Die Schweiz weist mit 1,8 Millionen Menschen einen hohen Anteil an Einwohner:innen mit Behinderung auf. Diese fühlen sich in einigen Bereichen nicht gleichberechtigt und fordern ein Mitspracherecht in politischen und gesellschaftlichen Themen. Die erste sogenannte „Behinderten-Session“ ermöglicht 44 ausgewählten Betroffenen dieses Recht und bot ihnen am 24.03.2023 in Bern einen Ort, ihre Gedanken und Forderungen zu äußern.
Eva Brägelmann (Von Studierenden für Studierende)
Sowohl das Recht zu wählen, als auch das Recht gewählt zu werden, ist für Menschen mit Behinderung nicht so einfach wie für ihre Mitbürger:innen ohne Beeinträchtigung. Aus diesem Grund fordert ‚Pro Infirmis‘ als nationale Dachorganisation für Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen in der Schweiz in ihrer Resolution die vollständige politische Teilhabe (https://www.proinfirmis.ch/politik/behindertensession/resolution.html).
Der Titel „Behinderten-Session“ wurde nicht ohne Grund oder gar negativ konnotiert gewählt. Er soll vielmehr direkt und unmissverständlich aufzeigen, worum es sich handelt, und zwar um Menschen mit Behinderungen und deren Hinderung an politischer Teilhabe.
Die 1,8 Millionen Menschen mit Behinderung in der Schweiz ergeben prozentual 22% der Bevölkerung. Diese Zahl sollte sich in den 200 Nationalratssitzen widerspiegeln, weshalb 44 Menschen mit Behinderungen einen Parlamentssitz erhielten. Von den 22% sind 5% der Menschen in der Schweizer stark in ihrem Alltag eingeschränkt. Die restlichen 17% bezeichnen sich als weniger stark eingeschränkt, doch ist es unklar, wie viele von ihnen sowohl von sich aus als auch von der Gesellschaft aus als „Menschen mit Behinderung“ angesehen werden. Es herrscht also eine große Bandbreite dieser Bevölkerungsgruppe, doch alle verfolgen dasselbe Ziel: Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – weshalb sie gemeinsam für ein solches Erreichen kämpfen sollen und wollen (https://www.proinfirmis.ch/politik/behindertensession/infos.html).
Ein großer Teil der 22% weisen psychische oder kognitive Behinderungen auf, welche visuell nicht erkennbar sind und dessen Einschränkungen deshalb nicht wahrgenommen werden. Abstimmungserläuterungen werden beispielsweise zu kompliziert dargelegt und sind dementsprechend für Menschen mit kognitiver Behinderung nicht zugänglich. Des Weiteren liegt keine Gebärdensprache oder ergänzende Lautsprache bezüglich Wahlunterlagen, Informationen und Erklärvideos für hörgeschädigte Menschen vor, ebenso gibt es keine Wahlalternative bei Sehbehinderungen und die Hindernisfreiheit von öffentlichem Verkehr und Gebäuden wird ignoriert.
All das sind nur einige der Hürden und Barrieren, welchen Menschen mit Behinderungen ausgeliefert sind. Es gilt also diese zu bekämpfen, was nur durch Aufmerksamkeitserregung gelingen kann. Die Behindertensession ist für Betroffene deshalb ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sie erhoffen sich weitere Veranstaltungen dieser Art und fordern ihre Rechte und eine inklusive Politik mit acht zusammengefassten Kernforderungen (https://www.proinfirmis.ch/politik/behindertensession/resolution.html):
- Wir fordern, autonom und ungehindert unser Wahl- und Stimmrechtausüben zu können. Niemandem darf aufgrund einer Behinderung dieses Recht entzogen werden. Bund, Kantone und Gemeinden garantieren, dass allen Menschen mit Behinderungen sämtliche Informationen zugänglich sind und das Wahl- und Abstimmungsverfahren autonom und hindernisfrei möglich ist.
- Wir fordern, selbstbestimmt und gleichberechtigt am politischen Leben teilzuhaben. Bund, Kantone, Gemeinden, aber auch die Parteien und politische Veranstalter verpflichten sich, ihre Veranstaltungen, Abläufe, Gebäude, Dienstleistungen, Unterlagen und Informationen für alle Menschen mit Behinderungen zugänglich zu machen, öffentliche Mittel dafür zur Verfügung zu stellen und treten gegen Ableismus ein.
- Wir fordern eine bessere direkte Repräsentation von Menschen mit Behinderungen auf allen politischen Ebenen – vom Gemeinderat bis in den Bundesrat. Bund, Kantone, Gemeinden und Parteien verpflichten sich, dieses Ziel durch Massnahmen zur Unterstützung, Ermutigung und durch finanzielle Nachteilsausgleiche zu erreichen. Der Staat garantiert, dass Personen nach Beendigung eines politischen Amtes die gleichen Sozialleistungen wie davor erhalten.
- Wir fordern bei allen politischen Entscheiden angehört zu werden und mitsprechen zu können. Dafür bezeichnen alle ständigen Kommissionen auf allen staatlichen Ebene Menschen mit Behinderungen als Expert*innen und konsultieren diese. Zusätzlich wird auf nationaler Ebene eine ausserparlamentarische Behindertenkommission geschaffen.
- Wir fordern unsere Mitstreiter*innen, die 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen, dazu auf, aktiv zu werden, sich zu vernetzen und sich auf allen Ebenen politisch einzubringen. Dabei gilt es, bestehende Hindernisse weiterhin aufzuzeigen und sich den Platz in der Politik zu erkämpfen.
- Wir fordern die Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen auf, ihre Vorbildfunktion wahrzunehmen. Sie verpflichten sich, ihre strategischen und operativen Gremien mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen, sie autonom und hindernisfrei mitgestalten zu lassen und sich gemeinsam mit ihnen für die vollständige politische Teilhabe einzusetzen.
- Wir fordern, dass Menschen mit Behinderungen nicht an bestimmten Fähigkeiten gemessen und auf ihre Behinderungen reduziert werden. Nach Grundrecht sind alle Menschen gleich und sollen keine Ungleichbehandlung und stereotypische Zuweisungen erfahren.
- Wir fordern, dass diese erste Behindertensession nicht die letzte sein wird. Wir haben noch viel zu sagen und einzubringen.