Exodus

Das Judentum wird nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur oder eine Zivilisation die „use magnificient the narrative to explore great normative questions“ (Robert Cover)Die großen jüdischen Erzählungen finden sich in der Bibel (Thora) und organisieren eine Weltanschauung auf eine bestimmte und kohärente Weise, die Sinn und Identität vermitteln. Diese sind: die Geschichte der Erschaffung der Welt (Bereshit / Genesis), die Geschichte von Abram, der das Land seiner Vorfahren (Lech Lecha) verlässt, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten (EXODUS) und die Geschichte der Übergabe der Tora auf den Berg Sinai. Jede dieser Erzählungen entfaltet eine Reihe von Werten und Konzepten, die ein einzigartiges und originelles Gewebe bilden, das sich von anderen benachbarten Kulturen unterscheidet und sich über mehrere Jahrtausende entwickelt und erweitert hat, ohne seine urwüchsigen Knoten zu brechen.

Angesichts der Nähe der Pesach-Feier (die mit dem Beginn des Frühlings in der nördlichen Hemisphäre beginnt, in diesem Jahr vom 08.-16.04.2020), nutze ich diese Gelegenheit die Bedeutung der Erzählung des Auszuges aus Ägypten, des Höhepunkts der göttlichen Offenbarung  und der Übergabe des Gesetzes zu untersuchen, grundlegende Geschichten, sowohl in der Konstruktion des kollektives Gedächtnis, und von der (Selbst-) Identität und Ethos als Volk.

Der Exodus, der Auszug der Kinder Israel aus der vom Pharao auferlegten Sklaverei in Ägypten, war das Werk des Gottes Israels, von Moses seinem ersten Propheten vermittelt. Es ist die erste Geschichte, in der ein Kollektiv auftaucht, davor liegen die Tage der intimen Familiengeschichten von Jakob und seinen Kindern: ein versklavtes Volk, das den Launen seine Tyrannen ausgesetzt ist. Ein traumatisiertes Volk, schlägt die Geschichte vor, deren Kinder in den Nil geworfen wurden und riesige architektonische Werke für die Herren bauten. In einer Handlung, in der Gottes aggressives Eingreifen  die Natur und ihre Manifestationen wesentlich veränderte, und die in der Ermordung der erstgeborenen Ägypter gipfelte, wird erreicht, was politische Verhandlungen nicht erreicht hatten: Die Kinder Israels verlassen Ägypten.

Ein ängstliches Volk geht in Richtung eines unbekannten Epos, folgt einem Versprechen, überquert das Rote Meer und rückt in die herausforderndste Geographie vor: die Wüste. Die Entstehungsgeschichte dieses Volk ist weder mit edlen Ursprüngen noch mit mythischen und heldenhaften Schlachten geschmückt: Der Ursprung ist die Sklaverei, die Unterwerfung, die Hilflosigkeit. Aus dem am meisten diskreditierten sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Zustand wird ein Volk geboren. Der Zustand der Sklaverei naturalisiert ein Rechtssystem, von dem angenommen wird, dass es Männer und Frauen mit verschiedenen  Rechten und Privilegien gibt, eigentlich zeigt es, dass es Männer und Frauen gibt, die die Kategorie der Männer und Frauen nicht erreichen: Sie sind zu Dingen, zu Werkzeuge und Tiere degradiert. Sklaven sind Gebrauchs- und Konsumgegenstände, werden gekauft, verkauft und weggeworfen. Dem System liegt die Macht des Herrn zugrunde, Eigentümer von Leben und Schicksalen. Auf der anderen Seite könnte nur die Tat eines allmächtigen Gottes, der unermessliche Wunder tut, die Sklaverei brechen, die der Sklavenkörper grundsätzlich benutzt, aber definitiv sich in seiner Psyche einnistet.

