Die schnellen und gravierenden Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona- Virus bergen für uns alle, aber auch gerade für Menschen, die von Exklusion und Marginalisierung bedroht sind, viele neue Risiken der Exklusion und Hürden zur aktiven Teilhabe in ihrem derzeitigen Alltag. Vor allem die substantiellen Veränderungen durch Kontaktverbote und häusliche Isolation stellen neue und riesige Herausforderungen, die als Problemfelder systematisiert und auf unterschiedlichen Ebenen in den Blick genommen werden sollten. Teilhabe ist eine reziproke, gemeinschaftliche Aufgabe. So haben die Gesellschaft und auch die einzelnen Mitglieder in dieser Gesellschaft Verantwortung für die Teilhabe eines jeden einzelnen. Um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, benötigen wir alle neben (Selbst-) Vertrauen und verschiedenen Kompetenzen auch systemische Voraussetzungen. Für Menschen, die ohnehin schon von Exklusion bedroht sind, brechen durch das Kontaktverbot viele systemische Strukturen zusammen, die ihnen erst eine Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Andere systemische Strukturen, wie z.B. pflegerische Dienste müssen zwar erhalten werden, erhöhen aber das Infektionsrisiko für die Betroffenen. Dies bedeutet, dass Menschen, die ohnehin in der Gefahr stehen, gesellschaftlich an den Rand gestellt zu werden, durch die derzeitig beispiellose Lage mit noch größeren Problemen und Herausforderungen konfrontiert werden als der Rest der Gesellschaft. Der Vorstand der Sektion Sonderpädagogik in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft sieht es als seine Aufgabe an, auf diese Situationen aus wissenschaftlicher Perspektive aufmerksam zu machen. Dabei geht es uns darum, Fragen und Probleme zu thematisieren, zu systematisieren und ggf. politisch zu adressieren. Wir reagieren damit auf die Lage, dass die Schutzmaßnahmen, so berechtigt sie derzeit sein mögen, nicht nur erhöhte Exklusionsrisiken bergen, sondern Menschen, die ohnehin schon am Rand unserer Gesellschaft stehen, tatsächlich existenziell bedrohen könnten. Dies wird derzeit eher ausgeblendet und zu wenig thematisiert.
Das Recht auf Teilhabe ist gesellschaftlicher Auftrag und gesamtgesellschaftliche Pflicht. Es ist aus systemischer Perspektive darauf zu achten, dass Teilhabe auch in Zeiten von Kontaktverboten und häuslicher Isolation als menschliches Grundbedürfnis ermöglicht und gesichert wird.
- Durch die häusliche Isolation können Bedarfe nur aktiv eingefordert werden, weil andere Menschen die Bedarfe schlicht nicht sehen können. Haben die Betroffenen den Mut und auch die Fähigkeit, dies zu tun? Werden genügend Möglichkeiten vorgehalten, diese Bedarfe anzumelden und auch angemessen zu erfüllen?
- Die Maßgabe zur Einhaltung von 1,5 m Mindestabstand und die Einschränkung des öffentlichen Nahverkehrs grenzen die Mobilitätsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen erheblich deutlicher ein, was sich wiederum auch auf die selbständige Bewältigung des Alltags auswirkt und zu mehr Isolation führt. Wie verkraften Betroffene diese Einschränkungen psychisch?
- Menschen, die in Heimen leben und/oder auf Pflege angewiesen sind, sind auf unterschiedlichen Ebenen betroffen:
- Ø Mangelnde Schutzkleidung erhöht das Ansteckungsrisiko.
- Ø Personalmangel (verschärft durch die Schließung von Schulen, Tageseinrichtungen, Werkstätten) könnte auch hier das Gefühl der sozialen Isolation verstärken und pädagogische Arbeit verunmöglichen.
- Es zeigt sich, dass für diese Bereiche keine ausreichenden Vorsorgemaßnahmen bzw. Notfallpläne entwickelt wurden. Eine genaue Situationsanalyse ist dringend geboten.
- Wie sorgen Schulen und andere Bildungsinstitutionen in Zeiten der häuslichen Isolation für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit im Zugang zu Bildung? Was wissen Lehrkräfte über die häusliche Situation und welche Wege der Kommunikation stehen zur Verfügung und werden auch genutzt? Wie eng ist auch der Kontakt zu Kolleg*innen im Kinder- und Jugendschutz? Diese Krise macht beispiellos darauf aufmerksam, dass auch hierfür bisher keine systematischen Vorsorgeszenarien entwickelt wurden. Zudem gibt es keinerlei Leitlinien für die Lehrkräfte zum sogenannten ‚Homeschooling‘ – hier finden sich – je nach Kreativität und Engagement – höchst unterschiedliche Formen der Aufgabenstellungen, Rückmeldeformate und Anstrengungen zur Kontaktpflege zu den Schüler*innen. Darüber hinaus ist es für viele Eltern kaum noch leistbar, über einen längeren Zeitraum auch die psycho-sozialen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen zu befriedigen, dies gilt z.B. für Schüler*innen, die ohne die ihnen vertrauten Routinen des Alltags in Krisen geraten – hier ist externe Hilfe unabdingbar. Wenn an eine Exitszenario gedacht wird, sind diese unterschiedlichen Voraussetzungen zwingend zu bedenken, denn auch digitales Lernen nach den Osterferien wird nicht gleichermaßen nutzbar sein.
- Es ist davon auszugehen, dass sich die Bildungsbenachteiligung auf Grund der unterschiedlichen familiären Ressourcen, ein Lernen im System der Familie zu ermöglichen und zu unterstützen, deutlich vergrößern und verfestigen wird. Gibt es schon praktikable optionale organisatorische Überlegungen (z. B. Verlängerung der Schulpflicht, freiwillige Klassenwiederholungen), um dem entgegen zu wirken?
- Pädagogik, insbesondere die Sonderpädagogik, sind auf das Lernen in Beziehungen und das Lernen in Gruppen angewiesen. Wie können in Zeiten von Kontaktverboten diese Grundvoraussetzungen pädagogischen Handelns aufrechterhalten werden? Und inwiefern müssen Beziehungen auch wieder neu angebahnt werden?
- Für viele Menschen ist diese Pandemie existenziell (Arme, Obdachlose, Kinder aus prekären Verhältnissen). Tafeln sind bspw. geschlossen, Menschen müssen in prekären Wohnverhältnissen auf engstem Raum zusammenleben. Werden die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit noch ausreichend befriedigt?
Aus wissenschaftlicher Perspektive können aufgrund der historischen Einmaligkeit der Situation keine Ad-hoc-Lösungen oder gar Handlungsoptionen geboten werden. Es bedarf einer genauen Situationsanalyse, um diese Fragen angemessen zu diskutieren. In der derzeitigen Notsituation werden höchst unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, die sich von sofortigen Finanzhilfen seitens der Regierung bis hin zu individuellem Engagement erstrecken. Hier bleibt die Frage, ob diese Hilfen sinnvoll sind und tatsächlich bei denen ankommen, die sie benötigen? Hierfür kann und sollte Wissenschaft die notwendige Reflexionsfolie bieten.
Im Namen des Vorstands der Sektion Sonderpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft