“Shifting Baselines” als kollektive Selbsttäuschung oder Wahrnehmensverzerrung und  wie man sich dagegen schützt.

Vor einigen Jahren bin ich über der Abschiedsvorlesung von Uwe Schneidewind als Präsidenten der Universität Oldenburg gestolpert. Er thematisiert darin das Phänomen der „Shifting Baselines“. Es geht um das Verschieben der Referenzpunkte, die kollektiv geprägt werden und definieren, was wir als selbstverständlich annehmen und nicht hinterfragen. Geprägt wurde der Begriff in der sozialpsychologischen Umweltforschung. Dort geht es um die Frage, welcher Umweltzustand als normal empfunden wird. In empirischen Studien wurde festgestellt, dass sich dieser Zustand, der als normal empfunden wird, schleichend verschlechtert.

Zentraler Diskussionspunkt in meiner Vorlesung zu diesem Thema ist allerdings die Interpretation der Shifting Baselines von Schneidewind. In seiner Rede schreibt Schneidewind: „Provokant formuliert beschreiben Shifting Baselines die herausragende Fähigkeit von Menschen, sich in sozialen Kontexten immer wieder selbst zu täuschen und sich damit vollziehende z.T. dramatische Umfeldveränderungen erträglich zu gestalten.“ Die Frage ist, ob es sich wirklich um Selbsttäuschung handelt, die voraussetzt, dass der Mensch wusste oder zumindest ahnte, was der wahre (schlechtere) Umweltzustand ist, bevor sich der Mensch selbst über den tatsächlichen Umweltzustand täuscht. Die Selbsttäuschung verlangt ein aktives Handeln und sei es, dass verfügbare Information nicht eingeholt wird. Alternativ könnte es sich um eine Wahrnehmungsverzerrung handeln, dann wäre es dem Menschen gar nicht möglich, zu erkennen, dass der in der Bevölkerung als normal wahrgenommene Umweltzustand „verschoben“ ist.

Was uns dann eigentlich in der Vorlesung beschäftigt, ist, wie man sich dagegen schützen kann, auf solche Shifting Baselines „hereinzufallen“, sei es als Ergebnis einer Selbsttäuschung oder einer Wahrnehmungsverzerrung. Dabei betrachten wir verschobene Referenzpunkte in der Wahrnehmung des Umweltzustandes (aus ökologischer Sicht), aber auch verschobene moralische Referenzpunkte. Gerade bei letzterem hilft ein starker eigener moralischer Kompass, sei es aufgrund einer starken ethischen Überzeugung oder Religion.

Prof. Dr. René Fahr +++ Foto: Besim Mazhiqi

Rückblick auf den narrt-Fachtag 2025

Am 15. Juni fand der diesjährige Fachtag des Netzwerks antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie (narrt) als digitale Veranstaltung statt und bot den Teilnehmenden vielfältige Einblicke in aktuelle Diskurse und Forschungsprojekte.

Den inhaltlichen Schwerpunkt am Vormittag bildete die Frage, nach welchen Kriterien die Qualität von rassismus- und antisemitismuskritischer Bildung gemessen werden kann. Als wesentliche Qualitätskriterien antisemitismuskritischer Bildung wurden das Durchbrechen von Stereotypen und die Reflexion von Selbst- und Fremdbildern genannt. Damit ließe sich transparent machen, wo antisemitische Narrative ihre Ursprünge haben und woran sich deren Aktualisierungen als antisemitische Erzählungen erkennen lassen. Zudem sei es wichtig erklären zu können, warum für einige Menschen Antisemitismus so attraktiv ist. Für mich schließt sich die Frage an, welche Funktionen Antisemitismus auf persönlicher, gesellschaftlicher, politischer und auch theologischer Ebene einnehmen kann. Antisemitische Erzählungen können sich als nützlich erweisen, wenn nach einfachen Antworten auf komplexe Problemlagen gesucht wird. Das aktuelle Erstarken von Antisemitismus in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens weist meines Erachtens darauf hin, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der die Welt immer unübersichtlicher und krisenhafter wird und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als ein destruktiver Weg angeboten wird, um damit umzugehen.

Am Nachmittag wurde der Einblick in aktuelle Forschungsprojekte ermöglicht und es wurden Ergebnisse aus der Forschung präsentiert. In der Diskussion wurde deutlich, dass nicht nur in der empirischen Forschung, sondern auch in der Praxis beobachtet wird, dass ein fehlendes Problembewusstsein ebenso wie geringes Wissen zur Reproduktion und Festigung antisemitischer und rassistischer Erzählungen beiträgt. Handreichungen wie Darstellung des Judentums in Bildungsmedien des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Verbands Bildungsmedien und der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2024 bieten zwar den Vorteil, dass sie Wissen vermitteln und Orientierung ermöglichen, haben aber auch den Nachteil, dass sie als eine Art Checkliste zum Abarbeiten missverstanden werden könnten, die keine eigene Haltung oder Reflexion benötigen. Im Rückblick auf den Fachtag und die dort besprochenen Inhalte ist für mich aber gerade das einer der wichtigsten Schritte für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie, auch im schulischen Kontext: eine eigene Haltung entwickeln und vor allem Haltung zeigen (nicht nur) gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen zu einfache und schädliche Antworten auf komplexe Fragen und Herausforderungen.

Begegnung mit Grenzen: Eine Muslima auf dem Kirchentag

Der 39. Evangelische Kirchentag fand unter der Losung „mutig – stark – beherzt“ vom 30.04.-04.05.2025 in Hannover statt. Für mich als Muslimin war der Kirchentag stets ein beeindruckendes Großereignis, kommen doch zehntausende überwiegend evangelische Christ:innen zusammen, um über Glauben, Gesellschaft und die Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken. Auf dem Programm standen in diesem Jahr über 1500 Angebote, von Bibelarbeiten über Podien, Konzerten und Workshops bis hin zu kreativen und spirituellen Formaten wie Friedensgebeten, Nachtcafés oder Stadtpilgerwegen. Die Vielfalt war gerade für mich als Muslima zugleich faszinierend und herausfordernd.

Wie bereits an anderen Kirchentagen zuvor war ich auch dieses Mal eingeladen, selbst aktiv teilzunehmen: Als muslimische Referentin durfte ich zunächst gemeinsam mit einer jüdischen Rabbinerin und einem christlichen Theologen eine trialogische Bibelarbeit zu Jeremia 29,1–14 gestalten. Der gemeinsame Blick auf den biblischen Text, die Auseinandersetzung mit Jeremia – den der Koran nicht als Propheten kennt – und unsere unterschiedlichen Herangehensweisen machten deutlich: Dialog ist möglich. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass wir bereit sind, nicht nur nebeneinander zu sprechen, sondern einander wirklich zuzuhören. Gerade in solchen Momenten zeigt sich, wie wichtig Empathie und Perspektivwechsel für ein gelingendes Miteinander sind. Es reicht nicht aus, die eigene Sichtweise eloquent zu vertreten – es braucht die Bereitschaft, sich auf das Denken, Fühlen und Glauben der anderen einzulassen. Im Gespräch mit meinen jüdischen und christlichen Kolleg:innen war es bereichernd zu erleben, wie sich neue Zugänge eröffnen, wenn wir den Text durch die Augen der anderen betrachten. Dabei müssen am Ende nicht alle Unterschiede aufgelöst werden – im Gegenteil: In der ehrlichen Benennung dessen, was uns verbindet und unterscheidet, liegt eine besondere Tiefe. Die Reaktionen des Publikums am Ende der Bibelarbeit verdeutlichten mir wieder einmal, wie groß das Bedürfnis nach solchen Begegnungen ist – nach Räumen, in denen religiöse Vielfalt nicht als Problem, sondern als Ressource erfahrbar wird. Viele Zuhörende äußerten Dankbarkeit für die Offenheit des Gesprächs und die persönliche Bedeutung des Textes in unserer derzeit politisch sehr bewegten Zeit, in der Populismus und Polarisierung zunehmend auch religiöse Diskurse durchdringen. Als Muslima spürte ich in diesen Gesprächen besonders deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht in Abgrenzung zu verlieren, sondern gemeinsame Werte zu betonen, etwa Gerechtigkeit, Geduld, Hoffnung und Verantwortung für unsere Gesellschaft.

Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich als muslimische Stimme in einem mehrheitlich christlich geprägten Raum spreche – eingeladen, gehört, aber doch auch fremd. Ich bringe eine andere religiöse Sprache mit, eine andere spirituelle Praxis, andere Erfahrungen mit gesellschaftlicher Wahrnehmung und auch mit Ausgrenzung. Dass ich als Muslima auf einem Evangelischen Kirchentag eine Bibelarbeit mitgestalten darf, ist ein starkes Zeichen. Doch es bleibt ein Spannungsfeld: zwischen Mitgestaltung und Gaststatus, zwischen echter Teilhabe und symbolischer Repräsentation.

Beflügelt von der erlebten positiven Resonanz ging es danach für mich weiter mit dem Thema Gendergerechtigkeit, auch hier in trialogischer Perspektive im christlich-jüdischen Lehrhaus. Ein Vorfall auf dem Podium dort hat mich tief irritiert: Eine Besucherin äußerte sich offen abwertend über die religiöse Kleidung von muslimischen Frauen und damit auch meine eigene. Hier lag also kein sachlicher Beitrag vor, sondern eine übergriffige und rassistische Abwertung meiner Person, wie ich sie in ähnlicher Form leider schon viel zu oft erlebt habe.

Für mich wurde deutlich, dass eine muslimische Stimme wie meine zwar auf dem Kirchentag präsent war, aber auch in eine erklärende Rolle gedrängt wurde. Wenn ich eingeladen werde, möchte ich aber NICHT als Vertreterin DES Islam sprechen, möchte mich nach dreißig Jahren nicht immer wieder für meine Bekleidungsvorlieben verantworten müssen. Und schon gar nicht in einem Forum, das genau das auch zum Thema gemacht hatte. Als Muslimin, die sich seit Jahren im interreligiösen Dialog einbringt, schmerzte diese Erfahrung besonders an einem Ort, den ich mit Vertrauen, Offenheit, dem Bemühen um Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung verbinde. Es stellt sich die Frage: Wer übernimmt Verantwortung, wenn Räume, die als sicher gelten sollen, es in der Realität nicht sind? Wer schützt marginalisierte Stimmen – und wer schweigt, wenn sie angegriffen werden?

Der Kirchentag ist ein starkes Zeichen zivilgesellschaftlichen und religiösen Engagements. Er hat mir gezeigt, wie herausfordernd echter interreligiöser Dialog immer noch ist und durch das Erstarken der Rechten in unserer Gesellschaft auch bleiben wird. Es braucht Mut – und davon war in Hannover viel zu spüren. Vielleicht wird der nächste Schritt sein, dass dieser Mut auch darin besteht, den Dialog jenseits der intellektuellen Ebene stärker mit dem Dialog des Lebens zu füllen – einem Dialog, der Schutz, Anerkennung und Augenhöhe nicht nur verspricht, sondern verlässlich einlöst.

#Kirchentag  # interreligiöser Dialog #antimuslimischer Rassismus

Die Menschheitsfamilie und der Begriff der Umma – Islamische Perspektiven im interreligiösen Dialog

„Religionen beschäftigen sich mit wundervollen Begriffen, mit denen man nirgendswo anders begegnet ist, wie z.B. Menschheitsfamilie“, sagte Annette Schavan. „Wo kann man so einen schönen Begriff haben außer im Kontext der Religion?“, setzte die ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung am 11. April 2025 in einem Interview zum Jahresempfang der Bischofskonferenz in Hamburg fort. „Menschheitsfamilie“ war auch das Thema der Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum Weltfriedenstag 2008 in Rom, wo der Papst sich auf das Zweite Vatikanische Konzil bezog und hervor hob, dass alle Völker eine einzige Gemeinschaft bilden, da sie denselben Ursprung – nämlich die Schöpfung durch Gott – und dasselbe letztendliche Ziel – die Vereinigung mit Gott – teilen. Für Benedikt XVI. verkörperte die ‚Menschheitsfamilie‘ somit eine universale Gemeinschaft des Friedens, die auf der gemeinsamen Abstammung und dem gemeinsamen Ziel der Menschheit gründet.

Diese Vorstellung ist jedoch keineswegs exklusiv christlich. Auch der islamische Glaube kennt eine zentrale Kategorie, die in vielfacher Hinsicht an diese Idee anschließt – die „Umma“.

Umma: Zwischen spiritueller Gemeinschaft und mütterlicher Verbundenheit

Im Islam verkörpert der Begriff „Umma“ das Verständnis einer ethisch-spirituellen Gemeinschaft. Doch er reicht weit über das hinaus, was moderne Übersetzungen wie „Gemeinschaft“, „Volk“ oder „Nation“ zu vermitteln vermögen. Sprachlich leitet sich „Umma“ von „Umm“ ab – dem arabischen Wort für Mutter. Diese etymologische Verbindung verleiht dem Begriff eine zusätzliche Tiefe: So wie die Mutter für Fürsorge, Ursprünglichkeit und Verbundenheit steht, so beschreibt auch die Umma nicht nur eine organisatorische Einheit, sondern einen geistigen Ort der Geborgenheit, Verantwortung und Zugehörigkeit.

Die Umma ist demnach mehr als eine konfessionell gebundene Gemeinschaft – sie ist ein mütterliches Prinzip im Denken des Islam, das getragen ist von gegenseitiger Verantwortung, Schutz, moralischer Verpflichtung und spiritueller Nähe. Diese Dimension geht in politischen oder nationalen Lesarten oft verloren, ist jedoch zentral für das Selbstverständnis islamischer Gemeinschaften.

Im Koran erscheint der Begriff Umma in verschiedenen Bedeutungsfeldern: Mal bezeichnet er die Gemeinschaft der Muslime, mal die Gesamtheit der Gläubigen in einem universaleren Sinn. In jedem Fall aber steht er für eine Einheit, die durch den Glauben an Gott und durch ethisches Handeln konstituiert wird. Die islamische Theologie begreift den Menschen als Kalifen – als Stellvertreter Gottes auf Erden – der gemeinsam mit anderen Menschen Verantwortung für die Schöpfung trägt. Die Scharia als ethisch-rechtliche Ordnung dient dabei nicht nur der Regelung individueller Pflichten, sondern soll die Grundlagen für eine gerechte und solidarische Gesellschaft schaffen.

Im Zentrum dieser Ordnung steht die Umma: eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten, gegenseitiger Fürsorge und der Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit aufbaut. Ein besonders schöner Ausdruck dieser Vorstellung findet sich in Koran 23:52, in der es – nach der Erwähnung von Moses, Jesus und Maria – heißt: „Diese ist eure Umma, eine einheitliche Umma, und Ich bin euer Herr, so handelt ehrfürchtig Mir gegenüber! “ (kalligraphisches Bild: وأن هذه أمتكم امة واحدة وأنا ربكم فاتقون)

Hier wird deutlich, dass die göttliche Ordnung keine Exklusivität kennt. Alle Gesandten Gottes und ihre Anhänger bilden eine Einheit – getragen vom gemeinsamen Ursprung und Ziel. Die Umma wird so zur Ausdrucksform einer Menschheitsfamilie, die sich durch Glauben, Gerechtigkeit und gegenseitige Verantwortung definiert.

Diese inklusive Vision wurde bereits in der Frühzeit des Islam politisch konkret. Nach seiner Auswanderung nach Medina im Jahr 622 verfasste der Prophet Muhammad das sogenannte Medina-Dokument – eine Art Verfassung für die multiethnische und multireligiöse Stadtgemeinschaft. Darin heißt es bemerkenswerterweise: „Die Muslime und die Juden bilden eine gemeinsame Umma.“

Dieser Satz sprengte das konfessionelle Verständnis von Gemeinschaft und legte den Grundstein für ein frühislamisches Modell des interreligiösen Zusammenlebens. Die Umma wurde hier nicht über den Glauben allein definiert, sondern über gegenseitige Verantwortung, Schutz und soziale Ordnung.  Das Medina-Dokument ist damit ein frühes Zeugnis für die Fähigkeit des Islam, Gemeinschaft auch in religiöser Vielfalt zu denken – eine Fähigkeit, die im interreligiösen Dialog der Gegenwart neue Aktualität gewinnt.

In zeitgenössischen theologischen Debatten wird der Begriff Umma zunehmend unter neuen Perspektiven beleuchtet. So argumentiert der islamische Gelehrte Shahin in seinem Beitrag „Vom theologischen Konstrukt zum globalen Akteur?“ (im Sammelband Kirche und Umma, 2014), dass die Umma nicht länger ausschließlich theologisch-normativ interpretiert werden dürfe. Er plädiert für eine Öffnung hin zu einem ethischen, globalen Begriff von Gemeinschaft, in dem alle Menschen – unabhängig von Religion – Teil einer Menschheits-Umma sein können, sofern sie sich zu gemeinsamen Werten wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden bekennen.

Gleichzeitig verweist er auf die Herausforderungen eines solchen Paradigmenwechsels: Die theologische Aufladung des Begriffs sei tief verankert, ein neutraler Gebrauch noch nicht voll etabliert. Doch Shahins Ansatz zeigt, dass die Umma Potenzial für inklusives Denken birgt, und dass ein Dialog über ihre Bedeutung dringend notwendig ist.

Schlussgedanken: Umma als Wegweiser für eine pluralistische Zukunft

In einer Welt, die zunehmend durch gesellschaftliche Spaltungen, religiöse Abgrenzungen und Identitätskämpfe geprägt ist, kann die Umma – in ihrer ursprünglichen, spirituell geprägten Bedeutung – zu einem Leitbild für Versöhnung und gegenseitige Anerkennung werden. Die Verbindung zur Wurzel „Umm“ erinnert uns daran, dass wahre Gemeinschaft nicht durch Abgrenzung, sondern durch Fürsorge, Vertrauen und Verantwortung entsteht.

So wie eine Mutter ihr Kind nicht nach Status, Herkunft oder Leistung liebt, sondern allein um seiner selbst willen, so lädt uns die Idee der Umma dazu ein, auch unsere Mitmenschen als Geschwister in der Schöpfung zu erkennen. Wenn wir diese tiefere Dimension des Umma-Begriffs annehmen, können wir – über den islamisch-christlichen Dialog hinaus – zu einer truly interreligiösen und menschenzentrierten Verständigung gelangen: Eine Verständigung, die nicht auf Ausgrenzung, sondern auf Verbundenheit in Vielfalt gründet, und die die Menschheitsfamilie nicht nur als schönes Ideal beschreibt, sondern praktisch erfahrbar macht.

Glaube aus der Maschine? Wie KI Religion verändert – und was bleibt

Alle reden über Künstliche Intelligenz. Viele nutzen sie bereits. Auch in religiösen Kontexten hat KI längst Einzug gehalten. Priester lassen sich bei Predigten helfen, Katechetinnen formulieren Gebete neu, Imame nutzen ChatGPT & Co für die Vorbereitung der Freitagspredigt. Theologiestudierende analysieren Bibelstellen mit Hilfe von KI-Tools, in buddhistischen Tempeln antworten Avatare auf spirituelle Fragen.

Spätestens seit dem Evangelischen Kirchentag 2023 ist klar: Das Thema ist nicht mehr theoretisch. Damals wagte man ein Experiment – eine vollständig von KI geschriebene Predigt wurde in einem Gottesdienst gehalten, unterstützt von KI-generierten Avataren auf einer Leinwand. Die Reaktionen reichten von Staunen bis Skepsis. Aber eines war deutlich: Künstliche Intelligenz ist im religiösen Alltag angekommen.

Wenn Algorithmen über Gott sprechen

Die zentrale Frage lautet: Was passiert, wenn Maschinen beginnen, theologische Aussagen zu formulieren? KI kann heute beeindruckend gut Texte schreiben – strukturiert, verständlich, stilistisch angepasst. Sie kann Bibelstellen vorschlagen, religiöse Symbole erklären, liturgische Formeln kombinieren. Doch dabei bleibt sie stets außen vor. Denn KI glaubt nicht. Sie hofft nicht. Sie zweifelt nicht. Sie kennt keine innere Dunkelheit und kein spirituelles Erwachen. Sie reproduziert – was Menschen vorher gedacht, gesagt, gebetet haben.

Und genau darin liegt eine paradoxe Chance. Denn sie zwingt uns zu fragen: Was macht unseren Glauben eigentlich aus? Was bleibt, wenn eine Maschine dasselbe sagt wie wir – nur schneller und fehlerfreier?

Diese Fragen stellen sich nicht nur im Christentum. Auch andere Religionen ringen mit der Präsenz der KI in spirituellen Räumen. Im Judentum werden KI-Systeme entwickelt, die halachische Literatur durchsuchen oder rabbinische Texte verknüpfen. Im Islam helfen KI-Anwendungen beim Formulieren von Khutbas oder beim Auffinden von Koranstellen zu bestimmten Themen. Im Buddhismus experimentieren einige Klöster mit KI-gestützten Meditationsbegleitern.

Allen religiösen Traditionen stellt sich damit eine drängende Frage: Wann ist eine religiöse Botschaft authentisch? Reicht der Inhalt – oder braucht es den Menschen dahinter? Kann ein spiritueller Text dieselbe Wirkung entfalten, wenn er nicht aus Erfahrung, Beziehung und gelebtem Glauben stammt, sondern aus Codezeilen? Tatsächlich hängt dies von der Klärung einer grundlegenden theologischen Frage ab: Wie handelt Gott in der Welt? Wenn Gott in allem und durch alles handeln kann, dann spricht nichts dagegen, anzunehmen, dass er auch durch Technologien Menschen zum Glauben bringen oder Ihnen auf ihrem Glaubensweg helfen kann. Dann geht es nur darum, entsprechende Unterscheidungskriterien (ähnlich wie bei der „Unterscheidung der Geister“ im eigenen religiösen Leben).

Zumindest in der christlichen Theologie ist heute aber ein alternativer, viel zurückhaltender Ansatz prominent: Gott habe sein Einflussmöglichkeiten in die Schöpfung stark eingeschränkt. Nicht nur der Mensch genieße Autonomie, sondern auch die Natur. Vor allem in einer „Theologie nach Ausschwitz“ geht man davon aus, dass Gott nicht oder nur in ganz bestimmten Fällen in den Weltverlauf eingreifen kann. Meiner Meinung nach ist die plausibelste „Öffnung“ für bestimmte Fälle die folgende: Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben, Gott durch sie wirken zu lassen.

Aber genau das kann eine künstliche Intelligenz nicht. Sie besitzt keine Freiheit zum Glauben. Dadurch kann – in diesem theologischen Modell – Gott nicht durch sie wirken. Und so kann auch eine spirituelle Ansprache oder ein Seelsorgegespräch durch einen KI-gesteuerten Avatar niemals dieselbe Tiefe entfalten wie die persönliche Begegnung mit einem Menschen, der sich bewusst und aus freiem Willen für das Handeln Gottes öffnet.

Chancen – und klare Grenzen

Natürlich bietet KI enorme Vorteile: Sie kann helfen, komplexe Inhalte zu vereinfachen, Sprachbarrieren zu überwinden, neue Perspektiven zu eröffnen. Gerade in der Bildungsarbeit oder der Seelsorge kann sie eine wertvolle Assistenz sein.

Aber sie darf nicht zum theologischen Ersatz werden. Denn Glaube ist nicht nur Information – sondern Transformation. Er entsteht im Leben, in der Begegnung, im Hören und Antworten. Eine Predigt ist mehr als ein Text. Ein Gebet ist mehr als eine grammatikalisch korrekte Bitte. Deshalb ist die eigentliche Frage nicht: Dürfen wir KI nutzen? Sondern: Wie nutzen wir sie, ohne uns selbst zu verlieren?

KI als Spiegel

Künstliche Intelligenz verändert die religiöse Kommunikation – aber sie kann den Glauben nicht ersetzen. Sie fordert uns heraus, unsere Sprache, unsere Rituale, unser theologisches Denken neu zu reflektieren.

KI ist damit mehr als nur Werkzeug – sie ist Spiegel. Sie zeigt uns, was verloren geht, wenn Effizienz über Erfahrung triumphiert. Und sie ruft uns zurück: zur Tiefe. Zur Echtheit. Zur Begegnung.

Wenn Religionen beginnen, ihre tiefsten Überzeugungen mit den Herausforderungen der Technik zu konfrontieren, entsteht kein Bruch – sondern ein neuer Raum. Vielleicht beginnt genau hier das interreligiöse Gespräch der Zukunft: über das Menschliche im Digitalen.

Schlussbemerkung: Dieser Text wurde mithilfe einer KI erstellt. Nachdem ich die ersten Abschnitte selbst geschrieben hatte, wollte ich austesten, wie genau meine Gedanken weitergeführt würden. Leider blieb alles sehr oberflächlich. So musste ich große Teile verändern, anpassen, Inhalte hinzufügen. Der zentrale Gedanke des Textes – dass die Bewertung von KI in der religiösen Praxis von der Theorie des Handelns Gottes abhängt – stammt ausschließlich von mir. ChatGPT kommentiert meine überarbeitete Version so: „Die Unterscheidung zwischen zwei Modellen göttlichen Handelns (Gott wirkt in allem vs. Gott wirkt nur durch Menschen mit freiem Willen) ist stark. Besonders deine Formulierung „Gott handelt durch Menschen, wenn sie sich aus freiem Willen dafür entschieden haben…“ bringt das theologisch präzise und pastoral überzeugend auf den Punkt.“ Hoffentlich hat er/sie/es da Recht!

„In die andere Richtung jetzt“

Am 26. März hat das Forum für Komparative Theologie Navid Kermani zu einer Lesung seines neuen Buches “In die andere Richtung jetzt” mit einem anschließenden Gespräch eingeladen. Einstimmig wurde im Anschluss gesagt, es sei ein gelungener Abend gewesen. Tatsächlich ist den gelungenen Abend selbstverständlich Navid Kermani, nicht zuletzt aber meinen Kollegen Yael Attia und Mohammed Abdelrahem zu verdanken, die das Buch verschlungen und sich gemeinsam mit mir Fragen überlegt hatten, welche Interesse wecken sollten und Theologie und Gesellschaft ins Gespräch bringen sollten.

Beim Lesen des Buches fällt der Tagebuchcharakter seines Schreibens stark auf. Auf der einen Seite scheinen Teile schnell und mit wenig Reflexion geschrieben zu sein. Auf der anderen Seite begegnen Passagen, in denen er dann tiefgründig über philosophische Themen wie Identität oder Menschenwürde reflektiert. An vielen Stellen reflektiert Kermani mit einem starken Bewusstsein für kulturelle Normen und kulturpolitische Gedanken. So schreibt Kermani über seine eigenen Vorurteile in Gedanken über eine Beobachtung, dass die Menschen, die er begegnet, ein starkes Rhythmusgefühl haben: „Ist es rassistisch, wenn ich so denke? Schwarzen liegt die Musik und so weiter? Das ist es wohl und doch ist es, was ich denke“ (S. 54). Kermani kommt zu dem Schluss, dass man trotz aller Versuche, nicht rassistisch sein zu wollen, Menschen doch häufig nicht anders könnten, weil sie gelernt haben, so Kermani, Dinge zu verallgemeinern und zu kategorisieren.

Kermani spricht einen kultursensiblen Punkt aus, der im Hinblick auf die Arbeit mit anderen religiösen Traditionen in der Komparativen Theologie und der postcolonial critique bereits so hinreichend reflektiert wurde, dass wir uns in einer Zeit der critique on the post-colonial critique befinden. Wenn die notwendigen Kategorien, die wir uns schaffen, um Dinge zu beschreiben, nicht funktionieren, ja selbst das Kategorisieren an sich bereits ein Problem ist, dann verlieren wir eine wichtige heuristische akademische Funktion, die uns ermöglicht, Wissen zu produzieren. Forscher wie Catherine Bell plädieren daher, sich den Kategorien bewusst zu sein, und sensibel mit ihnen umzugehen.

In meiner Zeit in den USA habe ich im akademischen Kontext die Notwendigkeit kultureller Sensibilität, vor allem im Hinblick auf den Rassismus, auf eine ganz neue Art kennengelernt. Während in Deutschland nach 1945 gesetzlich der Versuch unternommen wurde (mit der Betonung auf Versuch), Menschenrechte so in das Grundgesetz zu verankern, dass jegliche Form der systemischen Diskriminierung im Keim erstickt wird, ist der Rassismus systemisch tief im US-amerikanischen System verwurzelt. Ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung: Die Rassentrennung (engl. segregation) ist noch immer mit Blick auf Landkarten zu finden – ganze Städte findet man, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „weiß“ konzipiert wurden, und in denen es für Afroamerikaner aufgrund der Einkommensschwellen nahezu unmöglich ist, zu wohnen. Diese Realität spiegelt sich im amerikanischen Kontext wider. Zwei Dinge habe ich in diesem Kontext in Gesprächen mit meinen akademischen Kolleg:innen gelernt. Zum einen ist es wichtig, dass ich mir als weißer Mann eingestehen muss, dass es mir unmöglich ist, nicht rassistisch zu sein. Schon die Tatsache, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Afroamerikaner eine ähnliche Berufslaufbahn unter sehr erschwerten Bedingungen durchlaufen als ich, einfach nur, weil sie Afroamerikaner sind, lässt mich notwendigerweise in eine Situation der Ignoranz geraten. Die Tatsache, dass ich mich bei der Organisation eines akademischen Panels auf der American Academy of Religion mit der Frage auseinandersetzen muss, ob ich einen Repräsentanten „of color“ habe, macht es mir unmöglich, nicht in Rassenkategorien zu denken. Ein solches Denken ist paradoxerweise, auch wenn ich es für notwendig halte, rassistisch, insofern, als dass ich in dieser Kategorie denken muss, um nicht rassistisch zu sein.

