Gesellschaftlicher Transfer? Lasst euch einladen!

Was die Komparative Theologie von der Komparativen Theologie lernen kann

Eine Innenstadt voller Menschen, Plakate, Parolen, Trommelgruppen und Lieder: Ein schönes Bild! Meine Töchter haben mich überredet, sie zur großen Anti-AfD-Demo zu begleiten. Viele zehntausend Menschen sind gekommen, um dem Bundesparteitag der AfD ihr lautstarkes, teils fröhliches, teils wütendes Bekenntnis für Demokratie und Vielfalt entgegenzusetzen. Ein ermutigendes Signal – doch es gibt etwas am Gesamtbild der Demonstrierenden, das mich anfangs unterschwellig irritiert und (je genauer ich hinschaue) in wachsendem Maße verstört. Ich bin nicht sonderlich Demo-erfahren. Aber ich kenne die Straßen, durch die ich hier gerade laufe. Ich kenne die Essener Innenstadt und habe noch nie erlebt, dass ich hier, so weit mein Auge reicht, fast ausschließlich weiße, deutschstämmige „Ureinwohner*innen“ erblicke. Unter den vielen Hunderten von Menschen, die mein Blick flüchtig streift, scheinen sich fast ausnahmslos Nachkommen der einstigen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu befinden. Die einzigen Menschen, denen man ihre familiäre Migrationsgeschichte auf den ersten Blick ansieht, sind die von der Stadt Essen bereitgestellten kleinen Grüppchen von Ordnerinnen und Helfern am Straßenrand. Mich beschleicht ein ebenso paradoxer wie gruseliger Gedanke: sollte die Vision der Rechtsradikalen von einem weitgehend „ausländerfreien“ Deutschland etwa ausgerechnet hier, wo engagiert für eine plurale und offene Gesellschaft demonstriert wird, Realität geworden sein?

Es mag an diesem Tag konkrete, situationsbezogene Gründe dafür gegeben haben, dass die postmigrantische Bevölkerung kaum vertreten war – sei es die Angst vor Übergriffen und Attacken von rechts, sei es das resignative Gefühl, dass es ja doch nichts bringt. Doch mir scheint, dass diese beunruhigende Momentaufnahme ein Symptom für etwas sehr viel Größeres ist. Eine Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Forschungsinstitus Gesellschaftlicher Zusammenhalt mit dem Titel „Entkoppelte Lebenswelten“ kommt zu dem Schluss, dass große Teile der hiesigen Bevölkerung selten ihr eigenes Milieu verlassen. Besonders ausgeprägt, so die Autor*innen, sei diese „Tendenz zur Netzwerksegregation“ unter AfD- und Grünen-Wähler*innen sowie unter hochgebildeten und muslimischen Bevölkerungsgruppen.[1]

Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Auseinanderdriftens zeigen sich im Kleinen und im Großen, auf regionaler und auf internationaler Ebene. Während die traditionellen Demokratien mit wachsender Instabilität zu kämpfen haben, lässt sich auf der Mikroebene beobachten, wie mediale Diskurse unversöhnlicher werden und das Unverständnis für abweichende Positionen wächst, während in der Realwelt zugleich Fremdheitsgefühle, Isolation und Einsamkeit um sich greifen – einst Wesensmerkmale einer großstädtischen Lebensform, die aber zunehmend auch in Dörfern und Kleinstädten anzutreffen sind. Mit entsprechender Dringlichkeit suchen NGOs, Parteien, Bildungs- und Kultureinrichtungen nach Wegen, Menschen außerhalb der eigenen soziokulturellen Bubbles zu erreichen. Spricht man mit Engagierten aus Politik, Kultur oder Klimaschutz vertraulich über das Thema „Diversität“, dann landet das Gespräch häufig bei eine ganz ähnlichen Art von Selbstkritik: man erreiche leider nur ein bestimmtes Milieu; die eigene Klientel sei zu homogen, zu weiß, zu akademisch und bilde noch längst nicht die Vielfalt der Gesellschaft ab.

