Sch(m)utz

Die Maske gehört mittlerweile zu meiner Alltagsroutine. „Schlüssel, Portemonnaie, Handy…“ wiederhole ich in meinen eingeübten – ja fast rituellen – Sprüchen, bevor ich das Haus verlasse, „…und die Maske! Ich hab‘ alles!“ Ja, die Maske ist in gewissem Maße effektiv, da sie die Virusbelastung eines Gegenübers um bis zu 70% reduziert. Zudem sagen einige Menschen, dass sie oft die Anonymität hinter der Maske und den „Schutz“ genießen, die sie vor analysierenden Blicken bietet. Dank der Maske schaue ich Menschen viel mehr in die Augen. Ich habe sogar gelernt, dass das Lächeln, welches sich an den Augenringmuskeln und den Lachfältchen um die Augen erkennen lässt, das eigentliche echte Lächeln ist und den Namen „Duchenne-Lächeln“[1] nach einem französischen Wissenschaftler trägt. Grundsätzlich gibt es also viele positive Effekte der Masken.

Es gibt aber auch eine sehr dunkle Seite des Tragens der Schutzmasken – und vor allem deren Entsorgung – auf die ich in diesem Beitrag hinauswill. Einigen Studien zufolge stellt die falsche Entsorgung der Masken eine Katastrophe für unsere Umwelt dar. Mehr als 8 Millionen Tonnen Plastikmüll haben wir Menschen in der Pandemie produziert. Eine Großzahl davon sind die Masken, die wir so achtlos und nicht ordnungsgemäß entsorgen. Diese werden aus langlebiger Plastik hergestellt. Die falsche Entsorgung der Masken führt dazu, dass die Mikroplastik über Flüsse in die Ozeane gelangt, und ein langanhaltendes Problem für die Meeresumwelt darstellt. Ein großer Anteil dieses Abfalls landet wieder an den Stränden. Fotos und Tauchervideos dieses ökologischen Unheils sind überall im Netz zu sehen. Einige Meeresaktivisten sprechen sogar davon, dass wir „mehr Masken als Quallen im Mittelmeer haben werden,“ wenn sich unser Verhalten bezüglich der Entsorgung dieser Masken nicht ändert.

Als ich letztens einige Artikel zu diesem Problem gelesen habe, erinnerte ich mich an einen Koranvers, in dem das Erscheinen des „Unheils“ (fasād) auf der Welt als direkte Konsequenz dessen beschrieben wurde, was der Mensch „mit seinen Händen“ tut. In Sure Ar-Rūm (Q 30:41) steht: „Unheil ist auf dem Land und im Meer erschienen wegen dessen, was die Hände der Menschen gewirkt haben: und so wird Er sie einiges von dem kosten lassen, was sie getan haben, auf daß sie zurückkehren mögen.“ 

Auch das aktuelle „Unheil“ mit den Masken haben tatsächlich wir Menschen mit unseren Händen verursacht. Nicht jeder in gleichem Maße, aber alle zusammen doch nur wir! In seinem Korankommentar schreibt Muhammad Asad, dass das menschliche Stiften des Unheils auf Erden damit zusammenhängt, dass der Mensch Gott vergessen hat. Einen Auszug aus seinem Kommentar möchte ich an dieser Stelle teilen: „So wird die zunehmende Verderbnis und Zerstörung unserer natürlichen Umwelt, die sich in unserer Zeit so schrecklich – wenn auch erst nur teilweise – erweist, hier vorausgesagt als ‘ein Ergebnis dessen, was die Hände der Menschen gewirkt haben’, d.h. jener selbstzerstörerischen – weil gänzlich materialistischen – Erfindungsgabe und rasenden Aktivität, die nun die Menschheit mit zuvor unvorstellbaren ökologischen Katastrophen bedroht: eine zügellose Verschmutzung von Land, Luft und Wasser durch industriellen und städtischen Abfall, eine zunehmende Vergiftung des Pflanzen- und Meereslebens, alle Arten von genetischen Mißbildungen in den Körpern der Menschen selbst durch einen immer weiter wachsenden Gebrauch von Drogen und scheinbar „nützlichen“ Chemikalien und das allmähliche Aussterben vieler Tierarten, die für das menschliche Wohlergehen notwendig sind…“[2]

Obwohl die Masken uns auf verschiedene Weisen schützen, bleibt es in unserer Verantwortung, sie ordnungsgemäß zu entsorgen, um dem ökologischen Unheil entgegenzuwirken – auch wenn es scheint, dass wir alleine nicht viel bewirken können. In den Sufi-Kreisen ist die Geschichte von einem Spatzen bekannt, der versucht hat, das Feuer, in welches der Prophet Abraham geworfen wurde, zu löschen. Als ihm andere Vögel erklären wollten, dass er mit einem mickrigen Tropfen in seinem Schnabel nichts erreichen kann, antwortete der Spatz: „Ich weiß, dass ich das Feuer nicht löschen kann. Ich bin aber für mich verantwortlich, und will zeigen, auf wessen Seite ich stehe.“


[1] https://lexikon.stangl.eu/22684/duchenne-laecheln

[2] Asad, Muhammed, Die Botschaft des Korans, S. 779.

