Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 ist in Deutschland Inklusion als Ziel ausgegeben. Ein Umdenken in der Auffassung und Handhabung von personenbezogenen Differenzmerkmalen war die Folge. Zuvor noch als Trigger für Ausschlussprozesse angesehen, sollten sie fortan als Gelegenheiten wahrgenommen werden, denen mit Unterstützungsbedarf die nötigen Hilfen bereitzustellen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben, frei von jeglichen Restriktionen, benötigen. Teil dieser sich verändernden Gesellschaft war und ist die Institution Schule, welche als Ort der Sozialisation Normen und Werte vermittelt und somit eine Grundlage schafft für jene neue Normalität, die geprägt sein soll durch kollektives Leben und Lernen. Und so kommt es, dass der Bildungssektor mit der Ausbildung junger Menschen einen wesentlichen Beitrag zu leisten hatte bei der Erfüllung dieser ganzheitlichen Aufgabe. Die Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2010 sah dementsprechend vor, im Sinne eines inklusionsdidaktisch angedachten Unterrichts „gemeinsame[s] zielgleiche[s] oder zieldifferente[s] Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen in […] allgemeinen Schule[n]“ (KMK 2010, S. 3, https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_11_18-Behindertenrechtkonvention.pdf) zu praktizieren.
Raphael Schuler (Von Studierenden für Studierende)
Die rechtliche Grundlage war somit gelegt und, mit Bezug zum Bildungswesen, auch erste handlungsspezifische Empfehlungen für Schulen daraus formuliert. Allerdings nehmen damals wie heute zwei Faktoren Einfluss, die der Umsetzung von inklusiver Bildung zuwiderlaufen. Zum einen das segregierende Schulsystem, welches in seinen Grundzügen noch heute Bestand hat, erkennbar anhand der Unterteilung von weiteführenden Schulen in Förder-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien. Zum anderen der Bildungsföderalismus, welcher aussagt, dass die Art und Weise schulischer Unterweisung in den Verantwortungsbereich jedes einzelnen Bundeslandes fällt (vgl. Appel/Lieske/Reinelt 2012, S. 125, Inklusion: Deutschland zwischen Gewohnheit und Menschenrecht – Google Books). Während Ersteres der zunehmenden Diversität in unserem Land nur unzureichend gerecht wird und auch nicht dem Beschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2010 entspricht, kann Zweiteres den fortlaufenden Inklusionsprozess mit den dazugehörigen, notwendig umzusetzenden Veränderungen nicht angemessen ausführen. Letzteres wird zudem gestützt durch eine Studie aus dem Jahr 2020, durchgeführt von Mark Rackles, Ex-Staatssekretär für Bildung in Berlin, deren Ergebnisse die Schlussfolgerung zulassen, dass die Umsetzung nicht nur stagniert, sondern auch bewusst ausgebremst wird, wodurch laut seiner Aussage „die exklusive Struktur des Sonderschulwesens erhalten bleibt“ (Anders 2021, https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/bundeslaender-bremsen-bei-der-inklusion-an-schulen-ab/). Festgemacht hat Rackles das an drei Ebenen von Strategien:
Die Erste bezieht sich auf die besondere Wahl von Wörtern bei der Bezeichnung von Schulvarianten. So verschwimmen seiner Meinung nach die Grenzen zwischen Sonder- und Regelschulen, wodurch die Verfolgung des inklusiven Weges leichter fällt. Die Zweite bezieht sich auf das Elternwahlrecht, dass durch die Abschaffung von Schulvarianten vermeintlich untergraben würde. Die Dritte bezieht sich auf Mindeststandards von nicht zukunftsträchtigen Schulvarianten, Stichwort Sonderschule, um so ihr Überleben zu sichern (vgl. ebd., https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/bundeslaender-bremsen-bei-der-inklusion-an-schulen-ab/).
Statistisch untermalt wird das Ganze durch Erhebungen der Kultusministerkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt. Zwei Aspekte stechen dabei besonders hervor, welche die zuvor beschriebene negative Entwicklung darlegen und in einem von Rackles als „Entschleunigungsparadigma“ (ebd., https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/bundeslaender-bremsen-bei-der-inklusion-an-schulen-ab/) bezeichneten Abfall von Inklusions- und Exklusionsquote resultieren:
Der Anteil der Förderschüler:innen im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Schüler:innen ist, unabhängig vom Förderort, seit 2015 stärker angestiegen gegenüber dem Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf, die inklusiv in allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Das bedeutet, dass ein Mehr an Schüler:innen mit sonderpädagogischem Untertstützungsbedarf keinen Platz an einer allgemeinen Schule findet, ergo außerhalb der sogenannten Regelschulen weiterhin fernab vom inklusiven Weg an Förderschulen ausgebildet wird. Deren Anteil ist ebenfalls seit 2015 konstant geblieben. Hinzukommt, dass die Primarstufe in Form der Grundschule noch den größten Anteil inklusiver Beschulung ausmacht, was keine Überraschung darstellen dürfte, da sie aufgrund der Schulpflicht zunächst einmal allen Schüler:innen einen Platz bietet (vgl. ebd., https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/bundeslaender-bremsen-bei-der-inklusion-an-schulen-ab/).
Es muss konstatiert werden, dass die Länder seit sieben Jahren die Bemühungen zurückgefahren haben, schulfähige Kinder mit Förderbedarf im Regelschulbetrieb einzugliedern. Das ist umso erschreckender, da die Zahl diagnostizierter sonderpädagogischer Förderbedarfe kontinuierlich steigt. Bezogen auf die Eingangsfrage kann demnach nicht von Widerspruch die Rede sein, es gilt allerdings bis heute den Zusammenhang herzustellen und inklusive Bildung für jeden zu ermöglichen.