Mehr Inklusion – trotzdem nicht weniger Exklusion?

Im Laufe der vergangenen Jahre wurden viele Anstrengungen für das gemeinsame Lernen an Regelschulen vollzogen. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung bestätigt dies und zeigt, dass immer mehr Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf an einer allgemeinen Schule unterrichtet werden. Die Inklusionsrate stieg in den letzten zehn Jahren von 19 auf 43 Prozent an (https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2020-06/inklusion-schule-foerderung-kinder-bertelsmann-studie). Interessant dabei ist jedoch das Ergebnis, dass die Anzahl der Schüler*innen, welche an einer Förderschule unterrichtet werden, seit den letzten zehn Jahren kaum sinkt – lediglich um 0.6 Prozent.

Die steigenden Inklusionsraten zeigen, dass die angestrebten Ziele des gemeinsamen Lernens und der Inklusion in Deutschland Fortschritte machen. Anders als zu erwarten, sind die Förderschulen jedoch weiterhin gefüllt.

Wie passt die steigende Inklusionsrate mit einer stagnierenden Exklusionsrate zusammen?

Paula Stern (Von Studierenden für Studierende)

Ein ausschlaggebender Punkt ist hierbei die Gesamtanzahl der Schüler*innen in Deutschland. Diese ist von knapp 8 Millionen auf aktuell 7,4 Millionen gesunken. Als gegensätzliche Entwicklung lässt sich beobachten, dass bei immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostisch festgestellt wird. Die Zahl stieg in den letzten zehn Jahren von 472.000 auf 545.000 Kinder (http://docs.dpaq.de/16446-studie_inklusion_bertelsmann_stiftung_2020.pdf). Die vermehrten Diagnosen sind darauf zurückzuführen, dass viele neue Konzepte zur Inklusion und dementsprechend auch neue Diagnoseinstrumente, Testverfahren usw. entwickelt und evaluiert wurden und eingesetzt werden können. Zudem werden auch das Personal und Fachkräfte für Sonderpädagogik, Inklusion und Diagnostik an den allgemeinen Schulen erweitert und durch weitere Fortbildungen immer kompetenter im Umgang mit genannten Diagnoseinstrumenten, sodass mehr personelle Ressourcen in den Schulen und Klassen vorhanden sind und ein Förderbedarf eher auffallen und diagnostiziert werden kann.

Trotz der vielen Bemühungen das gemeinsame Lernen zu verstärken, muss jedoch auch angesprochen werden, dass es weiterhin gute Gründe gibt, ein Kind oder Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf an einer Förderschule zu unterrichten. Viele allgemeine Schulen sind in Deutschland weder von den Räumlichkeiten und den Lehrmaterialen, noch von den Förderkonzepten und Fachpersonal her in der Lage das gemeinsame Lernen angemessen umzusetzen. Ein weiteres Phänomen ist, dass die Vergabe eines zusätzlichen Förderbedarfs weiterhin Stigmatisierung und Etikettierungsprozesse mit sich bringen, sodass viele betroffene Schüler*innen trotz gemeinsamen Lernens ausgeschlossen und benachteiligt werden, sowohl sozial, als auch im Unterricht selbst.

Das sogenannte Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma verdeutlicht diese Problematik. Die Etikettierung von Schüler*innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf bringt den Schulen die notwendige Ressourcensicherung. Je mehr Förderkinder die Schule besuchen, desto mehr Stunden und Stellen werden für zusätzliche personelle Ressourcen, wie z.B.  Sonderpädagog*innen oder weitere Fachkräfte genehmigt.

Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, dass die Prozesse der Stigmatisierung und das Aufdrücken eines dauerhaften Stempels durch den Förderschwerpunkt abgeschafft werden. Schließlich soll die Vergabe eines Förderbedarfs nicht der Kategorisierung und Stigmatisierung dienen, sondern der Förderung der Schüler*innen und einer Verbesserung der Lehr- und Lernumstände. Würden die Phänomene wie Stigmatisierung und folgende Benachteiligungen nicht ein Problem darstellen, würde die Vergabe eines Förderbedarfs nicht schon ein Dilemma selbst darstellen und den betroffenen Schüler*innen könnte schneller und effektiver geholfen werden. Gleichzeitig würden den Schulen durch einen größeren Anteil an Förderkindern auch mehr materielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen, wodurch die individuelle Förderung, aber auch eine generelle Unterstützung aller Schüler*innen und  eine bessere Unterrichtsqualität gewährleistet werden könnte. Davon profitieren alle Schüler*innen, Lehrkräfte und Eltern.

Gerade die zuletzt genannten Eltern unterstützen das Konzept der Inklusion und des gemeinsamen Lernens. Das konnte ebenfalls anhand der Studie der Bertelsmann Stiftung bestätigt werden. Es ist erfreulich zu hören, dass gerade die Eltern, welche Erfahrungen mit Inklusionsklassen und inklusiven Schulen gemacht haben, positive Meinungen zum gemeinsamen Lernen vertreten und viele positive Effekte sowohl für ihre Kinder, als auch für die Klassenkamerad*innen ohne zusätzlichen Förderbedarf beobachten können. Jedoch berichtet auch ein großer Anteil der befragten Eltern und Lehrkräften von Verbesserungspotenzialen, gerade bezogen auf die Ausstattung und personellen Ressourcen der Schulen.

Neben dem Zeitungsartikel und der Studie an sich gab es noch viele interessante Leser*innenkommentare zu diesem Thema. Hier wird deutlich, dass die Befürwortung des gemeinsamen Lernens durchaus von der Art der Förderschwerpunkte abhängt und schwankt. Während das gemeinsame Lernen mit motorisch eingeschränkten Kindern ausgesprochen unterstützt wird, gibt es bei dem Förderschwerpunkt Lernen und ESE deutlich mehr Sorgen und Gegenstimmen. Viele Eltern befürchten, dass die anderen Mitschüler*innen in einer inklusiven Klasse nicht genüg berücksichtigt oder in ihren Lernprozessen eingeschränkt werden. Diese Sorgen und Vorurteile wurden allerdings hauptsächlich von Eltern/Leser*innen geteilt, die selbst keine Erfahrung mit dem inklusiven Unterricht gemacht haben. Andere Eltern, die hingegen ihre Kinder an einer inklusiven Schule haben, berichten überwiegend von positiven Erfahrungen und dass auch andere Schüler im Bereich des sozialen Lernens und Kooperation viel von der Inklusion profitieren können und keine Einbuße im fachlichen Unterricht erleben.

Viele Fortschritte, Erfolge, steigende Inklusionsraten und die positive Unterstützung aus den großen Teilen der Bevölkerung stellen gute Ergebnisse für die Verwirklichung der Inklusion dar. Jedoch ist es noch ein langer Weg, bis das Konzept von einer gemeinsamen Schule für alle Kinder in ganz Deutschland umgesetzt werden kann. Besonders die Ausstattungen der Schulen und der aktuelle Lehr- und Fachkräftemangel, aber auch Prozesse der Stigmatisierung oder die Werteeinstellung vieler Lehrkräfte, stellen das deutsche Schulsystem vor große Herausforderungen.

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