Ahmed Husic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Maske #Umwelt #Schutz #Schmutz

Nahtoderfahrungen und ihre Deutungen

Laut verschiedenen Umfragen hatten schätzungsweise mind. vier bis fünf Prozent der Menschen eine Nahtoderfahrung. Wenn über dieses Thema diskutiert wird, verläuft die Diskussionslinie oft an der Frage entlang, ob sie sich allein durch neuropsychologische Prozesse o.Ä. erklären lassen, das „letzte Atemholen“ in einem Abbauprozess darstellen, oder ob sie tatsächlich einen kleinen Blick auf ein womögliches Jenseits verschaffen, oder zumindest einen kleinen Vorgeschmack ermöglichen. Meiner Ansicht nach ist diese Debatte spannend, lässt allerdings wenig Raum für eine andere Fragedimension: Was macht eine Nahtoderfahrung mit einem Menschen? Hinterlässt sie eine freisetzende oder bedrückende Wirkung?[1] Wie verändern sich Deutungsmuster und Sichtweisen auf die Welt, wie beeinflussen sie das Leben? Von außen Deutungsmuster zu rationalisieren kann schnell übergriffig werden oder zumindest Dimensionen wegrationalisieren, was dann dazu führt, dass diese Erfahrungen manchmal selbst im engsten Familienkreis nicht miteinander geteilt werden, weil sie schließlich „nur Hirnprozesse“ beschreiben oder als irrational angesehen werden, oder dass ihnen zumindest für sich selbst nicht weiter nachgespürt wird, obwohl sie doch eigentlich etwas sehr Bereicherndes sein können.

Das Thema ist für mich besonders interessant, weil ich selbst im Alter von 7 Jahren einer solchen Erfahrung begegnet bin. Die Frage war für mich als Kind nicht, welche Hirnprozesse ablaufen, noch, ob das, was ich wahrgenommen habe, „wahr“ oder „falsch“ war. Da war überhaupt gar kein Gedanke. Nur tiefe Ruhe und Stille, wie ich so eine Art von Stille im Leben nie wieder vernommen habe, auch wenn ich sie mir immer wieder versuche ins Gewahrsein zu rufen. Und auch sehr viel Demut, Gleichmut, Sanftmut, ein liebevolles und ruhiges Gewahrsein der Welt trotz und gerade wegen einer lebensbedrohlichen Situation. Diese Erfahrung war ein außergewöhnliches Geschenk für mich, da dort etwas war, was ich selbst mit größter Mühe und Anstrengung niemals selbst hervorrufen oder herstellen könnte.

Ich lese mir gern Berichte von anderen durch, die über ihre Nahtoderlebnisse berichten und ihre Erfahrung, oder das, was sie aus dieser Erfahrung mitnehmen, teilen. Denn die Erfahrung selbst lässt sich weder ganz teilen noch in Worte fassen, aber die Konsequenzen und persönlichen Erträge für die eigene Weltdeutung lassen erahnen, dass ein innerlicher Prozess stattgefunden hat, der aus oder von dieser Erfahrung nachhaltig geprägt ist. Zwar lässt sich aus meiner Sicht nie ganz rekonstruieren, ob nun gewisse Erfahrungen allein ein bestimmter Auslöser für Entscheidungen und Inhalte im Leben sind oder nicht, aber doch müssen sie unabweislich einen Einfluss auf uns genommen haben. Hin und wieder stelle ich mir z. B. die Fragen: Hätte ich wohl Philosophie und Theologien im Dialog studiert, wenn ich diese Erfahrung nicht erlebt hätte? Wie wäre mein Leben dann wohl verlaufen, ähnlich oder ganz anders? Wie hätte ich diese Erfahrung nicht anders als ein Geschenk deuten können, christlich geprägt? Hätte ich mich wirklich so sehr mit dem Buddhismus beschäftigt, wenn mich diese Stille nicht innerlich so ergriffen hätte? 

Auch mit Menschen aus anderen Traditionen habe ich gesprochen oder von ihren Berichten gelesen. Dabei ging es gar nicht primär um eine Übereinstimmung oder Unterschiede des Erlebten auf inhaltlicher Ebene, wie eine gemeinsame Erfahrung eines sanften und hellen Lichts, noch um ein rationalisierendes Erklärungsmuster, sondern vielmehr um Deutungsmuster vor dem Hintergrund der eigenen religiösen Tradition (wenn sich aus einer Tradition heraus verstanden worden ist) und persönlichen, zaghaften Deutungsversuchen. Denn sind diese Berichte nicht gerade so spannend und bereichernd, weil sie Offenheit zur Deutung und zum Staunen lassen, wenn wir ihnen diesen Raum gewähren, in einer Zeit, in der wir am liebsten alles erklären und verstehen möchten? Und sind sie nicht gerade ein Anlass zum interreligiösen und interdisziplinären Dialog, weil sie sich von so vielen Perspektiven aus adressieren lassen, weil sie auf unterschiedliche Weise herausfordern und anregen?


[1] Beides scheint z. B. nach den Schilderungen der Befragten von Moody möglich zu sein. Vgl. Raymond A. Moody, Nachgedanken über das Leben nach dem Tod. 3. Aufl., Reinbek: Rowohlt 2012.

Sarah Lebock ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK).

#Nahtoderfahrungen #Licht #Stille #Staunen

Back to the roots – Zwischen Sport und Reisemagazin

In den Medien ist oft der Satz zu hören, dass die Pandemie uns als Gesellschaft verändern wird. Persönlich kann ich die Aussage nur bestätigen. Seit Beginn der pandemischen Situation habe ich eine neue Leidenschaft: Todesanzeigen lesen. Sie sind in meiner Tageszeitung jeden Samstag als Beilage zwischen dem Sportteil und dem Reisemagazin zu finden. Durch die starken Kontakteinschränkungen im Frühjahr 2020 waren die Todesanzeigen für mich ein wichtiges Informationsmedium, um Kenntnis von dem Tod von Menschen aus dem Bekanntenkreis oder stadtbekannten Persönlichkeiten zu nehmen. Mittlerweile lese ich nicht nur die Namen in den größeren Anzeigen, sondern betrachte jede noch so kleine Anzeige. Meine Gedanken kreisen um jeden Einzelnen und was von ihnen durch die Anzeige übrigbleibt. „Jede Seele wird den Tod schmecken“ (Sure 21, Vers 156). Mit dem Tod ist das Ende ihres irdischen Daseins markiert und ihre Seele ist zu ihrem Ursprung zurückgekehrt, so wie der Koran es in Sure 2, Vers 156 sagt. 