In My Bondage and my Freedom, schafft es Frederik Douglas, ein schwarzer Sklave aus den südlichen USA, in den Norden zu fliehen. Ein imaginärer Dialog mit seinem Sklavenhalter (1855) verdeutlicht seine Argumentation, die ihn in die Freiheit führte:

„ I’m  myself, you are yourself; we are two distinct persons, two equal persons. You are a man and so am I. God created both and made us separate things. I´m not by nature bond to you or  you to me. Nature doesn´t make your existence depend  upon me, or mine to depend upon yours. I cannot walk upon your legs or you upon mine. I cannot breathe for you, and you for me; I must breathe by myself and you for yourself (…)

Die Kinder Israels reisten nicht umsonst vierzig Jahre durch die Wüste: Die Generation Ägyptens konnte kaum von den Traumata der Sklaverei geheilt werden, aber vielleicht ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder. Auf dem Weg passiert was die nächste große Erzählung aufdeckt: Die Offenbarung Gottes erfolgt in einem direkten Dialog mit dem Volk Israel durch ein System von Gesetzen, den Dekalog. Matan Tora, buchstäblich die Übergabe der Thora: Jedes Gebot organisiert die Sklavenmentalität der Kinder Israel. Gott stellt sich vor, lehnt andere Götter und Herren im zweiten Gebot ab, verlangt den höchsten Respekt für seinen Namen, für den Schabbat und für die Zeit als solche; für die Eltern und für die Grundlagen des Zusammenlebens: nicht töten, nicht stehlen und kein falsches Zeugnis auflegen. Und dann die ethischen Gebote: du wirst nicht begehren was der andere hat …

Der Dekalog ist ein Versuch, die Sklaverei in den Köpfen zu beseitigen: wo es vorher einen Herrn gab, wird es jetzt Gott geben, wo es keine Zeit gab, wird es Schabbat geben, wo die Familie auseinander gerissen zerstückelt wurde,  gibt es jetzt Vater und Mutter, wo es kein Gesetz gab, wird es eins geben und Laune und Gier werden jetzt kontrolliert. Die biblische und rabbinische Weisheit vereinte die Erzählung des Exodus und die der Tora-Übergabe in (Ex. 32,16) 

„Und die Tafeln waren ein Werk Gottes; und die Schrift war eine Schrift Gottes eingegraben in die Tafeln“

In einem Kommentar im Pirkei Avot (Sprüche der Vater)

(…) Lies nicht Charut (geschnitzter Text), sondern Cheirut (Freiheit), dass es keinen Menschen gibt, der freier ist als derjenige, der sich mit dem Studium der Tora befasst.

Auch wenn die Bibel uns klar macht, dass der Text des Dekalogs selbst von der göttlichen Hand geschrieben wurde, „Auf den Tafeln geschnitzt“ (auf Hebräisch Charut), gehen die Weisen noch einen Schritt weiter. Sie schlagen vor, dass der Text behauptet, dass das Gesetz im Wesentlichen von der Freiheit des Individuums (Cheirut) spricht, indem er betont, dass es kein freieres Individuum geben würde als dasjenige, das die Tora studiert. Der Unterschied zwischen Charut (geschnitzt) und Cheirut, das „i“ (Jod), das die Zahl zehn darstellt (die Buchstaben auf Hebräisch besitzen einen numerischen Wert) wären die Zehn Gebote, die im Sinai offenbart wurden. Klarstellung für eine Gruppe ehemaliger Sklaven, die misstrauisch sind und sich fürchten aus einer Sklaverei zu entfliehen, um in eine andere einzutreten. Das Gesetz befreit uns, sagt der Text. Nur wenn das Gesetz nicht regiert, ist eine Sklaverei, wie die von Ägypten wieder möglich.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.

God Because of Evil – Some Reflections in the Face of the Pandemic

 „Hell is other people,” says Sartre in his well-known play Huis Clos (1944). The “other” is often the source of fear, the “not-us” that is frightening, but at the same time necessary and constitutive for our self-identity. 

“Hell isn’t other people. Hell is yourself,” is quoted from Wittgenstein, and never more than today could it be felt with flesh and blood, now that we are faced with a threat, the medium of which is “us”. I am talking about the new epidemic, the so-called coronavirus. It is true that the threatening “other” is still playing an important role there – for he/ she is infecting me with the disease – but the virus would not work if I – better said “my body” – is not cooperating. The virus is best transferred by our hands; they should constantly be washed and disinfected, we are told. “My body” is turned into my enemy. The enemy is no longer the “other,” who is going to threaten my “culture” with his/ her (to me fully unknown) culture – religion, language, value system, habits etc. The enemy is me.

