In ihrer bildungsstatistische Analyse aus Anlass des 10. Jahrestags des Inkrafttretens der UN Behindertenrechtskonvention am 26. März 2019 machen die Bielefelder Wissenschaftler/innen Helen und Marcus Knauf darauf aufmerksam, dass die gemeinsame Unterrichtung von Schüler/innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf stagniert (vgl. Neue Westfälische, Ausgabe Bielefeld, Zwischen Weser und Rhein, 15.03.2019) und ziehen damit eine enttäuschende Bilanz für den Zeitraum 2009-2017. Die Zahlen weisen darauf hin, dass insbesondere das Bundesland NRW seine Inklusionsverpflichtung nicht erfüllt hat – doch stimmt das so?
In der Sonderauswertung für NRW zeigt sich:
# 1: Kaum Fortschritte bei der schulischen Inklusion
Es kann lediglich insgesamt ein Rückgang von 12% konstatiert werden. 2017 stagnierte die Inklusion von Schüler/innen aus Förderschulen. Lediglich Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen werden kontinuierlich häufiger an allgemeinen Schulen unterrichtet (-52%). Bei Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung kam es zu einer Steigerung von 21%.
# 2: Separation in NRW höher als im Bundesdurchschnitt
In NRW besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Schüler/innen mit einem sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen unterrichtet werden.
# 3: Wachsender sonderpädagogischer Förderbedarf
Bei immer mehr Schüler/innen wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert. Es zeigt sich insgesamt eine Steigerung von 30% in den letzten 10 Jahren. Bei Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen ging die Diagnose um 4% zurück; dagegen stieg die Diagnose bei Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung um 86% an.
# 4: Mehr Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen
Der Anteil der Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an allgemeinen Schulen unterrichtet werden, hat sich vervierfacht.
# 5: Zusätzlich 31.000 Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in NRW
Die wachsende Zahl von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf stammt nur zu ca. ¼ aus Förderschulen. Primär handelt es sich hierbei um Schüler/innen, die zusätzlich mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf diagnostiziert wurden.
Nähere Informationen unter: https://www.pedocs.de/volltexte/2019/16690/pdf/Knauf_2019_Schulische_Inklusion_in_Deutschland_NRW.pdf
Soweit die Zahlen, aber was sagen sie aus?
Eine schnelle Kausalanalyse nach der medialen Kurzformel: Inklusion stagniert oder scheitert gar, scheint hier kontraproduktiv.
Immer mehr Schüler/innen mit einem sonderpädagogischem Förderbedarf werden an allgemeinen Schulen unterrichtet. Gleichzeitig steigt der diagnostizierte sonderpädagogische Förderbedarf bei Schüler/innen, was auch daran liegen könnte, dass Lehrkräfte nach dem Inkrafttreten der UN-BRK vermehrt sensibilisiert werden für notwendige Unterstützungsbedarfe ihrer Schüler/innen. Ob dieser Förderbedarf als Statusdiagnostik den weiteren Bildungsgang der Schüler/innen dominiert, bedarf einer genauen Analyse. Allerdings wird ein Großteil der diagnostizierten Schüler/innen (bis auf den Förderschwerpunkt Lernen, wobei dieses an der Schließung dieser Schulen liegen kann) nach wie vor an Förderschulen unterrichtet, was darauf schließen lässt, dass ein Teil der allgemeinen Schulen (noch) kein Konzept für sich gefunden haben, Schüler/innen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen an ihrer Schule zu unterrichten. Aber auch hierfür bedarf es seriöser Forschungsergebnisse aus Wissenschaft mit Praxis, um Gründe für die dargestellten Entwicklungen offen zu legen. Die Analyse bildungsstatistischer Daten bietet zunächst keine Antwort auf noch dringend ausstehende Fragen im Kontext inklusiver Schulentwicklungsprozesse.