Längst verabschiedet habe ich mich von dem Gedanken, das Leben der Verstorbenen nach der Verweildauer auf der Erde nach dem Motto „Wer lange gelebt hat, hatte ein gutes Leben“ zu bewerten. In Gedanken hoffe ich, dass sie ein erfülltes Leben hatten. 

Jedes Mal, wenn ich im Freundes- und Bekanntenkreis von meiner Leidenschaft erzähle, nehme ich unterschiedliche Reaktionen darauf wahr, die auch vermutlich symptomatisch für den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema sind. Ich wurde letztens gefragt, warum ich es mache. Ich antworte: Sie steigern meine Dankbarkeit für das Leben als ein Geschenk und anvertrautes Gut Gottes. Sie verändern meine Perspektive auf meine eigene Endlichkeit. Manchmal führt das Thema auch zu einer Stille und ist wie ein Stimmungskiller. In der Mehrheit der Gesellschaft wird das Thema oft wie etwas Privates, wie ein Tabuthema behandelt und führt zu einer erschrockenen Verschlossenheit und Zurückhaltung. Hängt die Verdrängung des Themas in unserer Gesellschaft damit zusammen, dass in unserer säkularisierten Gesellschaft kein Platz für die Endlichkeit und damit der Begrenztheit der menschlichen Existenz ist? Der Drang nach der Steigerung der Leistungsfähigkeit und Selbstoptimierung lässt eben keinen Platz für die Verletzlichkeit.

In vielen Todesanzeigen lese ich den Satz: „Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt“. Eine Aussage, der viele Muslim*innen mehr als irritiert. Im muslimischen Kontext sind Bestattungen keine Privatangelegenheit der Familie. Sie haben immer einen Öffentlichkeitscharakter, zumal die islamische Jurisprudenz es als Aufgabe der Gemeindemitglieder definiert, ihre Toten zu beerdigen. In meinem Herkunftsland ist es Tradition, auf die Beisetzung eines Verstorbenen mit einem Gebetsruf zwischen den Gebetszeiten über Lautsprecher hinzuweisen und den Ort des Totengebetes und des Friedhofes so bekannt zu geben. Und wenn man sich zufällig in der Nähe aufhält, nimmt man an dem Begräbnis als Erinnerung daran teil, dass ein Mitglied der Menschheitsfamilie seine Reise zu seinem Schöpfer, angetreten hat, back to the roots.

Übrigens findet man Todesanzeigen von verstorbenen Muslim*innen ohne Migrationsgeschichte. Verstorbene mit einer Migrationsgeschichte werden mehrheitlich immer noch in ihre Heimatländer überführt. Wenn eine Bestattung in Deutschland erfolgen soll, legt man Wert auf eine zeitnahe Beisetzung, sodass die Beisetzung schneller erfolgt als das Erscheinen der Todesanzeige. Auch wird die Todesnachricht einer verstorbenen muslimischen Person oft über die sozialen Medien schneller und effektiver verbreitet. Hin und wieder werde ich von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft gefragt, ob an dem Tag X eine bekannte muslimische Persönlichkeit auf dem muslimischen Grabfeld beigesetzt worden sei, da man dort eine große Menschenansammlung gesehen habe. In muslimischen Kontexten spielt die Fürsorge eine große Rolle, sodass Verwandte, Freunde oder Bekannte noch zum Teil wochenlang sich um die Hinterbliebenen kümmern und sie im Alltag unterstützen. 

Phillippe Ariés arbeitet in seinen Büchern historisch auf, dass in früheren Epochen in Europa die Gemeinschaftskomponente im Umgang mit dem Tod durchaus stärker war. Seit dem 20. Jahrhundert wird der Tod nach Ariés als ein notwendiges Übel angesehen, dass man nicht in die Öffentlichkeit trägt. Inwieweit solche Veränderungen auch in muslimischen Gesellschaften stattgefunden haben bzw. Muslim*innen als religiöse Minderheit in Europa von dem Umgang der dominanten Kultur beeinflusst werden, wäre eine empirische Untersuchung wert. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Tod #Islam #privat #Leben

„Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe …!“ (Ps 22,12)

Die Welt ist nun schon fast zwei Jahre fest im Griff des Coronavirus und die Infektionszahlen sind in Deutschland so hoch, wie nie zuvor. Da kann die Bitte in Psalm 22 nur allzugut nachvollzogen werden. Aber wo ist Gott? 

Biblisch wird die Nähe Gottes oft mit der heilenden Zuwendung zum Menschen verbunden (z.B. Gen 28,15). Die Abwesenheit und Distanz Gottes hingegen wird als schmerzhaft wahrgenommen und verspricht Unheil (z.B. Ri 6,13). Dabei ist den Menschen in biblischen Zeiten bewusst, dass Gott in seiner Präsenz immer unbegreifbar bleibt. Er ist zu herrlich, um vom Menschen gesehen zu werden (z.B. Ex 33,18). Die Geheimnishaftigkeit Gottes bleibt durch sein Erscheinen in Feuer und Wolken gewahrt (Ex 24,16-18).