Zweitens habe ich gelernt, sensibel aus dem Zentrum einer Diskussion zu ihrem Rand zu gehen. Mein Kollege Byron Wratee hat mich gelehrt, dass in jeglichen Formen des  Dialogs – dabei ist es gleichgültig, ob nun im akademischen Raum, im interreligiösen Dialog, oder in einem trivialen Gespräch in einer größeren Gruppe – für mich die Möglichkeit besteht, mich zurückzunehmen und jemandem „of color“ den Raum zu bieten, seine Position einzubringen und wertzuschätzen. Dieses Konzept nennt sich „Dezentralisierung.“

Rassismus, wie jegliche Form der Diskriminierung, ist auch in Deutschland immer ein gesellschaftliches Thema. Auch wenn sich der afrikanische Sklavenhandel in Deutschland nicht in demselben Maße wie in den Vereinigten Staaten etabliert hat, sind Segregationen auch hier sichtbar (ob nun aufgrund von Flüchtlingscamps oder aufgrund der städtischen Verteilung von Asylanten auf bestimmte Umgebungen. Rassismus, wenn auch weniger systemisch, ist täglich spürbar. Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir aufgrund unserer intensiven, wichtigen und richtigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den vergangenen 50 Jahren den Fokus auf systemischen Rassismus in Deutschland etwas vernachlässigt haben.

Navid Kermanis Auffassung, dass er rassistisch denkt, wenn er die Menschen in ostafrikanischen Ländern für musikalisch hält, ist korrekt. Ein solches Denken ist eine Stereotypisierung und auf eine gewisse Weise rassistisch. Anstelle einer bloßen Hinnahme dieser Kategorie im Hinblick auf die Musik, ergibt sich hieraus ein Potenzial, diese Kategorie aufzubrechen und aus der Situation zu lernen und die Musikalität wertzuschätzen. Kermani bestand darauf, Am Ende seiner Lesung das Lied Yèkèrmo Sèw von Mulatu Astatke, einem renommierten Jazz-Musiker aus Äthiopien, einzuspielen.

Brich den Frieden mit dir, brich mit dem Werke der Welt!

Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung – eine empirische Untersuchung

Klimawandel, Artensterben, soziale Ungerechtigkeit – die ökologischen und gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit fordern uns heraus. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) soll unter anderem dazu befähigen, nachhaltig(er) zu handeln und gesellschaftliche Transformationsprozesse aktiv mitzugestalten (siehe z.B. Beiträge von Claudia Gärtner und Katrin Bederna). Die vielversprechenden Konzepte und Lernsettings, die in Hinblick auf rBNE in der Religionspädagogik bereits entworfen wurden, wurden bisher jedoch noch nicht empirisch überprüft.

Im von der DFG geförderten Projekt „ReBinE – Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung. Empirische Erforschung ihrer Wirkung auf das geplante umweltbewusste Verhalten von Haupt- und Sekundarschüler*innen“, möchten wir als Forschungsgruppe diese Problematik aufgreifen und empirisch erforschen, ob eine politisch orientierte religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung zu umweltbewusstem geplanten Verhalten beiträgt. Die Zielgruppe dieser Forschung sind, nicht wie sonst eher üblich, Schüler*innen von Gymnasien, sondern Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen. Spannend ist diese Zielgruppe zum einen, weil sie theologisch und religionspädagogisch selten Teil von empirischen Forschungen sind und ihre Perspektiven damit deutlich weniger miteinbezogen werden. So freut es mich als Person, die Lehramt für Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen studiert hat besonders, dass wir vielfältige Perspektiven dieser in der Forschung oft vernachlässigten Gruppe einholen können. Die Lebensrealitäten der Schüler*innen von Haupt-, und Sekundarschulen im Vergleich zu Gymnasien unterscheiden sich beispielsweise häufig in Hinblick auf ökonomische und kulturelle Erfahrungen, aber auch hinsichtlich religiöser Erfahrungen, sodass hier Heterogenitätssensibilität gefragt ist. Zum anderen ist die Zielgruppe für unsere Forschung besonders interessant, weil sie statistisch eher ablehnende, unentschlossene oder auch skeptische Umwelteinstellungen besitzt. Das Projekt untersucht also, inwiefern diese Schüler*innen anhand der von uns entwickelten Lernsettings zu unweltbewussterem geplanten Verhalten befähigt werden.

Im Projekt gibt es zwei Teilprojekte für ein konstratives Sample, da zum einen schulisches religiöses Lernen in Religionsklassen der 9. Und 10. Klassen untersucht wird und zum anderen außerschulisches religiöses Lernen in sozialen Seminaren für bildungsbenachteiligte Schüler*innen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Gerade bei unserer Zielgruppe könnte der Lernort eine Rolle spielen und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Diese Studie nutzt einen Mixed-Method-Ansatz, was bedeutet, dass sowohl quantitative als auch qualitative Methoden zum Einsatz kommen. Wir bearbeiten in diesem Projekt einige Forschungsfragen, zum Beispiel welche Wirkung heterogenitätssensible Lernsettings einer politisch orientierten religiösen BNE auf das geplante Umweltverhalten von Haupt- und Sekundar-SuS besitzen und inwiefern sich Unterschiede zwischen heterogenen Schüler*innen aufzeigen lassen. Und auch mögliche Unterschiede zwischen dem schulischen und dem außerschulischen Lernort sind für uns interessant. Die Ergebnisse der Studie sind außerdem wichtig um herauszufinden, inwiefern diese zu einer empirischen Fundierung einer politisch orientierten BNE und zu ihrer Weiterentwicklung führen können oder auch wie BNE weiter ausdifferenziert werden müsste.