Während also vielerorts große Ratlosigkeit herrscht, wie mit der kulturellen Segregation unserer Gesellschaft umzugehen sei, hat die Komparative Theologie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Ihr Appell: Gewährt den Andersgläubigen und Andersdenkenden Gastfreundschaft im eigenen Denken und lasst euch umgekehrt von ihnen einladen! Hört einander zu und lernt voneinander! Wie großartig diese Antwort ist und wie gut sie funktionieren kann, darf ich seit 2012 – dem Jahr, in dem ich die Komparative Theologie erstmalig kennenlernte – in den Projekten unserer interreligiösen Musikinitiative Trimum erleben.

In meinen Augen geht die Relevanz dieses Ansatzes weit über das Themenfeld der Religionen hinaus. Auch andere gesellschaftliche Akteur*innen könnten von der Komparativen Theologie lernen und profitieren, wenn sie sie denn kennen würden – was aber leider nur sehr selten der Fall ist. Doch warum eigentlich ist die Komparative Theologie außerhalb der (teils virtuellen, teils steinernen und gläsernen) Universitätsmauern derart unbekannt?

Seit ich, aus der freien Kulturszene kommend, ein Jahr lang vertretungsweise am CTSI zu Gast sein durfte, liegt einer der Gründe für mich auf der Hand: Die Komparative Theologie beherzigt ihre eigenen grundlegenden Erkenntnisse nicht. Dort, wo sie sich an ein fachfremdes oder nicht-akademisches Publikum wendet, geschieht dies allzu oft in frontalen Formaten, in einer einseitig vortragenden oder predigenden Form. Statt hinzuhören, Fragen zu stellen, sich ins Denken des jeweiligen Gegenübers einladen zu lassen, wird ein One-Way-Konzept von Wissensvermittlung praktiziert: Hier die Expert*innen, die etwas zu sagen haben, dort das Publikum oder die Gemeinde, die zwar adressiert und bespielt, aber nicht als Dialogpartner auf Augenhöhe einbezogen wird. Würde die Komparative Theologie ihren eigenen wunderbaren Ansatz ernst nehmen, dann wüsste sie, dass diese Art von Wissenstransfer in einer weithin säkularen und zugleich vielstimmigen Gesellschaft nicht funktionieren kann – schon gar nicht bei wertegeleiteten und normativ aufgeladenen Themen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich hier bloß um irgendein Orchideenfach ohne außerdisziplinäre Relevanz handeln würde. Doch das Potential der Komparativen Theologie ist zu groß, ihre Haltung zu wichtig, um sie nicht für die restliche Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Deshalb, liebe Komparative Theologinnen und Theologen: Verlasst hin und wieder eure akademische Komfortzone und praktiziert das, was ich in der Theorie von euch lernen durfte: Lasst euch ins Denken der Andersdenkenden einladen! Wagt euch aus der Deckung und setzt euch den Zumutungen und Unbequemlichkeiten internormativer Diskurse und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse aus! Investiert weniger Zeit in Fachartikel und mehr Zeit in die Welt da draußen. Die nämlich braucht euch, eure Haltung und eure Expertise!


[1]Siehe https://fgz-risc.de/presse/detailseite/entkoppelte-lebenswelten-erster-zusammenhaltsbericht-des-fgz-untersucht-die-zusammensetzung-sozialer-bekanntenkreise-in-deutschland

Fotos: Obadoba 2019, (c) Anja Schäfer, www.gipfeldialog.de

Konflikte, Krisen und Bewältigungsstrategien:

Zur Abwesenheit von Furcht in der Apostelgeschichte

Dass neutestamentliche Schriften Zeugnis unterschiedlicher Krisen und Konflikte geben, die auch Ursache ihrer Entstehung sind und in diesen mitschwingen, zeigen nicht nur die (paulinischen) Briefe eindrücklich, sondern auch die Erzähltexte des neutestamentlichen Kanons: Ein Ringen um Fragen der rechten Lehre und des rechten Verhaltens wird deutlich; Auseinandersetzungen erfolgen gegenüber der Umwelt nach außen oder gegenüber anderen gläubigen Gruppierungen nach innen. Werden diese Konflikte in den Briefen oft direkt ausgetragen und konkrete Konsequenzen der Jesusnachfolge gefordert, werden die Auseinandersetzungen in den Erzähltexten häufig stärker in die Interaktion der Erzählfiguren untereinander eingetragen. Eindrücklich wird dies auch in der Apostelgeschichte (Apg). Sie erzählt von den im Zusammenhang mit ihrer Mission (ent-)stehenden Konflikten der Apostel Petrus, Stephanus und Paulus (u.a.) mit ihrer Umwelt, und zwar in ständiger Wiederholung dieses Motivs.