Häufiger noch als durch sichtbare Nähe teilt sich Gott durch sein Wort mit. Gott spricht zu den Erzeltern, Prophet*innen sowie zum Volk Israel. Doch rufen Gottes Wort und sein Erscheinen nicht nur Freude hervor, sondern auch Niederwerfung und Verhüllung (z.B. Ex 3,6). Die Nähe Gottes kann sogar als quälend empfunden werden, wie Hiob seine Erfahrung in großem Leid schildert: „Lass ab von mir, damit ich ein wenig heiter blicken kann.“ (Ijob 10,20) 

Christlich gesehen wird der Logos Gottes, seine Nähe, in seiner Menschwerdung in Jesus Christus erfahren. In ihm ist Gott in die Welt gekommen, um ihr Trost, Vergebung und Erlösung zu schenken. Doch auch die Jüngerinnen und Jünger müssen nach Jesu Tod durch den Engel erfahren: „Er ist nicht hier, […]“ (Mt 28,6). Schon das irdische Leben Jesu war voll von Abschieden (z.B. Joh 14-16). Auch wenn Jesus Christus auferstanden ist und sein bzw. Gottes Geist bei uns bleibt (1 Joh 4,13), so gehört doch die Erfahrung des „Er ist nicht hier“ zur Ostererfahrung hinzu.[1] In der Erzählung über die Emmausjünger zeigt sich eine Dialektik des Erscheinens Jesu im Verschwinden, des Geschenktwerdens in der Ungreifbarkeit.[2]

Aus dem Dialog mit Muslimen heraus fällt mir zur Nähe Gottes nicht nur die berühmte Zeile im Koran ein, dass Gott dem Menschen näher ist als seine Halsschlagader (Q 50:16). In Sure 93 findet sich die Zusage Gottes: „Dein Erhalter hat dich nicht verlassen…“. Dies kann als Antwort auf die Frage des Beters in Psalm 22 verstanden werden,[3] mit der der Psalm beginnt und den Jesus nach dem Markusevangelium am Kreuz gesprochen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 

Die Unbegreifbarkeit und Geheimnishaftigkeit gehören wohl in allen drei abrahamischen Religionen zur Größe und Herrlichkeit Gottes. Was wir dadurch gewinnen ist die Freiheit des Vertrauens, des Zweifels und der Liebe. Doch die Liebe und Nähe unserer Mitmenschen, in der wir christlich gesprochen durch Jesus Christus auch Gott begegnen können (Mt 25,35-40), fehlt in diesen Zeiten der Pandemie besonders. Hoffen wir, dass sich dies im Laufe des Jahres 2022 wieder ändert.


[1] Vgl. F. Meures, „Er ist nicht hier“. Osterglaube als Teilhabe an der Gottesferne. In: Herder Korrespondenz Spezial 1 (2014), 61-64, 62.

[2] Vgl. H. U. v. Balthasar, Die Abwesenheiten Jesu, in: Geist und Leben 44 (1971), 329–335, hier 335.

[3] Vgl. Zohar Handromi-Allouche, „My God? Your Lord!” A Qur´ānic Response to a Biblical Question, in: JIQSA 3 (2018): 79-110.

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

#Gott #Covid #Psalm 22 #Religionen

Eine talmudische Weisheit über Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Tod

In wenigen Tagen wird das jüdische „Neujahrsfest der Bäume“, Tu bischwat, (17.01.22) gefeiert. Seine mystische Tradition reicht bis ins Mittelalter zurück. Tu bischwat feiert den ersten Austrieb der Früchte der Bäume und zeigt einen kleinen Vorgeschmack auf das Ende des Winters. 

Der Baum ist eine Inspirationsquelle für viele Kulturen, er kann Kontinuität und Verwurzelung, Fruchtbarkeit, die Verbindung mit der Unterwelt, mit der Gegenwart und mit den göttlichen himmlischen Welten darstellen. Bei verschiedenen Völkern hat der Baum eine fast spirituelle Ähnlichkeit mit dem Menschen, er wird vergöttert und respektiert. Ihm werden magische und prophetische Eigenschaften zugeschrieben. Die biblische Tradition betrachtet den Baum als Rätsel und Spender von Früchten, die Wissen wecken (Genesis 2), sie personifiziert und politisiert den Baum (in der Fabel von Iotam, Richter 9), behandelt ihn als Belohnung und begehrtes Gut (in der Prophezeiung von Hoshea 14), bis hin zur ausgefeiltesten und wertvollsten Form innerhalb der jüdischen Tradition: der Betrachtung der Thora selbst als Baum des Lebens (Sprüche 3). 

In einer Erzählung aus dem babylonischen Talmud (Taanit 23a) schwingen zwei überraschend zeitgenössische Bedeutungen des Baumes und der Natur insgesamt mit, zu denen sich ein Appell gesellt, der sinnvollerweise aktuell ist. Hier in zusammengefasster Form:

Honi HaMe´aggel soll ein Weiser gewesen sein, der die Fähigkeit besaß, Regen fallen zu lassen, indem er sich auf einen Kreis (haMaagal) stellte und betete, dass in Zeiten der Dürre der Regen kommen möge. Eines Tages ging Honi die Straße entlang, als er einen Mann sah, der einen Johannisbrotbaum pflanzte.

„Da fragte er ihn: Nach wie vielen Jahren trägt er? Jener erwiderte: Nach siebzig Jahren. Dieser fragte weiter: Bist du überzeugt davon, daß du noch siebzig Jahre leben wirst? Jener erwiderte: Ich habe Johannesbrotbäume auf der Welt vorgefunden; wie meine für mich pflanzten, ebenso will ich für meine Nachkommen pflanzen. Hierauf setzte er sich, aß sein Brot, worauf der in den Schlaf fiel.“ (b.Taanit 23a) 

Eine Felsenwand bildete sich um ihn, sodass er für niemanden sichtbar war und schlief siebzig Jahre lang. Als Honi erwachte, sah er einen Mann, der Johannisbrot von diesem Baum pflückte. Ḥoni fragte: Bist du derjenige, der diesen Baum gepflanzt hat? Der Mann antwortete ihm: Ich bin der Sohn seines Sohnes. 