„Gucken Sie nach vorne und bewältigen Sie die Gegenwart.“

Der mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“ (2020, derzeit in der ARD-Mediathek abrufbar) zeigt am Beispiel des Protagonisten Dimitri Lieberman (Dima) eindrucksvoll, mit welchen Herausforderungen, Stereotypen und Vorurteilen Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland konfrontiert werden. Der Film beleuchtet dabei nicht nur die individuellen Erfahrungen von Jüdinnen*Juden, sondern hält auch der deutschen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er subtile wie offene Formen von Antisemitismus kritisch hinterfragt und in ihren historischen wie aktuellen Kontext stellt. Gegen Ende des Films widmet sich Dima dem Thema „Erinnern und Gedenken“ und stellt am Beispiel der Stolpersteine als Erinnerungssymbole für die Vergangenheit die Frage, ob wirklich alles aufgearbeitet ist. Seine Antwort darauf ist eindeutig: „Ich habe da einen Tipp für Sie. Gucken Sie nach vorne und bewältigen Sie die Gegenwart. […] Ach ja, die neuen Nazis, aber mit ihnen hat es ja nichts zu tun, oder?“ Mit der Neuen Rechten hat auch die Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus Einzug gehalten, – ein Anliegen, dem angeblich mittlerweile mehr als die Hälfte der Deutschen zustimmen soll. Die Gefahren einer solchen Verdrängung werden jedoch deutlich, etwa durch Dimas Notwehrhaltung gegen die antisemitische Provokation seines Mitschülers Tobias auf der Schultoilette oder durch die Begegnung mit seinem Großvater am Stand einer blauen Partei, die unverkennbar der Alternative für Deutschland (AfD) ähnelt. Diese Partei instrumentalisiert Jüdinnen*Juden unter dem Vorwand der Antisemitismusbekämpfung, während sie tatsächlich antimuslimischen Rassismus normalisiert. Auch die Ergebnisse der amerikanischen NGO Anti-Defamation League (ADL) zeigen eindringlich, wohin eine unzureichende Auseinandersetzung mit der Geschichte führen kann. Sie kommt der Jüdischen Allgemeinen zufolge „zu einem alarmierenden Ergebnis: Fast die Hälfte aller Erwachsenen auf der Welt soll antisemitische Ansichten haben.“ Weiterhin wird berichtet, dass jede*r Fünfte noch nie vom Holocaust gehört habe – eine erschütternde Tatsache, insbesondere im Hinblick auf den bevorstehenden 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.

Und so ist tatsächlich nicht ausgeschlossen, dass es unter den AfD-Wähler*innen und Sympathisant*innen womöglich einige Menschen gibt, die sich bei den jüngst von der AfD in Karlsruhe verteilten niederträchtigen „Abschiebetickets“ nicht an die „Zugtickets“ erinnert fühlen, die die Nazis 1933 zur Ausreise aus Deutschland an Jüdinnen*Juden verteilten. Ein Jahr nachdem eine Veröffentlichung des Recherchenetzwerks „Correctiv ein geheimes Treffen von Rechtsextremisten im November 2023 in Potsdam aufgedeckt hatte, bei dem konkrete Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland ausgetauscht wurden, ist die mutmaßlich rechtsextreme Partei bundesweit im Umfrage-Hoch – und buhlt, teilweise erfolgreich, auch um die Gunst wertkonservativer Christ*innen und Jüdinnen*Juden.

Dabei sind Erinnern und Gedenken als religiöse und theologische Basiskategorie innerhalb der Religionen tief verwurzelt. Sie sind dabei nicht allein eine konservierende Praxis, sondern eine tiefgehende ethische und metaphysische Verpflichtung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in eine produktive Spannung setzt. Walter Benjamins Konzept des „Eingedenkens“ verleiht dieser Perspektive eine radikale Tiefe, indem es das Erinnern als einen Akt der Rettung versteht: Es gilt, das Leid der Vergangenheit nicht nur zu bewahren, sondern es aus der Vergänglichkeit zu erlösen. Das Eingedenken widersetzt sich der linearen Geschichtserzählung und mahnt, dass jede Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt – nicht zur Verklärung, sondern zur Transformation.

In diesem Verständnis ist das Erinnern nicht bloß retrospektiv, sondern zugleich gegenwarts- und zukunftsorientiert. Es fordert, die unterdrückten Stimmen und Erfahrungen der Geschichte zu hören und ihre Forderungen in der Gegenwart wirksam werden zu lassen. Gerade die christliche Tradition verdeutlicht diese doppelte Ambivalenz: Sie war Trägerin einer Ethik der Solidarität, zugleich aber auch Ursprung und Verstärker jahrhundertelanger Judenfeindschaft, die den modernen Antisemitismus und letztlich den Nationalsozialismus ideologisch vorbereitete. Hier zeigt sich die unerbittliche Forderung des Eingedenkens nach kritischer Selbstbefragung und der Überwindung jener Strukturen, die das Vergangene mit der Gegenwart verbinden.

Die Vorstellung eines „Schlussstrichs“ unter die Erinnerungskultur ist aus dieser Perspektive eine konzeptionelle Fehlannahme, ja eine ethische Zumutung. Sie reduziert das Erinnern auf ein historisches Relikt, das überwunden werden soll, und verweigert ihm seine transformative Dimension. Benjamin mahnt, dass in einem solchen Bruch nicht Befreiung, sondern die Gefahr des Vergessens und der Wiederholung liegt. Erinnerung ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein immerwährendes Verhältnis, das sich in jedem Moment neu konstituiert.

Religiöse Bildung trägt in diesem Spannungsfeld eine besondere Verantwortung. Sie darf Erinnerung nicht nur als rituelle Praxis vermitteln, sondern muss sie im Benjamin’schen Sinne als dialektische Bewegung entfalten: ein fortwährender Versuch, das Vergangene in seiner Unabgeschlossenheit zu denken und aus ihm jene ethischen Verpflichtungen zu ziehen, die zur Gestaltung einer gerechteren Welt notwendig sind. Das „stetige Eingedenken des Leids“ wird so nicht zur Last, sondern zur Quelle einer radikalen Verantwortung, die das Vergangene mit einer besseren Zukunft versöhnt – nicht durch Vergessen, sondern durch ein waches und schöpferisches Erinnern.

Angesichts der Verantwortung, die das Erinnern an die Vergangenheit mit sich bringt, ist die Teilnahme an der Bundestagswahl ein entscheidender Akt. Jede Stimme trägt dazu bei, eine Gesellschaft zu stärken, die Antisemitismus, Geschichtsverfälschung und Spaltung entgegenwirkt.

Walter Benjamins Idee, dass die Vergangenheit in den Händen der Gegenwart liegt, erinnert uns daran, dass politisches Handeln nicht nur unsere Zukunft prägt, sondern auch die Deutungshoheit über unsere Geschichte. Ein „Schlussstrich“ bedeutet das Risiko von Verdrängung und Wiederholung – eine Gefahr, der wir uns durch bewusste politische Entscheidungen entgegenstellen müssen.