Nach Jesu Himmelfahrt (Apg 1), dem Pfingstereignis mit Petrus Pfingstrede und der Konstituierung einer Gemeinde in Jerusalem (Apg 2), die auch im Zusammenhang mit Zeichenhandlungen der Apostel (insbes. des Petrus) erzählt wird, schildert Apg 4,1-22 daraufhin als Reaktion der Jerusalemer Tempelelite eine erste Konfliktsituation: Petrus und Johannes werden aufgrund ihrer im Namen Jesu ausgeübten Zeichenhandlung und anschließenden Verkündigung der Auferstehung der Toten festgesetzt (V. 3) und bedroht (VV. 17.21). Anders als zu erwarten, reagieren die Apostel in der Darstellung der Apg aber weder mit Furcht noch weichen sie zurück (V. 19f.). Petrus geht vielmehr in Konfrontation: Es gelte, dem göttlichen Willen Folge zu leisten, nicht ihrer Forderung nachzukommen. Die Erfahrung der Auferstehung dränge schließlich auf Verkündigung; das wird mittels doppelter Verneinung besonders hervorgehoben.

Nur wenige Verse später wird in Apg 5,17-42 die Resonanz des Volkes auf die Zeichen und Wunder der Apostel zum Anlass eines erneuten Konflikts mit der Tempelelite. Wenn Hand an die Apostel gelegt wird und sie in öffentliche Haft gesetzt werden (V.18), steigert sich der Konflikt vermeintlich zur Krise. Allerdings bleibt auch in Apg 5 eine Reaktion der Apostel auf ihre Situation unerwähnt. Eine (Furcht-)Emotion wird schon gar nicht erzählt, wohingegen die Emotionen der Tempelelite breite Entfaltung finden (z.B. ihre Eifersucht in V. 17, ihre Furcht in V. 26 und ihr Ergrimmen in V. 33).

Es scheint also kein Zufall zu sein, dass der Erzähler gerade nach der Gefangennahme der Apostel eine Leerstelle in Bezug auf ihr Verhalten im Text lässt. Doch was begründet den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht, die als Bewältigungsstrategie ihrer Konflikt- und Krisensituationen anmutet?

Die Abwesenheit von Furcht, die ihr unerschrockenes Auftreten stützt, hat ihren Ausgang im Verkündigungsauftrag Jesu an die Apostel in Apg 1,2.4-8.

Der lukanische Jesus ist einzigartiger Geistträger (vgl. Lk 1,35; 3,22; 4,1). Sein gesamtes Wirken gründet auf dieser Geistträgerschaft, mit der auch seine Schüler in der Beziehung zu ihm in Kontakt kommen.[1] Die Apostel werden vor der Himmelfahrt Jesu in Apg 1,2 durch den an und in ihm wirkenden Geist beauftragt und erwählt, Jesu Botschaft weiterzutragen (1,7f.). Schließlich gießt Jesus nach seiner Himmelfahrt den Geist auf seine Anhänger:innen aus (Apg 2,33 in Bezug auf Apg 2,2-4). Der Geist wirkt somit über die Epoche Jesu hinaus, weil er durch die Apostel den Fortbestand der Botschaft des Evangeliums sichert.

In Apg 4,8 ist es eben dieser von Jesus ausgegossene Geist, der in Petrus wirkt, wenn er den Vorstehern des Volkes das Evangelium verkündet, ohne Furcht in die Konfrontation mit ihnen tritt und vor ihnen den göttlichen Auftrag der Evangeliumsverkündigung stark macht.

