Inklusion – zum Scheitern verurteilt?! Wie bedrohlich der Lehrkräftemangel in Deutschland wirklich ist

4.000 Lehrkräfte fehlen allein in NRW. Von den ausgeschriebenen Stellen für Sonderpädagog:innen sind an den Schulen für Gemeinsames Lernen in NRW Zweidrittel unbesetzt. In den anderen Bundesländern Deutschlands sieht es seit Jahren schon ähnlich aus, da der Altersdurchschnitt unter den Lehrkräften laut OECD-Berichten weiterhin ansteigt, während die Anzahl an Berufseinsteigern im Bereich des Lehramts weiter sinken. Laut Prognosen des Essener Bildungsforschers Prof. Klaus Klemm werden bis zum Jahr 2030 höchstwahrscheinlich 81.000 Lehrkräfte fehlen, sodass der Hamburger Schulsenator Ties Rabe im Zusammenhang mit dem erhöhten Bedarf an Lehrkräften bereits vor einem langfristigen „Versorgungsproblem“ warnt. Doch welche Auswirkungen kann dieser Mangel an Lehrkräften auf den Weiterausbau des inklusiven Schulsystems in Deutschland nehmen und was lässt sich dagegen unternehmen? Diesen Fragen soll nun im Folgenden auf den Grund gegangen werden (https://www.news4teachers.de/2022/03/lehrkraeftemangel-kmk-zeigt-sich-ratlos-und-will-jetzt-erst-einmal-bildungsforscher-befragen/).

Laura Schrader (Von Studierenden für Studierende)

Hinsichtlich der Umsetzung der inklusiven Bildung in Deutschland fällt angesichts des erhöhten Lehrkräftemangels besonders auf, dass immer häufiger Förderstunden ausfallen, da entweder nicht genügend Sonderpädagog:innen an den Schulen zu finden sind oder die wenigen Sonderpädagog:innen, die an den Schulen angestellt sind, für Vertretungsstunden genutzt werden, um den Fortgang des Pflichtunterricht aufrechtzuerhalten. Die Leidtragenden sind in diesem Fall die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eigentlich ein Anrecht auf qualitativ hochwertige sonderpädagogische Förderung haben, diese jedoch oftmals nicht in vollem Maße erhalten. Von Chancengleichheit für alle Schüler:innen kann also im deutschen Schulsystem derzeit aufgrund des Personalmangels nicht die Rede sein.

Aber auch für die Sonderpadagog:innen und Regelschullehrkräfte selbst hat dieser Mangel Folgen: Während die Anzahl an sonderpädagogischen Gutachten, die die Sonderpädagog:innen parallel zum Schulalltag schreiben sollen, steigt, sind Regelschullehrkräfte neben ihrer Tätigkeit als Klassen- oder Fachlehrer:in mit der Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf allein gelassen, da meist nicht für jede Klasse ein:e Sonderpadagog:in zur Verfügung steht. Dies führt zu einer erhöhten Belastung des schulischen Personals, welche wiederum zu häufigen Krankheitsfällen führen kann.

Aber ist Inklusion trotz erheblichen Personalmangels umsetzbar? Zumindest 97% der 695 Befragten einer Umfrage des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) sind der Meinung, dass Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht realisierbar sei, da es ihnen neben Personal für Fördermaßnahmen und Differenzierung im Sinne eines individualisierten Unterrichts auch an professionellen Unterstützungssystemen und Fortbildungsangeboten mangele (https://www.news4teachers.de/2022/05/umfrage-fast-alle-lehr kraefte-halten-die-inklusion-unter-den-derzeitigen-rahmenbedingungen-fuer-nicht-realisierbar/).

Angesichts dieser misslichen Lage stellt sich nun die Frage, was die Schulpolitik hinsichtlich des Personalmangels im Schulsektor unternehmen will. Laut der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) plane die Bildungsverwaltung von Berlins regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey die Grundlage für die Berechnung des schulischen Personals so zu ändern, dass die Schulen die Anzahl an sonderpädagogischen Förderstunden für Schüler:innen mit höchstem Förderbedarf (aufgrund starker Beeinträchtigungen im Sehen und Hören, in der geistigen und körperlich-motorischen Entwicklung sowie bei Autismus) von acht auf drei Wochenstunden reduzieren können. Dies bedeutet, dass Kinder mit diesem Förderbedarf nur noch drei Stunden in der Woche professionelle Förderung von ausgebildeten Sonderpädagog:innen erhalten müssen und die gekürzten Stunden stattdessen durch pädagogische Unterrichtshilfen, Erzieher:innen oder Betreuer:innen aufgefangen werden können. Wenn jede Schule von dieser Regelung Gebrauch macht, könnten auf diese Weise 500 volle Sonderpädagogikstellen wegfallen.