Die Wahl ist daher nicht nur ein Recht, sondern eine Verpflichtung: für eine Politik, die Erinnerungskultur schützt, Verantwortung ernst nimmt und eine gerechte, reflektierte Zukunft ermöglicht. Nutzen Sie diese Gelegenheit.

Das Bild entstand auf einer Studienfahrt von Stephanie Lerke und Jan Christian Pinsch mit Paderborner Studierenden nach Auschwitz und zeigt das im Block 27 der Gedenkstätte aufgestellte „Book of Names“ mit den Namen von 4,8 der rund 6 Millionen Jüdinnen*Juden, die während des Holocaust ermordet wurden.

Das Leben feiern

Religionen feiern das Leben. Regelmäßig wiederkehrend, mit einer nicht endenden Ausdauer, gleichförmig und doch sich immer wieder auch selbst erneuernd. Juden, Christen und Muslime verstehen das Leben als Gottesgeschenk und wertschätzen es als Teil der göttlichen Schöpfung. Jeder Gottesdienst, jedes Gebet, jeder Gesang ist ein Ausdruck des lebendigen Daseins vor Gott, in dem der Mensch das eigene Leben vor seinem Schöpfer bedenkt, bespricht, feiert. Das geschieht lobend, dankend und jubelnd ebenso wie bittend, klagend und zweifelnd. Denn die Medaille des Lebens hat immer zwei Seiten, eine helle und eine dunkle, eine leichte und eine schwere, eine freundlich antwortende und eine rätselhaft widerständige. Nicht alles fügt sich unmittelbar sichtbar ein in den oftmals behaupteten großen Sinnzusammenhang. Brüche und Risse sind sichtbar, Wunden bleiben zurück, das einzelne Leben ist Fragment. Wer anderes behauptet, lebt entweder nicht in dieser Welt oder macht leere Heilsversprechen, die der erfahrbaren Realität nicht standhalten können.

Die Ambivalenz unseres je individuell gelebten Lebens zwischen Freude und Trauer, Angst und Hoffnung wird insbesondere in Zeiten des Jahreswechsels bewusst. Viele nehmen sich die Zeit, um das Auf und Ab des vergangenen Jahres zu reflektieren, um erwartungsvoll oder auch besorgt auf das vorauszublicken, was kommen mag. Leben lässt sich nur in dieser Zweiseitigkeit begreifen, alles andere wäre naiv. Und doch – oder gerade deshalb feiern Religionen immer wieder das Leben, und zwar aus ihrer je eigenen Hoffnung auf Heilwerden und Vollendung heraus. Gibt es eine Welt, in der alle Risse und Wunden geheilt werden und in der alles Fragmentarische ganz werden kann? Mindestens die Bibel und der Koran erzählen davon auf vielfältige Weise.

Die Ambivalenz des Lebens, das Feiern des Lebens und auch die fragile Hoffnung auf besseres Leben werden besonders in den diversen geprägten Zeiten der religiösen Festkalender offenkundig und unmittelbar erfahrbar. Gerade erst liegt das jüdische Chanukkafest ebenso hinter uns wie der christliche Weihnachtsfestkreis, der aus katholischer Sicht am Sonntag nach dem sogenannten Dreikönigstag endet. Das an Chanukka erinnerte und gefeierte Lichtwunder während der Wiedereinweihung des zweiten Jerusalemer Tempels holt die Hoffnung auf Überwindung von Unterdrückung und Fremdbestimmung in die Gegenwart: jeden Tag etwas mehr mit der Entzündung einer weiteren Kerze auf der Chanukkia, acht Tage lang. Die weihnachtliche Frohbotschaft über die göttliche Menschwerdung können Christinnen und Christen nicht erzählen, ohne zugleich auch die lebensbedrohlichen Umstände dieser Geburt zwischen Flucht und Armut zu erwähnen. Hier wie dort gehören Licht und Schatten zusammen. Die Bedrohtheit allen Lebens wird auch am kürzlich gefeierten Dreikönigstag deutlich. Die in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums erwähnten Sterndeuter kommen nach Betlehem, um das Leben mit reichhaltigen Gastgeschenken zu feiern und um die Erscheinung (Epiphanie) des lebensbejahenden Gottes in den Niederungen dieser Welt zu bezeugen. Auch das geschieht unter den Bedrohungen von Macht und Herrschaft durch König Herodes und den biblisch erwähnten Kindermord von Betlehem. Der in katholischen Gemeinden gepflegte Brauch der Sternsinger, die Anfang Januar von Haus zu Haus gehen und einen Segen sprechen, ist Symbol für das Leben. Das häusliche Leben wird unter die geglaubte Anwesenheit Gottes gestellt, es wird wertgeschätzt und gefeiert.

In einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft mögen solche Rituale wie das in vielen Städten gepflegte öffentliche Entzünden der Kerzen an der Chanukkia oder das Durch-die-Straßen-Ziehen der Sternsinger hier und da auf Irritation, Verwunderung und Ablehnung stoßen. Zudem wird das persönliche Bekenntnis durch das allzu weltliche Handeln in den religiösen Institutionen immer wieder kräftig auf die Probe gestellt. Es braucht Mut und Vertrauen, um sich auf das Angebot eines religiösen Lebensstils einzulassen, nach innen und außen. Und es braucht eine Naivität zweiten Grades, die trotz Kritik und allem Nicht-mehr-Glauben-Können dennoch unmittelbar hoffen kann: auf ein friedvolles Leben und auf einen lebenswerten Frieden im Großen und Kleinen. Juden, Christen und Muslime feiern das Leben gerade trotz seiner nichtfeierlichen Abgründe, die uns jedes Jahr begegnen und herausfordern. Aber sie tun es, zeitenüberdauernd und religionsübergreifend, als „gefährliche Erinnerung“ (J. B. Metz) an einen menschenfreundlichen Gott mit vielen Namen, den Lebensspendenden, Bewahrer und Schutzherr allen Lebens.

Tony Cragg: Iʼm alive (Wuppertal-Barmen 2005, Edelstahl)

Bildquelle: https://skulpturen.kulturraum.nrw/wuppertal/tony-cragg/im-alive.html