Gleiches kann für Apg 5,17-42 gelten. Nicht nur, dass im Zuge der Gefangensetzung der Apostel keine Furchtemotion geschildert wird, der sie befreiende Engel spricht in Apg 5,19 auch keine Trostformel („Habt keine Angst“), sondern wiederholt sofort den Verkündigungsauftrag in seinem Appell an die Apostel (V. 20). Diesem nachkommend geraten die Apostel wiederum in Konflikt mit der jüdischen Elite und werden vor den Hohen Rat geführt, um ihr Verhalten um die unermüdliche Verkündigung, die keine Konfrontation scheut und keine Furcht zu kennen scheint (bzw. keine Furcht kennt), zu erklären. In der Wiederholung des vom Auferweckten empfangenen Verkündigungsauftrags und seiner Geistausgießung (Apg 5,32 in Bezug auf Apg 1,4f.) legen Petrus und die Apostel den Grund ihres Verhaltens dar: Weil Jesus nach seiner Himmelfahrt nicht mehr bei ihnen sein kann, hat er an seiner Statt den Geist auf diejenigen gesendet, die erwählt wurden und die Gott gehorchen (Apg 5,32). Umgekehrt bedeutet das: Auf diejenigen Erwählten, die Gott gehorchen und die den Verkündigungsauftrag erfüllen, kann der Geist als unverfügbare Gabe Gottes herabgesendet werden (Apg 5,24-31). Jene partizipieren dann an der Gottesbeziehung, die Heil verheißt. Hierin liegt „der Schlüssel“ für den Mangel bzw. die Abwesenheit von Furcht bei Petrus und den Aposteln: weil auf ihnen der von Jesus gesendete Geist ruht, bedarf es angesichts aller Konflikte und in allen Krisen keiner Furcht.

Relevanter Ausschnitt zur Himmelfahrt Jesu zum u.s. Altarbild

Foto: St. Clemens, Ev.-luth. Kirche in Büsum / privat


[1] Zur These vgl. Gunkel, Heidrun, Der Heilige Geist bei Lukas. Theologisches Profil, Grund und Intention der lukanischen Pneumatologie (WUNT II/389), Tübingen 2015.

„Der Frieden vom anderen Ufer“

Religionen gelten auf der ganzen Welt als Wege der Weisheit. In vielen Formen begegnet sie uns auch allegorisch und in den meisten Traditionen ist sie weiblich. Ob Athene oder Sophia aus dem Philippus-Evangelium. Spannenderweise bildet auch der Buddhismus hier keine Ausnahme. Auch hier scheint die Weisheit weiblich zu sein. Ob sie es aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Sie weist zwar eindeutig weiblich Merkmale auf (siehe Bild), kommt aber vom anderen Ufer. Das vermittelt uns der Name jener Literatur, die sie uns vermittelt, die Prajñāpāramitā, die Weisheit (Skt. prajñā) vom anderen (Skt. pāra) Ufer (Skt. mitā). Doch was ist das für ein Ufer und was hat das mit der buddhistischen Praxis und vielleicht auch mit unserer heutigen Weltsituation zu tun?

Tatsächlich existiert auch eine Weisheit unseres Ufers. Sie besteht in der Fähigkeit synthetische und analytische Urteile auf der Grundlage sensualer Erfahrungen zu bilden und logisch zu begründen. Diese Form der Argumentation ist auch dem Buddhismus alles andere als fremd.[1] Er selbst beginnt historisch wahrscheinlich nicht mit der Figur des Buddha, von der wir kaum etwas wissen, sondern mit vielen verschiedenen Schulen, die sich bereits früh in stark ausschweifenden, philosophischen Streitigkeiten verfangen hatten. Diese gingen primär um die Frage, wie es sein kann, dass es kein Selbst gibt (Skt. anātman) und doch den Kreislauf der Widergeburt (Skt. saṃsāra). Was wird wiedergeboren, wenn es keine Seele gibt, die den Kreislauf durchläuft? Wie so viele logisch-metaphysische Streitigkeiten ließen sich diese Diskurse schlicht nicht lösen. Zwischen 100 v.Chr. und ca. 400 n.Chr. entstanden dann Textsammlungen, die eine Lösungsperspektive eröffneten, die zuvor nicht bekannt war.[2] Zentrales Thema der Texte ist die Natur eines Bodhisattva, eines Wesens auf dem Weg zum Erwachen. Doch wie findet man zum Erwachen? Wie begibt man sich auf den Weg, ein Buddha zu werden?