And unlike other instances of evil that are exclusively confined to a certain social class, or race, or religion, or country – like poverty, social injustice, slavery, colonialism, genocide, racial or religious discrimination or persecution etc. – this one knows no borders. It infects everyone – regardless of any classifications – and with our help; through us. Our bodies turn into death-mediums for others as well as ourselves – without us wanting and willing it. We turn into the  “mediums of evil”, without intending to be so. Thus, demonstrating to us, more than ever before, that the actual threat is not “the other” but ourselves. We can turn into the hell for ourselves and to the world. 

These days, hearing constantly the alarming news of the fast spread of the epidemic worldwide, and the lack of certain goods in the market – which is due to people’s onrush to the supermarkets, in order to buy antiseptics and disinfectants, masks, and food, mostly to store, out of the fear of the imminent “apocalypse” (!) – I cannot help but being reminded of the Portuguese author, José Saramago’s novel, Blindness (1995). It is the story of an epidemic of blindness afflicting people, one after the other, in an unnamed city, following a swift social breakdown. The epidemic starts with one person suddenly going blind, and then fastly spreading around, without any clear reason or explanation. In panic, morality and ethics fail; people literally kill each other in order to survive.

We are for the most part the source of evil, neither “God” nor “others” – and the most tragic part is that we do not realize it, as is clear in the case of mediating this virus. We harm others without realizing it. However, most of the times the evil comes or is sustained through our inaction. But is the situation this hopeless? Could anything be done against it? Or are we doomed? My response is: Yes, by realizing the source of true evil in “us”, and while taking responsibility, going for action. Like Dr. Rieux in Albert Camus’ La Peste (1947), in a plague-stricken world, all the more absurd it seems, we have to fight against the evil: “I have no idea what’s awaiting me, or what will happen when this all ends. For the moment I know this: there are sick people and they need curing.” 

In the face of this horrendous evil, possessing nothing but this flawed and broken existence, how are we to bear The Unbearable Lightness of Being? (the title of a novel by the Czech author Milan Kundera) What to do with this feeling of absurdity, despair and meaninglessness in the face of evil? There, maybe, faith can help us; a kind of belief and hope in a higher being – call it God if you may – out of pure pragmatic reasons, that can give meaning to our life and work as a source of energy to act – no longer faith for the purpose of escapism, or over/ underestimating man’s role in the evil of the world. Therefore, I agree with the American philosopher John Caputo in that: we need to believe in God, not “in spite of” evil, but exactly “because of” it – and I would add: and in order to fight against it

Saida Mirsadri ist Doktorandin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften in Paderborn.

Digitales Empowerment?

Digitales Empowerment?

Ob in der Industrie, der Wirtschaft, im Bereich Kultur oder im Bildungskontext – ohne digitales Marketing, digitale Medien, digitale Netzwerke und digitale Kommunikation scheint unser Alltag, unsere Arbeit nicht mehr denkbar. Digitale Technologien und ‚smarte‘ Software ermöglichen die Speicherung, Organisation und Verarbeitung großer Datenmengen und unterstützen die Präzisierung und Automatisierung von komplexen Prozessen und Abläufen. Die damit einhergehende Systementlastung soll neue Räume für kreatives und innovatives Denken und Handeln schaffen. Auch die Möglichkeit unabhängig von Zeit und Raum miteinander in Verbindung treten bzw. bleiben zu können, sowie die logistisch-koordinative Erleichterung unserer Planungen durch softwaregestützte Karten, Zeittafeln oder Kalender fasziniert. Neben der reinen Nützlichkeit, lassen sich durch digitale Medien zudem auch Potentiale entdecken, die für spätmoderne Gesellschaften wertvolle Möglichkeiten für emanzipatorisch-demokratische Vergesellschaftung verheißen: So scheinen mit smarten Technologien, deren intuitiver Verständlichkeit und anwendungsfreundlichen Designs diskriminierende lebensweltliche Kategorien überwunden. Zumindest erweist sich die Zugänglichkeit zu virtuellen Welten, die Teilhabe an ihnen, sowie deren Nutzung in Form von Partizipation und kreativer Weiterentwicklung als grundsätzlich unabhängig von sozialer Herkunft, Bildungsstand, Alter, Geschlecht, kultureller, ethnischem oder religiösem Hintergrund. Zudem deutet sich in dem hoch diversifizierten, bunten Angebot an, wie unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse einer heterogenen, perspektivenpluralen Gesellschaft nebeneinander bestehen und eine Eigenlogik entfalten können. Auch im Blick auf den Netzaktivismus, wie er sich in spontaner politischer Mobilisierung gerade zu ökologischen Themen andeutet, lässt vermuten, dass die digitale Öffentlichkeit von den diskursiven Ermüdungserscheinungen der analogen Welt noch nicht heimgesucht wurde.