Darauf ging Ḥoni nach Hause und fragte die Mitglieder des Hauses: Ist der Sohn von Ḥoni HaMe’aggel am Leben? Sie sagten zu ihm: Sein Sohn ist nicht mehr bei uns, aber der Sohn seines Sohnes lebt noch. Er sagte zu ihnen: Ich bin Ḥoni HaMe’aggel. Sie glaubten ihm nicht. Er ging in das Lehrhaus, wo er die Jünger über einen Gelehrten sagen hörte: Seine Halachot (Gesetze) sind so erhellend und so klar wie in den Jahren von Ḥoni HaMe’aggel. 

Ḥoni sagte zu ihnen: Ich bin es, aber sie glaubten ihm nicht und zollten ihm nicht den gebührenden Respekt. Ḥoni wurde sehr wütend, betete um Gnade und starb. Rava sagte: Dies erklärt die Volksweisheit, die die Menschen erzählen: (oChevruta o Mituta) Entweder Freundschaft oder Tod. 

Neben der Botschaft der Nachhaltigkeit und der Rücksichtnahme auf die Natur für unsere nächsten Generationen, die die Geschichte bietet, stellen wir fest, dass der Talmud (und die jüdische Tradition im Allgemeinen) Einsamkeit, Askese und alternative Formen zu der Gemeinschaft und des sozialen Lebens bekämpft. Im aramäischen Original klingt „o Chevruta o Mituta“ am stärksten nach. 

Wir erleben gerade paradoxale Zeiten, in denen „Chevruta“ (Gesellschaft) zu „Mituta“ (Tod) oder Krankheit führen kann und das Alleinsein zum Leben. Die Herausforderung ist nun, den Gegensatz zu durchbrechen, den Honis Geschichte darstellt und nach Mittelwegen zwischen den beiden Extremen zu suchen. Es ist meine Hoffnung, dass uns allen dies gelingt.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

#Feiertage #Natur #Baum #Nachhaltigkeit #Talmud #Covid #Gesellschaft #Verantwortung

Is God a Capricorn?

It recently dawned on me that God and I were really quite similar. You might think this claim warrants admission to a psychiatric ward for a suspected diagnosis of narcissistic personality disorder. But consider this: the son of God and I are both capricorns. Does this explain why all capricorns often feel like they are carrying the burdens of others? Of course, as a Muslim, I did also wonder if I might share a star sign with Muhmmad and what that might mean. Sadly, the Prophet (birthday 29 August 570, apparently) was a virgo. Still, I have the solace of knowing that the Prophet and I would be very compatible as spouses. These thoughts were sparked by a chance social encounter with a witch who, despite having never met me and only speaking to me for about twenty minutes, accurately informed me of my astrological and ascendant signs. How exactly does astrology fit into the worlds of religious dogma, new age mysticism, pseudo-science and hard science? 

Scholars of religion might scoff at calling Jesus a Capricorn, or Muhammad a virgo. The actual birth dates of these figures are shrouded in obscurity. There are lively controversies in both Christianity and Islam over the real birthdates of their central figures. Many religious believers also dismiss astrology as frivolous, or even worse, as a form of playing at (false) religion. Some sayings of the Prophet also condemn consulting astrologers, fortunetellers and necromancers. Nevertheless, the Islamic tradition is rich with scholars, rulers and ordinary believers investing considerable energies in attempting to learn the secrets of the cosmos by observing patterns in the movement of celestial bodies.   

Some contemporary practitioners of astrology also profess atheism and look down at traditional religion with contempt. Yet the conviction that the movement of the planets and the stars influences the course of human lives seems to assume a universe that has an organized, if not providential, structure. If my day, month or year is going to be influenced by the position of the moon or sun in their orbits, this would suggest that the universe is not a random arrangement of disconnected matter. Rather, there is an order, and indeed a non-material connection, between everything that exists. This is also what traditional religions have been saying for millennia. 

Scientists might consider themselves above the fray in these disputes. But the boundaries between science and pseudo-science are themselves shifting in light of advances in our understanding. What were once regarded as scientific impossibilities, such as the idea that a particle could act as both a particle and a wave at the same time, are now accepted as scientific truth. Because science is always concerned with undermining its own certainties, it is scientifically impossible to rule out that what is now regarded as pseudo-science, for instance Rupert Sheldrake’s notion of morphic resonance, the idea that there is an extrasensory connection between organisms, might one day be accepted as basic scientific knowledge. 

If you are someone who does new year’s resolutions (I don’t see the point myself), consider being more open to things that are dismissed as patently ridiculous, whether by religious believers, scientists or witches. Being open to what is dismissed as absurd is a great way to learn.

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#astrology #science #open-minded

All Things Must Pass

Am Ende eines Jahres lassen sich in gewohnter Weise diverse Jahresrückblicke finden, von der heute show und ihrer Verleihung des goldenen Vollpfostens über die ZEIT und faz.net bis hin zur persönlichen spotify-Playlist (mit mehr oder weniger überraschenden Erkenntnissen über den eigenen Musikgeschmack). Ein Jahr ist vergangen. Dinge, Ereignisse und Erfahrungen gehen vorüber, rücken weiter weg von unserer Jetzt-Zeit und prägen ein lineares Zeitgefühl. Möglicherweise führt das auch zu einem subjektiv erlebten „Zeitalter der Beschleunigung“ (Hartmut Rosa), das besonders in diesen Tagen und Monaten getriggert wird durch eine immer kleiner werdende Halbwertszeit des Informationsgehalts über Virusmutanten, Verhaltensregeln und Inzidenzen.