Am Anfang steht die Einsicht, dass alle auf sensorische Wahrnehmung basierende Erkenntnis keine wirkliche Erkenntnis ist. Wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet, heißt das also, dass man zunächst einsieht, dass man träumt. Alle auf der Traumstruktur basierende Erkenntnis wäre ebenfalls eine reine Verstärkung der Traumstruktur. Ein synthetisches Urteil in einem Traum weist auf keine Wirklichkeit außerhalb des Traumes. Alle aus der Traumstruktur gewonnen Muster helfen aber ebenfalls nicht weiter. Es würde einem Menschen gleichen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen möchte. Hier kommt die Weisheit ins Spiel, die nicht Teil der Traumstruktur ist. Sie kommt von der anderen, nicht traumhaften Seite und erfüllt das Traumbewusstsein mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie jenseits des Traumes ist. Doch wie öffnet man sich für die Weisheit des anderen Ufers?

An dieser Stelle kennen viele von uns sicherlich die Bilder von buddhistischen Mönchen, die Stunden und Tage auf Kissen in der Stille verbringen. Ein klassischer Zen-Sesshin dauert sieben Tage und umfasst ca. 12 Stunden stilles Sitzen am Tag. Der Grund für diesen harten Weg liegt in der oben beschriebenen Struktur. Wenn wir unsere sensualen Eindrücke reduzieren und unsere projektiven Bewusstseinsprozesse zurückfahren, dann entsteh in unserem Geist zunächst eine Leere. Diese bietet dann aber einen Raum, indem die Wirklichkeit jenseits unserer Projektionen zum ersten Mal eine Chance hat, sich zu zeigen. Einfacher gesagt: Die Weisheit vom diesseitigen Ufer muss das Bewusstsein verlassen, wenn die Weisheit vom anderen Ufer einziehen soll.

Wir verstehen aber noch besser, worum es geht, wenn wir die Ursache unseres Leidens aus buddhistischer Sicht begreifen. Wenn wir als Menschen leiden, dann oftmals daran, dass wir uns an unsere Bilder und Projektionen hängen. Wir erkennen sie nicht als projektive Vorstellungen, sondern halten sie für die Wirklichkeit selbst. Wird die Wirklichkeit dann unseren Vorstellungen nicht gerecht rebellieren wir. Dieses Rebellieren gegen die Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des buddhistischen Leidbegriffs.

Aber der Kern der buddhistischen Praxis geht noch etwas tiefer. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage, ob wir überhaupt aus der Sicht unserer uneinsichtigen Weisheit etwas Inhaltliches über die Weisheit vom anderen Ufer sagen können. Was genau bringt sie uns bei, was wir gerade nicht aus den Kategorien unseres alltäglichen Bewusstseins lernen können? Die frühen buddhistischen Texte sprechen dies tatsächlich aus. Zumindest bzgl. der Praxis des Zen: Still zu sitzen und zu meditieren heißt, zu nicht-zweien (chin. 不二), was soviel heißt wie den Geist zu einen (Chin. 一 心).[3] Konkret lässt sich diese so beschriebene Wirklichkeit nur erfahren. Beschreiben kann man sie schlecht, weil alle Worte wieder Zweiheiten produzieren, die den geeinten Geist disruptiv zerlegen. Dennoch lässt sich eine weitere Gefühlsqualität aufführen, die mit der Erfahrung des Einen Geistes auftritt: Ein unerschütterlicher Friede, der keine Bedrohung kennt. Wenn es in meinem Geist kein anderes gibt, dann gibt es auch nichts Bedrohliches. Wenn ich selbst nicht-zwei mit allem bin, dann gibt es auch nichts, dass mich bedroht. Es fallen auch alle Ambitionen und aggressiven Weltbezüge weg. Der Gedanke, dass mein Land noch nicht groß genug ist, wird absurd und unmöglich zu verfolgen. Es ist genau diese Gefühlsqualität, die mit der Erfahrung des Einen-Geistes einhergeht. Wenn diese Qualität sich allerdings einstellt, wenn sich der Mensch, der sie erfährt, aller projektiven Bezüge entledigt hat, dann kann es sich nicht einfach um eine kulturell kontingente Erfahrung handeln. Die kontingenten Projektionsmuster wurden ja gerade abgelegt. Stimmt dies, dann müsste sich diese Erfahrung zumindest in ähnlicher Form in anderen geistlichen Bezügen finden lassen.