Es mag vor diesem Hintergrund also nicht verwundern, dass auch politische Agenden, Städteentwicklungspläne, Bildungsinstitutionen und selbst religiöse Institutionen sich zunehmend digital profilieren (wollen), ihre Inhalte und Anliegen digital präsentieren und mit Digitalisierung werben, ja eine viel offenere und fokussierter Entwicklung in Deutschland fordern – nicht nur, um Bürger*innen, Nutzer*innen, Auszubildende oder Gläubige digital zu ermächtigen, sondern auch um beim globalen Vergleich mithalten, international wettbewerbsfähig sein zu können.

Gegen diese Stimmen und Programme, die digitalen Transformationsprozessen kategorisch mit Demokratie und Empowerment gleichsetzen, ja manchmal in allem Digitalen eine Form der Erlösung wahrnehmen, erheben sich wiederum zunehmend solche Stimmen und Positionen, die diesem Prozess äußerst skeptisch gegenüberstehen. Auch wenn man in der digitalen Transformation nicht die Apokalypse sehen muss und die Annahme die regelmäßige Nutzung digitaler Technologien führe notwendig zu einem Ausverkauf der Menschlichkeit, (wahlweise einer Verdummung, Verrohung und Verstummung der Welt) an der Realität vorbeigeht, so ist die Skepsis gegenüber einer rein positivistischen Lesart nicht unbegründet:

Denn sicherlich haben gerade digitale Medien demokratische Potentiale. Fakt ist aber auch, dass die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, d.h. die Aktivierung dieser Potenziale voraussetzungsreicher ist, als zunächst angenommen. So braucht es einerseits lebensweltliches Orientierungswissen, d.h. Kenntnisse im Umgang mit den Technologien, der angemessenen Verarbeitung und Deutung von Informationen, Argumenten, wie auch die Kenntnisse und Einübung von Tugenden respektvoller Diskurskultur. Andererseits hat sich bereits in der Technikkritik sehr deutlich gezeigt, dass jedes Werkzeug – egal ob der Hammer oder das Smartphone – ambivalent ist, d.h. dessen konkrete Nutzung immer auch durch in Gesellschaft und Kultur habitualisierte Wertesysteme und Menschenbilder, aber auch Ideen vorn Fortschritt und Bildungen getragen wird. Verweist man zudem auf die neusten Nutzungszahlen und -Verhalten, so zeigt sich schnell, dass die demokratisch-emanzipatorischen Potentiale durch die für digitale Räume charakteristische Anonymität und Unverbindlichkeit nur schleppend eingeholt werden. Im Gegenteil, die leicht zu ermittelnde Beliebtheit bestimmter Inhalte lässt vielmehr vermuten, dass besonders solche Inhalte und Seiten oder Apps frequentiert werden, die entweder implizit und explizit diskriminierende Menschen-, Rollen- und Weltdeutungen anbieten oder aber durch die spezifisch dahinterstehende Nutzungsoberfläche eine Konsumhaltung auch Menschen gegenüber verstetigen. Nicht zuletzt eröffnen sich in diesem Zusammenhang und unter den Bedingungen kapitalistischer und politischer Interessen auch in der digitalen Welt neue Räume für Manipulation und Vermachtung – bis hin zu einer strategischen Verbreitung und Eingewöhnung anti-demokratischer Ideologien.

Diese Dynamiken prägen dabei nicht nur die Lebenswelt der Gläubigen und markieren die ‚Zeichen der Zeit mit denen Theologien konfrontiert sind. Auch generieren diese Entwicklungen einen neuen Marktplatz, auf dem auch Theologien sich positionieren müssen. Ob dies angemessen passiert indem man sich ebenfalls einen attraktiven Marktstand zimmert und mindestens so laut brüllt, wie die lautesten Marktschreier – oder, ob eine solche Vorgehensweise durch die Anpassung an die Logik des Marktes letztlich zum Ausverkauf der Botschaften führen, sollte dringend bedacht und beantwortet werden. Ein Seitenblick auf den feministischen Diskurs, der seit einigen Jahren zu diesen Themen geführt wird, kann bei der Suche nach solchen Antworten möglicherweise helfen. Zumindest haben feministisch engagierte Frauen, Männer und Dritte ein gutes Gespür für mögliche ambivalente, diskriminierende, anti-emanzipatorische Dynamiken entwickelt und bestehen bereits mit eigenen Projekten in der digitalen Welt.

