„Alles basiert auf dem männlichen Gehirn!“

‚Als Ärzte Autismus erforschten, studierten sie ausschließlich das männliche Geschlecht. Alles basiert auf dem männlichen Gehirn!‘ Dies sind, frei übersetzt, die Worte der 19-jährigen Kanadierin Page Layle (https://www.tiktok.com/@paigelayle/video/6800736555548937477). Ich bin über das Videoportal/soziale Netzwerk „TikTok“ auf ihr Profil gestoßen. Auf diesem versucht sie unter anderem, mit stereotypen Vorstellungen von Autismus-Spektrum-Störung zu brechen. Dabei legt sie besonders viel Wert auf die Symptome bei Mädchen. Im nachfolgenden Beitrag könnt Ihr mehr darüber erfahren. Hier auch noch ein interessanter Literaturhinweis: Preißmann, Christine (2013): Überraschend anders: Mädchen & Frauen mit Asperger. Stuttgart: TRIAS.

Bei der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Autismus-Spektrum-Störung zeigt sich: Um die Situation der Menschen zu verbessern, ist ein umfassendes Verständnis ihrer Situation, ihres Verhaltens und ihrer Besonderheiten notwendig. Dieses Verständnis kann man erreichen, wenn man den Betroffenen zuhört und ihre Erfahrungen in zukünftige Maßnahmen einbezieht. Es ist sowohl wichtig, die Zusammenarbeit zwischen Menschen mit Autismus und ihren Angehörigen als auch die mit Fachleuten zu verbessern. Dafür sind Informationen über die Vielfalt autistischer Störungen für die Betroffenen selbst und alle anderen aus ihrem Umfeld notwendig. Es liegt also an uns allen, eine Gesellschaft zu schaffen, die kreativ, innovativ, flexibel und unkonventionell genug ist, um auf die vielfältigen, neuen Herausforderungen für die Betroffenen eingehen zu können, bei Mädchen und Frauen ebenso wie bei Jungen und Männern.

Anna Kretschmer (Von Studierenden für Studierende)

Die meisten Interessierten kennen die tiefgreifende Entwicklungsstörung Autismus oder besser die Autismus-Spektrum-Störung. In diesem Zusammenhang dürfte auch bekannt sein, dass Formen von Autismus deutlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert werden. Aber warum ist dies der Fall? Die Fachwelt geht bei Autismus aktuell noch von einem Geschlechterverhältnis von einem Mädchen auf 6 bis 8 Jungen aus. Es wird jedoch immer häufiger diskutiert, ob die tatsächliche Verteilung nicht eher bei 1:4 oder sogar bei 1:2,5 liegt. Anders als bei Jungen werden Formen von Autismus bei Mädchen/Frauen nicht schon im frühen Kindesalter, sondern meist erst im Jugend- oder Erwachsenenalter diagnostiziert. Paige Layle selbst hat Autismus und bezeichnet es als Privileg, dass es bei ihr „so früh“, mit 15 Jahren diagnostiziert wurde. Das liegt daran, dass sich Ausprägungen der autistischen Symptomatik der betroffenen Mädchen und Frauen von denen bei Jugendlichen männlichen Geschlechts unterscheiden. Die geltenden Diagnosekriterien beschreiben eher die männliche Ausprägung des Autismus. Mädchen, die sich hiervon unterscheiden, werden mit diesen Kriterien häufig gar nicht erfasst. Zudem ist das weibliche Geschlecht anderen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt. Dem zu Folge erhalten sie erst sehr spät die richtige Diagnose und eine effektive Förderung.

Bei einer Autismus-Spektrum-Störung sind vor allem das Kontaktverhalten und die soziale Interaktion auffällig. Dabei haben die betroffenen Personen Schwierigkeiten, sich auf andere Personen einzustellen und Gespräche aufrecht zu erhalten. Ebenso haben sie Probleme bei nonverbaler Kommunikation. Es fällt ihnen schwer, ihre Mimik, Gestik oder ihren Blickkontakt angemessen zu steuern und bei anderen richtig zu interpretieren. Somit fehlen ihnen für uns selbstverständliche Informationen, die man einem Gespräch entnehmen kann. Betroffene halten strikt an Regeln, Bekanntem und Gewohntem fest, die ihnen Stabilität versprechen. Darüber hinaus konzentrieren sie sich mehr auf Details und haben Schwierigkeiten, größere Zusammenhänge zu erkennen. Dadurch, dass sie Hilfe bei scheinbar leichtesten Aufgaben benötigen, schwierige Anforderungen dagegen manchmal nahezu mühelos erledigen, wirken sie in der Kindheit sowie im Jugend- und auch noch im Erwachsenenalter auf ihre Umgebung oft merkwürdig. Die Symptome sind bei Mädchen oft subtiler und schwächer ausgeprägt als bei Jungen. Die betroffenen Mädchen werden daher oft lediglich als „seltsam“ wahrgenommen, nicht jedoch als umfassend beeinträchtigt.

Mädchen mit Autismus-Spektrum-Störung sind in der Regel ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren. Sie verhalten sich eher passiv und sind zurückgezogen, was eher dem gesellschaftlichen Rollenbild der Frau entspricht. Ein stilles, schüchternes und bescheidenes Mädchen wirkt weniger störend und verlangt deswegen keine sofortige Intervention. Mädchen mit Autismus-Spektrum-Störung erlernen soziale Fähigkeiten meistens schneller als Jungen und sind besser darin, ihre Schwierigkeiten zu verstecken und sich zu „tarnen“. Sie beobachten aufmerksam und versuchen, andere Mädchen nachzuahmen oder sogar zu kopieren (z. B. deren Mimik und Stimme, aber auch soziale Verhaltensweisen), um nicht aufzufallen und um „unsichtbar“ in der Gruppe mitlaufen zu können. Teils versuchen sie, die Dinge auswendig zu lernen, die ihnen im sozialen Kontakt schwer fallen. Dennoch sind Mädchen und Frauen mit Autismus häufiger sozial veranlagt als Jungen und können durchaus eine beste Freundin haben. Insgesamt zeigen sie oft ein größeres Interesse an Freundschaften und Beziehungen als Jungen und können soziale Situationen, soziale Kommunikation oder Freundschaft häufig gut reflektieren.

Nur weil Mädchen und Frauen mit einer Autismus-Spektrum-Störung über mehr soziale Kompetenzen verfügen als betroffene Jungen und Männer, heißt dies aber nicht, dass sie weniger Schwierigkeiten haben. Es ist also genauso wichtig, ihnen effektive Unterstützung anzubieten. Oft profitieren die Betroffenen vom Training sozialer Kompetenzen in Gruppen, wobei sie besonders die Erfahrung, nicht allein mit ihren alltäglichen Problemen zu sein, als wichtig und befreiend empfinden können. Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe speziell für betroffene Mädchen und Frauen wird ebenso als sehr hilfreich erachtet.

Es ist wichtig, dass Betroffene vor allem lebenspraktische Unterstützung finden. Viele Kleinigkeiten, die für andere Menschen ganz selbstverständlich sind, müssen die Betroffenen mühsam erlernen. Es muss ihnen oft geholfen werden, ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse auszubilden und zu entscheiden, was sie mögen und was ihnen gut tut. Dies gilt für Mädchen/Frauen und Jungen/Männer gleichermaßen.

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