In der ersten Abschiedsrede des Johannesevangeliums versucht Jesus zusammenzufassen, was er als Person mit seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung hinterlassen wird: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht, sei auch nicht furchtsam.“ (Joh 14,27) Was ist das für ein Frieden, den diese Welt nicht geben kann? Wenn er nicht von dieser Welt kommt, woher dann. Wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu betrachten, dann kann uns bewusstwerden, dass selbst der Tod uns nicht in dem berührt, was wir wirklich sind. Tatsächlich gibt es bei allen Turbulenzen keinen wirklichen Grund, sein Herz beunruhigen zu lassen. Doch wie soll dies gehen. Die Welt führt uns immer wieder in neue Bedrohlichkeiten. Der Tod ist eine allgegenwärtige Präsenz, die wir verdrängen, aber eigentlich, rein innerweltlich, nicht beherrschen können. Der Satz Jesu spricht somit aus einer anderen Perspektive. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit dem Vater, dass es ihm schlicht bewusst ist, dass es nichts gibt, was ihn wirklich bedrohen könnte.

Ich möchte an dieser Stelle keinen simplen Vergleich ziehen. Dennoch konvergieren hier zwei Erfahrungen, die uns in dieser Zeit meines Erachtens unbedingt angehen. Können wir in einer Welt existieren, die nur noch unüberwindbare Polaritäten zu kennen scheint? Oder ist uns die Erfahrung des einen Geistes der Zen-Praxis ansatzweise zugänglich? Und wenn diese tatsächlich in einen unbedingten Frieden hinüberleitet, der wie nicht von dieser Welt ist, können wir als Christen an dieser Stelle etwas über die Erfahrung Jesu von einer buddhistischen Lebenspraxis lernen? Was kann es heißen, den Geist zu einen? Was könnte es heißen, mitten in den Disruptionen dieser Zeit, den Imperativ Jesu ernst zu nehmen: „Euer Herz beunruhige sich nicht.“ 


[1] Für eine beispielhafte Darlegung eines Begründungstheoretischen Zugangs im Buddhismus vgl. Paul, G. Zur Liste der begründungstheoretischen Schriften im neuentdeckten „Alten Verzeichnis buddhistischer Lehren“ des Nanatsu-Tempels. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, S. 87-104.

[2] Für eine genauere Datierung vgl. Conze, E. Perfect Wisdom: The Short Prajnaparamita Texts, Buddhist Publishing Group, 1993, i-iii.

[3] Vgl. hierzu RÖLLICKE, H.-J., Der Ursprungsgedanke des Chan-Buddhismus im China des 7. Jahrhunderts, in: RÖLLICKE, H.-J. (Hr.), Denken der Religion, München 2010, 231–247.

GLAUBEN ALS ENDLOSES FRAGEN

Wohin?

Die Antrittsvorlesung von Frau Prof. Claudia Bergmann, Herrn Dr. Hans-Christoph Goßmann und mir am 14. Juni 2024[1] möchte ich gern als «Sprungbrett» nehmen. Doch wohin?

Die Fragestellungen zum Motiv des Fragens in der Bibel, die Frau Prof. Claudia Bergmann aufgeworfen hat, möchte ich noch ein wenig weiterdenken auf das Motiv des Fragens hin, des Befragens Gottes, die Vergeblichkeit des Wartens auf eine Antwort, des selbst Infragegestelltseins als Motiv des Glaubens überhaupt. Das möchte ich aber nicht «freihändig» tun, sondern mit einem Blick in die Kirchengeschichte, die in diesen Fragen überraschende Orientierung, wenngleich keinen Halt (!), bietet.

Dass es sich dabei um subjektive Schlaglichter handelt, soll dabei nicht überraschen. Das Wesen des Fragens ist es ja gerade, wie Frau Prof. Claudia Bergmann anhand des Buches Jona eindrucksvoll erwiesen hat, dass es sich dabei um die Redeform zweier Individuen handelt – und nicht um die Aufdeckung «objektiver» Wahrheiten an eine anonyme Masse.

Heilige

Die «Heiligkeit der Heiligen» der Kirchengeschichte von ihren Anfängen bis heute liegt in ihrer Wehrlosigkeit gegenüber einem Glauben, der ihnen keine Sicherheit bietet, sondern sie existentiell entblößt und hinterfragt. Den christlichen Glauben präsentieren diese Menschen als eine Erfahrung tiefster Widersprüche, die die religiösen Kategorien ihrer Zeit aus den Angeln hebt und ein immer wieder neues theologisches Fragen, eine immer wieder neue «Justierung» theologischer Sprache provoziert.