Angesichts des Mangels an vollständig ausgebildeten Sonderpädagog:innen an deutschen Schulen, hört sich dies vielleicht zuerst einmal nach einer hinnehmbaren Maßnahme an. Jedoch dient diese Regelung laut Tom Erdmann, Landesvorsitzender der GEW, in erster Linie dazu, die Statistik zum Lehrkräftebedarf zu beschönigen, denn wenn 500 Stellen auf einmal gestrichen werden können, lässt sich der eigentliche Personalmangel besser kaschieren. Die Folgen der Einschnitte im sonderpädagogischen Personal auf die Umsetzung inklusiver Bildung zeigen sich erst nachwirkend: Während die Rahmenbedingungen bereits zuvor von einigen Lehrkräften bemängelt wurden, könnten sich die Bedingungen für Inklusion durch solche Entscheidungen noch weiter verschlechtern, da auf Kosten der Schwächsten an der Bildung gespart werden würde. Der Weg zum Ziel einer qualitativ hochwertigen und deutschlandweit vergleichbaren inklusiven Bildung scheint dadurch noch weiter in die Ferne zu rücken. Mal abgesehen davon, dass die Umsetzung einer solchen Regelung fraglich ist, da es auch im Bereich der Erzieher:innen, Betreuer:innen und pädagogischen Unterrichtshilfen einen Fachkräftemangel gibt. Wer soll dann also für die angemessene Förderung von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufkommen (https://www.news4teachers.de/2022/05/gew-giffey-plant-einschnitte-beim-schulischen-personal-fachkraefte-mangel-soll-kaschiert-werden/)?

Statt Einschnitte im schulischen Personal vorzunehmen und gutgläubig weiter Werbekampagnen für den Lehr:innenberuf zu machen, schlagen die GEW sowie der Verband Bildung und Erziehung (VBE) andere Maßnahmen vor, um dem Personalmangel entgegen zu wirken und die Qualität inklusiver Bildung in Deutschland zu verbessern: Zu aller erst sollten mehr Studienplätze an den Universitäten geschaffen sowie die Studienbedingungen verbessert werden, um mehr Interessenten die Möglichkeit zu geben, sich als Lehrkraft bzw. Sonderpädagog:in auszubilden. Außerdem könnten Schulen mit verstärktem Personalmangel durch Lehramtsstudierende unterstützt werden. Dies würde auch den Studierenden die Chance geben, wertvolle Praxiserfahrungen neben der Theorie im Studium zu sammeln. Um den Lehr:innenberuf attraktiver zu gestalten, wird zusätzlich vorgeschlagen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und vollständig ausgebildete Lehrkräfte deutschlandweit nach A13 (Beamte) und E13 (Angestellte) zu bezahlen. Darüber hinaus erscheinen der GEW und dem VEB finanzielle Zuschläge für Lehrkräfte, die in Mangelregionen einer erhöhten Belastung ausgesetzt sind, als sinnvoll. Damit sich schulisches Personal beispielsweise in inklusionsspezifischen Themen zukünftig noch besser berufsbegleitend weiterbilden kann, sollten zudem die Kapazitäten für Weiterbildungsmaßnahmen ausgebaut werden. Zudem könnte das Einführen weiterer Professionen, die das Schulangebot erweitern könnten, eine schnelle Unterstützung besonders für unterbesetzte Schulen liefern. Jedoch bleibt dabei zu beachten, dass dies keinen Ersatz für ausgebildete Sonderpädagog:innen darstellen kann und darf. Abschließend lässt sich noch festhalten, dass zum Aufrechterhalten der Qualität der Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Förderstunden verbindlich von der Vertretung ausgenommen werden sollten. Somit würde bei erhöhtem Personalmangel nicht zuerst an der Förderung der Kinder gespart werden, die auf diese eigentlich am meisten angewiesen sind.

Jedoch wird sich erst in Zukunft zeigen, ob die Schulpolitik sich der Vorschläge der GEW und des VEB annimmt und inwiefern diese Maßnahmen sich als gewinnbringend für das inklusive Schulsystem in Deutschland erweisen können. Zu hoffen bleibt aber, dass der Ernst der Lage erkannt wird, denn nur so wird es möglich sein, das Ruder für die Inklusion rumzureißen (https://www.gew-nrw.de/meldungen/detail-meldungen/news/wer-reisst-das-ruder-rum-fuer-die-sonderpaedagogik.html).