Die vom Gleichstellungsbüro der Stadt Paderborn ausgerichteten Veranstaltungen zum diesjährigen Weltfrauentag (https://www.paderborn.de/rathaus-service/stadtverwaltung/gleichstellungsstelle/aktuelles/internationaler-frauentag-2020.php) beschäftigen sich mit diesen Themen. Ein Besuch lohnt sich auch deshalb, weil neben der kritisch-differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Fragen dort ebenso kreative Antworten, Angebote und Ideen gesponnen und diskutiert werden, um Freiheit, Gerechtigkeit und Empowerment auch in der digitalen Welt nachhaltig ermöglicht werden.

Dr. Anne Weber ist Kollegiatin im Graduiertenkolleg „Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.  

Alles könnte anders sein!

Gerade lese ich ein Buch von Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Mutig, phantasievoll und bisweilen kühn entwirft er positive Zukunftsszenarien, die auf einer genauen Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichgewichte und ökologischen Herausforderungen beruhen. Gemäß seinem Leitsatz Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen macht er auf die Handlungsspielräume aufmerksam, die jede und jeder von uns in ihren und seinen täglichen Lebensvollzügen hat. Dabei predigt er keinen asketischen Weltverzicht, sondern möchte Lust machen, Neues auszuprobieren, neue Wege zu gehen, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Beispiele konkreten guten Gelingens untermauern seinen Imperativ. 

Ich vermute, dass er Religionen und Theologien nicht unbedingt als seine natürlichen Verbündeten versteht, da sie nicht Gegenstand seiner Reflexionen zu sein scheinen, ihnen vielleicht sogar skeptisch gegenübersteht. Warum ist das so? 

Was sagt es über Religionen und Theologien aus, wenn sie von ihm, einem Sozialpsychologen und Soziologen nicht als vielversprechende Ressource für das Projekt lebensbejahende Zukunft wahrgenommen werden? Dass er auf diesem Auge vielleicht blind ist und die vielen kreativen lebensbejahenden Praktiken religiös motivierter Menschen und entsprechende Elemente theologischer Schriften nicht wahrnimmt? Oder dass Religionen und Theologien sich vielleicht noch nicht gut genug unter diesem Aspekt in der Öffentlichkeit präsentieren? Oder können sie vielleicht den drängenden Fragen der Zeit derzeit nicht inspirierend genug begegnen? Oder kann es auch daran liegen, dass wir Menschen, die Trägerinnen und Träger von Religionen und Theologien und ihre Gestalterinnen und Gestalter, wie so viele anderen Menschen auch, so in unseren Alltagsvollzügen gebunden sind, dass wir kaum Zeit, Muße und Energie verspüren, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln?

Wahrscheinlich ist es von Allem etwas und das ist ausgesprochen schade. Denn es gehört eigentlich zu den natürlichen Kompetenzen von Religionen und Theologien, die Menschen zu ermutigen, über ihr eigenes Interesse hinaus für das Gemeinwohl aller einzustehen. Ihre Quellentexte und erinnerten Persönlichkeiten legen in zu großer Breite und Intensität Zeugnis genau davon ab, um sie zu ignorieren; nämlich davon, wie neue Wege zu wagen, das friedensstiftende und emanzipatorische Potenzial von Religionen wecken kann.

Wir sollten uns diese Geschichten erzählen. Denn nur so bewahren wir sie und antiquiren sie nicht. Geschichten haben, so meine ich, das Potenzial, das, was der Philosoph Günther Anders moralische Fantasie genannt hat, anzuregen. Moralische Phantasie ist für ihn die Fähigkeit, zum einen die Folgen von derzeitig zu beobachteten Fehlentwicklungen empathisch zu antizipieren (und damit versteht er sie als eine Schlüsselkompetenz für existenziell wahrnehmbare Verantwortung) und zum anderen verbindet er mit dem Begriff der moralischen Phantasie die Befähigung, Fäden in eine noch unbekannte, da noch nicht existente, bessere Welt zu spinnen. 