Den Weg des Glaubens präsentieren diese («meine» Heiligen) nicht als Erleuchtung; sondern im Glauben überlassen sie sich einem Gott, dessen Handeln sich in den widersprüchlichsten Erfahrungen zeigt, indem es sich verbirgt, und das so immer neues Befragen, nie aber endgültiges Beantworten hervorruft. Auf diese Weise bilden diese Heiligen die communio sanctorum: Kirche ist der Raum solchen Fragens, und wo immer sich solches Fragen ereignet, ist Kirche.

Ausgangspunkt

Schon der Ausgangspunkt der Kirche ist die ratlose Frage: Wie kann Gottes Heil in einem verurteilten und getöteten jüdischen Menschen Gestalt gewinnen?

Auf diese Frage gibt das Judentum auf den ersten Blick keine Antwort – und doch ist es genau der Gott des Judentums, der in diesem Paradox sein Handeln entfaltet, ein Handeln, das, mit anderen Worten, auf einen verborgenen Gott verweist, der seinen Willen nicht «auf geradestem Weg» (Regina Ullmann) enthüllt, sondern der ganz und gar in eine verwirrende Welt der Zweideutigkeiten eintritt und in Widersprüchen wirkt.

Wenn die Bibel vom Heiligen Geist spricht, so spricht sie von einem, der die Gläubigen diesem Jesus Christus gleichwerden lässt, indem sie selbst bestimmte menschliche Erfahrungen durchleben – nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder.

Anerkennung oder Antworten erwarten sie dafür keine. Paulus (ca. 5 – 64) ergießt geradezu seinen Sarkasmus über die, die etwas anderes sein wollen als der Abschaum der Welt (2Kor 4,8–11; 6,3–10).

Verletzlichkeit

Gegen die «logische Schlussfolgerung» des Arius (ca. 250 – 336), ein verletzlicher Gott könne nur ein «niedrigerer Gott», also gar kein Gott sein, hebt Athanasius (ca. 296 – 373) das Wunder gerade des Gottes hervor, der Mensch wird und sich verletzlich macht; das Wunder gerade des Gottes Jesus Christus, der sich mit fremdem Leid identifiziert, der sich selbst befragen lässt angesichts des Leidens.

Festhalten

Für die Kappadokischen Väter (4. Jh.) ist Gott gerade dann Gott, wenn wir ihn nicht verstehen, begreifen und festhalten können. Gott selbst ist Zeichen einer Zukunft, die unvorhersehbar ist.

Keine Erleuchtung ist denkbar, die dem Menschen die Schau Gottes eröffnen könnte: Moses, wenn er Gott begegnet, steige «immer höher» (Gregor von Nyssa, ca. 335 – 394); Gott ziehe sich immer wieder auf die andere Seite einer unüberbrückbaren Kluft zurück; die Seele werde nie in der Sicherheit einer platonischen Einheit Ruhe finden. Erst auf dem Gipfel des Berges wird Moses eine «nicht von Menschenhand gemachte Stiftshütte» vor Augen geführt: Christus. – Doch immer weiter drängt Moses; selbst die Begegnung mit Christus ist kein Haltepunkt! (De vita Moysis).

Selbst der Anflug einer statischen Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen wird unterlaufen. Das Alte Testament erklingt als Echo im Neuen: «Sie waren aber auf dem Wege hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging ihnen voran; und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich …» (Mk 10,32).

Herz

Buch X der Confessiones liest sich als das leidenschaftlichste Zeugnis dessen, was es heißt, unterwegs und noch längst nicht am Ziel zu sein. Augustinus (354 – 430) beschreibt den Schmerz eines Lebens voller unbeantworteter Fragen, voller unerfüllter Wünsche, die Sehnsucht nach dem einen, dem Wunsch, der hinter allen Wünschen verborgen ist: «Du hast mich berührt, und nun brenne ich vor Sehnsucht nach Deinem Frieden.»