Eine ganz andere Erfahrung machen wir in den Religionen durch ihre Konstruktion eines zyklischen Zeitbewusstseins: In den wiederkehrenden Erzählungen heiliger Schriften begegnet die Vergangenheit einer Heilsgeschichte, die zugleich erhofft wird. In den Festen des religiösen Jahreskreises wird eine Zukunft erinnert, die in die Gegenwart einbricht. Immer dann, wenn ein Neubeginn gefeiert wird, der seine Orientierung aus erinnerter religiöser Identität gewinnt, beispielsweise am jüdischen Sederabend, in der christlichen Adventszeit oder im islamischen Neujahrsmonat Muharram. Das zyklische Zeitbewusstsein schafft durch eine vertraute Wiederkehr des Gleichen einen Raum der Entschleunigung, der Unterbrechung linearer Gleichförmigkeit und eröffnet für die eine oder den anderen auch die Erfahrung von Glück und Geborgenheit. Im religiösen Paradox von „erinnerter Zukunft und erhoffter Vergangenheit“ (Jürgen Ebach) entsteht qualifizierte Gegenwart. Zyklisches und lineares Zeiterleben fallen zusammen, durchdringen sich gegenseitig. Die Erfahrung von Neubeginn und Zukunft bedeutet aber auch, Dinge hinter sich lassen zu können, ohne sie zu vergessen: All Things Must Pass. Juden, Christen und Muslimen teilen diese Urerfahrung in der Erzählung über ihren gemeinsamen Stammvater Abraham/Ibrahim: Geh fort aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ein Segen sollst du sein!

Etwas Neues zu wagen, aufzubrechen oder ein neues Jahr zu beginnen kann bedeuten, sich auf Glückssuche zu begeben. Von einer solchen erzählt ein kürzlich veröffentlichter Videoclip auf der offiziellen Webseite des vor 20 Jahren verstorbenen Musikers und Leadgitarristen der Beatles George Harrison zu seinem größten Solohit My Sweet Lord (1970). Es ist nicht zu übersehen, dass es sich dabei um einen Werbespot für ein Remaster seines Albums All Things Must Pass handelt. Der etwas skurrile Videoplot zu dem Song, den man als „eine Art pantheistische Lobpreishymne” (Süddeutsche Zeitung v. 17.12.2021) hören kann, lohnt allerdings den siebenminütigen Blick: Agenten suchen das Glück, finden es weder in Büchern noch in der Natur, dafür aber im Kreis gleichgesinnter Menschen und in einer pointierten Schlussszene (die hier nicht verraten wird). Das mag einem mitunter alles etwas zu viel kitschig-religiöses Patchwork sein, aber es hat doch einen wahren Kern: Die gemeinsame Suche nach einem geglückten Leben verbindet viele Kulturen und Religionen, in dieser Suche bündelt sich gleichsam in zyklischer Wiederholung das humanisierende Potenzial religiöser Fest- und Jahreskreise. Denn es geht ihnen nicht zuletzt um den Menschen und sein geglücktes Leben zwischen gestern und morgen. Dinge müssen vergehen, damit Neues entstehen und Glück gesucht werden kann, auch im nächsten Jahr.

Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor für Katholische Religionsdidaktik an der Universität Paderborn.

#Vergangenheit #Zukunft #Aufbruch #Glück #Religionen

Licht über Licht

Es ist Heilig Abend! Viele Familien sitzen heute Abend hoffentlich in trauter Runde beisammen, feiern die Geburt Jesu Christi und öffnen Geschenke. Weihnachtsbaum und Krippe sind hell erstrahlt. Die letzten Kerzen vom Adventskranz brennen. In den Fenstern leuchten Sterne. Weihnachten ist ein Fest der Lichter!

Christlich-theologisch macht das auch Sinn: An Weihnachten feiert man Jesu Geburt. Am 1. Weihnachtsfeiertag wird prominent ein Teil des Prologs des Johannes-Evangeliums in sowohl der evangelischen als auch katholischen Kirche gelesen. Schon dort wird Jesus als das Licht der Welt angedeutet, was durch Gott in die Welt gekommen sei. Später im Evangelium spricht Jesus zweimal (Joh 8,12; 9,5) von sich als dem Licht der Welt: Er befreit die Menschheit aus der todbringenden Finsternis und leuchtet einen Weg hin zur Erlösung des ewigen Lebens. Kein Wunder also, dass Licht an Weihnachten auch symbolisch eine große Rolle spielt. 

Auch anderen Religionen ist das Licht wichtig: Die Menora, der siebenarmige Leuchter im Judentum, war eines der Kultgegenstände, die Mose für das Stiftzelt herstellen sollte. Nach Errichtung des Tempels in Jerusalem fand die Menora auch dort ihren Platz. Neben dem Davidstern ist sie zu einem der prägendsten Symbole im Judentum geworden, sie taucht sogar im Staatswappen Israels auf. Im zeitlichen Zusammenhang mit Weihnachten ist Chanukka wichtig. Im Zuge der Wiedereinweihung des zweiten Tempels 164 v. Chr. sollte die Menora wieder entzündet werden. Es war allerdings zu wenig geweihtes Öl vorhanden, mit dem die Leuchten angemacht werden konnten. Man versuchte es trotzdem und das Öl reichte sogar für acht Tage, ein Wunder! Daraus entstand das populäre achttägige Chanukka-Fest, an dem die Chanukkia, ein achtarmiger Leuchter, entzündet wird. Von Tag zu Tag wird eine Kerze mehr entzündet. 

Ein prominenter Vers des Korans hingegen ist der sogenannte Licht-Vers aus der 24. Sure, die auf Arabisch „nūr“, genannt wird – das arabische Wort für Licht. Im genannten Vers wird Gott als das Licht der Welt dargestellt. Es handelt sich um einen recht rätselhaften Vers, der eine große Wirkung auf die muslimische Mystik und Theologie hat. Viele Theolog:innen haben ihn ganz unterschiedlich ausgelegt. Aber auch hier ist der Grundtenor, dass das Licht symbolhaft für Gottes Größe und Stärke steht. Aus hinduistischen Traditionen wiederum kennt man Diwali, ein fünftägiges Fest, an dem überall Kerzen ausgestellt werden. Dort wird unter anderem der Sieg des Guten über das Böse gefeiert: Das Licht siegt über die Dunkelheit.

