletzt aber meinen Kollegen Yael Attia und Mohammed Abdelrahem zu verdanken, die das Buch verschlungen und sich gemeinsam mit mir Fragen überlegt hatten, welche Interesse wecken sollten und Theologie und Gesellschaft ins Gespräch bringen sollten.
Beim Lesen des Buches fällt der Tagebuchcharakter seines Schreibens stark auf. Auf der einen Seite scheinen Teile schnell und mit wenig Reflexion geschrieben zu sein. Auf der anderen Seite begegnen Passagen, in denen er dann tiefgründig über philosophische Themen wie Identität oder Menschenwürde reflektiert. An vielen Stellen reflektiert Kermani mit einem starken Bewusstsein für kulturelle Normen und kulturpolitische Gedanken. So schreibt Kermani über seine eigenen Vorurteile in Gedanken über eine Beobachtung, dass die Menschen, die er begegnet, ein starkes Rhythmusgefühl haben: „Ist es rassistisch, wenn ich so denke? Schwarzen liegt die Musik und so weiter? Das ist es wohl und doch ist es, was ich denke“ (S. 54). Kermani kommt zu dem Schluss, dass man trotz aller Versuche, nicht rassistisch sein zu wollen, Menschen doch häufig nicht anders könnten, weil sie gelernt haben, so Kermani, Dinge zu verallgemeinern und zu kategorisieren.
Kermani spricht einen kultursensiblen Punkt aus, der im Hinblick auf die Arbeit mit anderen religiösen Traditionen in der Komparativen Theologie und der postcolonial critique bereits so hinreichend reflektiert wurde, dass wir uns in einer Zeit der critique on the post-colonial critique befinden. Wenn die notwendigen Kategorien, die wir uns schaffen, um Dinge zu beschreiben, nicht funktionieren, ja selbst das Kategorisieren an sich bereits ein Problem ist, dann verlieren wir eine wichtige heuristische akademische Funktion, die uns ermöglicht, Wissen zu produzieren. Forscher wie Catherine Bell plädieren daher, sich den Kategorien bewusst zu sein, und sensibel mit ihnen umzugehen.
In meiner Zeit in den USA habe ich im akademischen Kontext die Notwendigkeit kultureller Sensibilität, vor allem im Hinblick auf den Rassismus, auf eine ganz neue Art kennengelernt. Während in Deutschland nach 1945 gesetzlich der Versuch unternommen wurde (mit der Betonung auf Versuch), Menschenrechte so in das Grundgesetz zu verankern, dass jegliche Form der systemischen Diskriminierung im Keim erstickt wird, ist der Rassismus systemisch tief im US-amerikanischen System verwurzelt. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Die Rassentrennung (engl. segregation) ist noch immer mit Blick auf Landkarten zu finden – ganze Städte findet man, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „weiß“ konzipiert wurden, und in denen es für Afroamerikaner aufgrund der Einkommensschwellen nahezu unmöglich ist, zu wohnen. Diese Realität spiegelt sich im amerikanischen Kontext wider. Zwei Dinge habe ich in diesem Kontext in Gesprächen mit meinen akademischen Kolleg:innen gelernt. Zum einen ist es wichtig, dass ich mir als weißer Mann eingestehen muss, dass es mir unmöglich ist, nicht rassistisch zu sein. Schon die Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Afroamerikaner eine ähnliche Berufslaufbahn unter sehr erschwerten Bedingungen durchlaufen als ich, einfach nur, weil sie Afroamerikaner sind, lässt mich notwendigerweise in eine Situation der Ignoranz geraten. Die Tatsache, dass ich mich bei der Organisation eines akademischen Panels auf der American Academy of Religion mit der Frage auseinandersetzen muss, ob ich einen Repräsentanten „of color“ habe, macht es mir unmöglich, nicht in Rassenkategorien zu denken. Ein solches Denken ist paradoxerweise, auch wenn ich es für notwendig halte, rassistisch, insofern, als dass ich in dieser Kategorie denken muss, um nicht rassistisch zu sein.
Zweitens habe ich gelernt, sensibel aus dem Zentrum einer Diskussion zu ihrem Rand zu gehen. Mein Kollege Byron Wratee hat mich gelehrt, dass in jeglichen Formen des Dialogs – dabei ist es gleichgültig, ob nun im akademischen Raum, im interreligiösen Dialog, oder in einem trivialen Gespräch in einer größeren Gruppe – für mich die Möglichkeit besteht, mich zurückzunehmen und jemandem „of color“ den Raum zu bieten, seine Position einzubringen und wertzuschätzen. Dieses Konzept nennt sich „Dezentralisierung.“
Rassismus, wie jegliche Form der Diskriminierung, ist auch in Deutschland immer ein gesellschaftliches Thema. Auch wenn sich der afrikanische Sklavenhandel in Deutschland nicht in demselben Maße wie in den Vereinigten Staaten etabliert hat, sind Segregationen auch hier sichtbar (ob nun aufgrund von Flüchtlingscamps oder aufgrund der städtischen Verteilung von Asylanten auf bestimmte Umgebungen. Rassismus, wenn auch weniger systemisch, ist täglich spürbar. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir aufgrund unserer intensiven, wichtigen und richtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den vergangenen 50 Jahren den Fokus auf systemischen Rassismus in Deutschland etwas vernachlässigt haben.
Navid Kermanis Auffassung, dass er rassistisch denkt, wenn er die Menschen in ostafrikanischen Ländern für musikalisch hält, ist korrekt. Ein solches Denken ist eine Stereotypisierung und auf eine gewisse Weise rassistisch. Anstelle einer bloßen Hinnahme dieser Kategorie im Hinblick auf die Musik, ergibt sich hieraus ein Potenzial, diese Kategorie aufzubrechen und aus der Situation zu lernen und die Musikalität wertzuschätzen. Kermani bestand darauf, Am Ende seiner Lesung das Lied Yèkèrmo Sèw von Mulatu Astatke, einem renommierten Jazz-Musiker aus Äthiopien, einzuspielen.

Dr. Domenik Ackermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.