Der Gläubige ist vor sich selbst verborgen. Im Vorgriff auf Freud und im Angriff auf Pelagius (ca. 354 – 418) schreibt Augustinus über die Hilflosigkeit des menschlichen Herzens: Wie Rationalität eben nicht der wichtigste Faktor in der menschlichen Erfahrung, das menschliche Subjekt stattdessen gewaltigen Vektoren von Kräften ausgesetzt sei – der Vernunft quälend undurchsichtig. «Denkt ihr, Menschen, die Gott fürchten, hätten keine Gefühle?» (Enarrationes in Psalmos 76,14). «Der einzige Weg, in diesem Leben vollkommen zu sein, besteht darin, zu wissen, dass man in diesem Leben nicht vollkommen sein kann». (Enarrationes in Psalmos 38,6).

Unruhe

Ähnlich wie Augustinus ist Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328) Mystiker, gerade indem er Dichter ist. Auch seine Mystik ist eine Mystik der Unruhe. Der Geist findet überhaupt keine Ruhe, sondern wartet und bereitet sich auf etwas vor, das noch kommen wird, aber noch verborgen ist. Nur die äußerste Wahrheit ist gut genug; doch Gott zieht sich Schritt für Schritt zurück, um die Sehnsucht des Suchenden am Leben zu erhalten.

Kreuz

In der 20. These seiner Heidelberger Disputation bringt Luther (1483 – 1546) es auf den Punkt: Gott offenbart sich im Gegenteil, gerade indem er sich darunter verbirgt. Jede Antwort auf die Frage nach Gott ist gleichzeitig eine Rede über seine Abwesenheit. Nur hier, an einem «Unort», der sämtliche Vorstellungenvon Gott infragestellt, kann Gott selbst Gott sein.

Das Fragen ist endlos – das verbindet Luther und Eckhart: Dort wo keine Zeichen, keine Erfahrung des Religiösen auszumachen sind, ist Gott zu «finden».

Die Kehrseite davon wirft ein Licht auf den Menschen: Nichts in menschlichem Handeln und Beweggründen kann eindeutig sein; wie kann ein Mensch jemals davon überzeugt sein, dass eine Handlung «gut» ist? Immer sieht sich der Mensch als hinterfragt.

Gegner

Auch unter seinen «Gegnern», in der Gegenreformation, findet Luther einen Verbündeten. Auch Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) steht stets vor Augen, dass eine Spiritualität, die wähnt, Christus gefunden zu haben, in Wirklichkeit eine Flucht vor Christus ist.

Gefängnis

In der Haft, in äußerster Isolation, übersetzt Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) die Zuspitzungen Luthers ins 20. Jahrhundert: Der Mensch lebt vor Gott gerade so, als gäbe es keinen Gott.

Leiden

Mit Dorothee Sölle (1929 – 2003) schließlich schließt sich der Kreis zum Neuen Testament: Keine Frömmigkeit ohne unbeantwortete Fragen; keine Spiritualität ohne Schmerz.

Aber von hier aus wagt sie einen waghalsigen Sprung: Akzeptanz von Leiden meint nicht Passivität dem Leiden gegenüber, meint nicht eine Tatenlosigkeit, die entmenschlicht und verhärtet. Leid und unbeantwortete Fragen zerreißen den Selbstschutz des Gläubigen: Das Herz wird gebrochen, um Platz für Mitgefühl zu machen.

Antwort ohne Antwort

Von Paulus von Tarsus über Augustin von Hippo zu Martin Luther; von Johannes vom Kreuz über Dietrich Bonhoeffer zu Dorothee Sölle – diese verschiedenen Fäden zu einem einzigen verwoben, in dem Fragen und Antworten, Infragegestelltsein und Aufgehobensein ineins fallen – das könnte bedeuten: Gott ist in unseren Fragen, in unserem Schmerz und unserem Protest!

Diese «wahllos ausgewählten» Heiligen stehen für eine Wolke von Zeugen (Hebr 12,1), die dem Hinterfragtwerden nicht ausgewichen sind und deren Berufung es war, das Hinterfragen weiterzutragen.

Obwohl sie selbst eigentlicher Ort solchen Fragens ist, hat Kirche die so Fragenden, die Hinterfragenden, die Verletzlichen – weil auch sich selbst Hinterfragenden – und die Mitfühlenden nicht immer mit besonderer Wärme willkommen geheißen.

Das ist keine Frage.


[1] https://videos.uni-paderborn.de/m/be773ec45e93adb76bc9ed4071553063269a6f52876400738595fb4b36d6792a9c4c92e42929a9364ee436bb617648873e57a81226826ab8e123444fa5c934b4