Die Relevanz von Licht in den Religionen mag natürlich auch ganz profane Gründe haben: Unsere Augen sind wesentliche Sinnesorgane, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen. Ist es dunkel, ist uns diese Fähigkeit genommen. Von diesem Unbekannten kann große Gefahr ausgehen. Licht dient also dazu, Erkenntnisse zu gewinnen. Gerade abends oder in der dunklen Winterzeit sind Lichter also essentieller Begleiter von uns Menschen. Religionswissenschaftlich ist also eine Verknüpfung von Licht und Religion einleuchtend.

In der Praxis bietet das Thema Licht somit großes Potential: Viele Religionen, die in Deutschland zu finden sind, kennen je eigene Traditionen um Licht. Gleichzeitig ist Licht ein Grundbedürfnis. Das kann ein guter Anlass für gemeinsame Rituale werden und wird auch schon in vielen Bereichen angewendet. Kerzen werden in Krankenhäusern und Schulen gemeinsam mit allen Religionsangehörigen angezündet, denn jede:r hat einen eigenen spirituellen Zugang zum Thema Licht. Ohne direkt in theologische Diskussionen zu verfallen, kann jede:r akzeptieren, dass Licht wichtig ist im Leben von Anderen. Es besteht auch nicht die Gefahr, dass eine Religion die Andere vereinnahmt. Zudem hat vermutlich jeder Haushalt Kerzen bei sich zu Hause, sodass solch ein Ritual des gemeinsamen Kerzen-Anzündens auch unter Nachbar:innen und Freund:innen abgehalten werden kann. 

Vielleicht ist das eine gute Chance, mit einfachen Mitteln interreligiösen Dialog zu erleben. Alles was man dafür braucht sind Kerzen, Streichhölzer und Gemeinschaft. 

Benedikt Körner ist verantwortlich für den interreligiösen Dialog des Erzbistums Paderborn.

#LichtinderDunkelheit #HeiligAbend #Kerzen #Religionen

Die Gefahr der Blindheit weißer Theologie

Als ich mir das Thema dieses Blogeintrags überlegte, nahm ich mir streng vor, nicht über mich zu schreiben und vielmehr eine globale Position einzunehmen. Und doch lande ich bei meinem gewählten Thema „Rassismus“ unweigerlich wieder bei mir, bei meinen Erfahrungen, meiner Biografie. Und da stellt sich mir die Frage: Kann ich überhaupt anders, als über mich selbst zu sprechen, auch wenn ich das Pronomen „Ich“ nicht in den Mund nehme? Das bezweifle ich, wie auch Michel Foucault, dessen einflussreiche Überlegungen auf die Unmöglichkeit der Neutralität von Subjekten fußen. Ich oute mich mit jedem Satz, den ich spreche, ein wenig mehr, lasse Menschen teilhaben an meinen Gedanken, meinem Inneren und führe sie mit jedem Satz ein bisschen mehr auf die Spurensuche meiner Identität. Diese Perspektivität ist mir als (im Vergleich sehr privilegierte) Schwarze Frau sehr bewusst, denn im Gegensatz zu meinen weißen Kolleg:innen, wurde mir diese Schwarze Position von Geburt an von außen zugeschrieben. Obwohl das bedeutungsvolle Wort „Schwarz“ bis vor einigen Jahren keine Bedeutung in meinem Leben hatte und eher durch fragwürdige Fremdbezeichnungen wie „farbig“ ersetzt wurde, entfremdeten mich der regelmäßige Griff in meine Haare, die ständige Frage, wo ich „denn wirklich“ herkomme und unsinnige Fragen zur „afrikanischen Kultur“. Und nicht nur in der Schule, in der Uni, beim Sport, in der Kneipe oder beim Chor machte ich diese Erfahrungen, sondern auch in religiösen Räumen. Lange Zeit war mir nicht bewusst, woher dieses Unwohlsein kam, das im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen in mir entstand. Diese Erklärungsnot lag daran, dass so zentrale christliche Begriffe wie das „Nächstenliebegebot“ oder die „Gottebenbildlichkeit“ mitsamt der daraus folgenden besonderen Würde eines jedes Menschen diesen rassistischen Handlungen – um es beim Namen zu nennen – vermeintlich entgegenstehen und so etwas wie eine Aura der moralischen Unangreifbarkeit konstruieren. Gerade die christliche Religion wird auch heute noch z.T. als friedensbringend, solidarisch und menschenfreundlich hochstilisiert (obwohl der öffentliche Diskurs mittlerweile eher die gegenteilige Richtung einschlägt). Und genau das verhindert den Blick auf die sich seit Jahrhunderten reproduzierenden rassistischen Strukturen in den Kirchen, aber auch in der Theologie. Unumstritten nahm die Kirche im Kolonialismus eine tragende Rolle in der moralischen Legitimierung der Versklavung und Entmenschlichung Schwarzer Menschen ein, durch die sich rassistische Strukturen in ihr Inneres eingeschrieben haben, welche auch mit dem Nächstenliebegebot und der Gottebenbildlichkeit nicht aufgelöst werden können. 

Schaut man sich die deutsche Landschaft der Theolog:innen aus einem postkolonialen Blickwinkel an, so wird schnell deutlich, dass Schwarze Perspektiven fehlen. Das lässt sich sicherlich nicht von heute auf morgen ändern und ist auch nicht an Entscheidungen Einzelner geknüpft. Es geht vielmehr um Strukturen, was aber keineswegs die individuelle Verantwortung zur Veränderung des Status Quo schmälert. Bisher sehe ich leider nur wenig weiße christlich theologische Bestrebungen, Rassismus in den eigenen Strukturen offenzulegen und zu dekonstruieren oder sich für nicht-weiße Perspektiven zu öffnen. Eine derartige Öffnung der eigenen Forschung und eine Reflexion der eigenen Positionalität kann ungemütlich und anstrengend sein und trotzdem verstehe ich diesen Kraftakt als unseren Auftrag zur Mitwirkung am Reich Gottes. 

Nächstenliebegebot und Ebenbildlichkeitslehre sind als wesentliche Ideale der jüdisch-christlichen Tradition zu verstehen, als Ideale, denen es nachzueifern gilt – die aber auch angesichts unserer Begrenztheit unerreichbar bleiben – und deshalb nicht einfach faktische Realität auf Erden sind. Sätze wie „Alle Menschen haben die gleiche Würde“ verweisen zwar auf einen begrüßenswerten Anspruch, können aber auch den Blick auf die vielen Momente und Dauerzustände verschleiern, in denen Menschen würdelose Behandlung erfahren. Verstehen wir diese Begriffe als Beschreibung der Wirklichkeit, werden wir blauäugig und unterliegen der Gefahr blind für Ungerechtigkeit, Ausschluss und Diskriminierung zu werden. Verstehen wir sie hingegen als emanzipatorischen religiösen Auftrag, ermöglichen sie uns einen selbstkritischen und solidarischen Weg im Namen Jesu zu gehen.

Hannah Drath ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Katholische Religionsdidaktik an der Universität Paderborn.

#Rassismus #Weißsein #Theologie

„Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit!“

Die Monate in den Jahren 2015 und 2016, in denen die ehemalige Bundeskanzlerin Merkel die deutschen Grenzen öffnen ließ, um Geflüchteten Schutz zu bieten, sind eines der bewegtesten Kapitel in der jüngeren deutschen Geschichte. Eine „Krise” war die Situation allenfalls deshalb, weil weder die Bundesregierung noch die Länder und Kommunen auf den plötzlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen vorbereitet waren und händeringend improvisierten. Es war der Zeitraum eines halben Jahres, der selbst am vergangenen Donnerstag im Rahmen des Großen  Zapfenstreichs zu Ehren Angela Merkels zahlreiche Medien im Rahmen ihres Rückblicks auf ihre Kanzlerschaft dazu bewegte 16 Jahre herausfordernde Kanzlerschaft auf diese „Krise“ zu reduzieren. Mir dagegen wird sie aufgrund ihrer Haltung während dieser „Krise“ in Erinnerung bleiben, die besonders offenbar wurde als sie 2015 nach einem Besuch der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau das Skript ihrer vorbereiteten Ansprache beiseitelegte und Deutschland aufrief sich nicht von Hass und Abschottung leiten zu lassen, sondern von Menschlichkeit. 

Am selben Tag während das Wachbataillon der Bundeswehr für die ehemalige Bundeskanzlerin das 1771 verfasste ökumenische Choral „Großer Gott, wir loben Dich“ spielte, landete Papst Franziskus in Nikosia, der Hauptstadt Zyperns, um sich ein Bild von der Flüchtlingsunterkunft in Astromeritis zu machen. Als er seine Ansprache weitgehend vom vorbereiteten Manuskript abgelesen hatte, kam es wieder zu einem Franziskus-Moment, in dem legte er den Vortragstext beiseite um sich in freier Rede und ungeschönter Ehrlichkeit an die Führung der wohlhabenden Länder zu wenden: 

Wir gucken uns an, was passiert. Und das Schlimmste ist, dass wir uns daran gewöhnen. ‚Ah‘, wird gesagt, ‚heute ist ein Boot gesunken, viele Vermisste.‘ Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit! Es ist eine sehr schlimme Krankheit!

Wie schon so oft und leider ebenso oft ungehört prangerte Franziskus die unerträgliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und Sterben von Flüchtlingen an. Diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus sei eine Krankheit.

Der Koran nimmt auf diese Gleichgültigkeit und Indifferentismus des Menschen an unzähligen Stellen Bezug. Dabei tauchen diese Bezüge zumeist im Kontext des menschlichen Herzens (qalb) – ein Begriff, der über 130-mal im Koran Erwähnung findet- auf. Das Herz des Menschen, der taub und blind für Gott, die Mitmenschen und seine Schöpfung geworden sei, sei -so die Islamische Philosophie und Taṣawwuf- von einer tiefgreifenden Krankheit erfasst. Einig waren sich die muslimischen Philosophen und Taṣawwuf-Gelehrten, dass der Ursprung dieser „Krankheit“, die Gleichgültigkeit gegenüber Gott sei. Gleichgültigkeit Gott gegenüber widerspreche diesen Gelehrten nach der transzendenten Veranlagung des Menschen. Der Mensch, der als sich transzendierendes Wesen angelegt ist, krümmt sich im Indifferentismus auf sich zurück und verfällt so allein der Selbstbezogenheit. Wenn aber der Mensch nur sich selbst sieht, sieht er die Wirklichkeit in einem Selbstbezug, der alles andere auf diese Beziehung zu sich selbst reduziert – in jeder anderen Hinsicht ist es dann gleichgültig. Und somit wird der Mensch nach einer prophetischen Tradition Mohammads unfähig einen Sollzustand in der Welt als Auftrag und Anfrage an sich selbst wahrzunehmen: Als Auftrag etwa, dort etwas zum Guten zu wenden zu versuchen, wo andere gefangen in den Strukturen bloß schulterzuckend vorbeigehen. Sein Herz „erkrankt“ dann allmählich mit einem jeden weiteren Vorbeigehen.

Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für Islamische Rechtswissenschaften am Seminar für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Krise #Gleichgültigkeit #Merkel #Franziskus #Menschlichkeit