Dort, wo gesellschaftliche Utopien und religiöse eschatologische Vorstellungen von einem guten Ausgang sich kreuzen, können, so meine ich, spannende Synergien entstehen. Warum sollten wir da nicht anfangen zu spinnen?

Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin für Islamische Systematische Theologie/ Kalam am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Religion and Diseases: The Appearance of the Coronavirus

Throughout history religion and diseases could be considered as socially linked phenomena. Diseases, as a disorder that does not affect only the body but also the social and cultural aspects of human life, inevitably, meets the religious in one of its aspects. Religion, as a framework for human life in most of its aspects, must leave its impact, an explanation and an interpretation of what affects a person from illness or diseases. Ethnographic studies have shown this close relationship between religion and disease from the time of the Greeks to the present.

To face sickness and diseases, religion created for itself a remedy: The concept of affliction in religious interpretation which is able to rationalize the chaos of the distribution of punishment and harm and justify the arbitrariness of employing torture and adversity towards a specific goal: testing. Thus, the concept of affliction helps to overcome embarrassment and reach other meanings that are more accommodating to the infected. For instance, Christians considered pain, torment, and diseases a purification tool that elevates people to the level of true heart purity (Scheler, 1946), while Islam, especially in Sufism, have attached great importance to diseases and pain by considering  the pain caused by diseases as an effective tool for achieving spiritual isolation and deep esoteric life. 

Nowadays, with the appearance of the new virus of Coronas, on one hand, as certain studies show,  the nature of the patient’s relationships with himself and with those around him (family, studies, work, sexual relations, etc.) changes and this change goes beyond the societal to find an echo in the spiritual experience of the person. If a person is a believer, there is no doubt that being affected by this virus or being put in a Quarantine zone, could awaken many religious and spiritual questions and everyone is going to try to find answers for these questions. Perhaps one of these questions would be: If God taught us that with every new born child s/he wants to show us that s/he still has hope on us, how could this mass of daily deaths be understood?

On the other hand, the religious institutions did not remain passive. Official or independent bodies have given their position and vision on this virus, to the point where we can speak of „religious representation of Coronas“. In Italy, like many public institutions, some churches have been closed. Such decisions arouse some religious inquiries. In time when a believer is in need to “houses of God”, it became risky to be there. This also could deeply affect the nature of religious practices and give a new shape to individual practices rather than group practices. 

In Lebanon, the Head of the Hajj, Umrah and Visitation Office in the Supreme Islamic Shiite Council announced that it is possible to avoid the religious travels if it is necessary in order to limit the spread of the virus. Here, again, the person finds himself struggling between the reality and the religious duties.Whether the traditional remedy used by religion in facing diseases be also effective in this situation or a new updated one should be created to resist its effects on the spiritual life of humans is one of the struggles waiting for religion by the appearance of Coronavirus knowing that this virus will affect not only the shape of the rituals and practices but also the understanding of what is spiritual and the deeply esoteric.

Nadia Saad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

Zeit der Verantwortung

Der rechtsterroristische Anschlag von Hanau ist ein Attentat auf unsere Art zu leben. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft auf offener Straße um ihr Leben fürchten müssen. Dass dies mittlerweile nicht selten der Fall ist, liegt nicht nur einfach an der Verrohung westeuropäischer Gemeinschaften durch Rechtspopulismus und soziale Segregation. Es liegt auch daran, dass wir verlernt haben, selbst Verantwortung zu übernehmen für die Gesellschaft, in der wir leben bzw. leben wollen. Die Wurzel der öffentlichen Präsenz von Rassismus und konsequenter rassistischer Gewalt liegt nicht zuletzt darin, dass wir noch allzu oft glauben, man könne gegenwärtig eine vom politischen Geschehen weitgehend unbeeindruckte, sorglose Bausparer-Existenz fristen.

Die alltagsliberalistische Weigerung, das Private im Öffentlichen zu verorten, transportiert immer auch das verstecke Verständnis des Staates als einer Fremdinstitution. Es versucht zu  kaschieren, dass die Öffentlichkeit als Schutzraum des Privaten und Bürgerlichen nur so lange existiert, wie wir bereit sind, selbst in diese Öffentlichkeit zu investieren. Hier geht es natürlich nicht nur um finanzielle Investitionen – es geht um Engagement, um eine kritische Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft, in der er lebt. Freiheit heißt eben nicht einfach nur, nicht am Handeln gehindert zu werden; es heißt gleichzeitig auch, etwas tun zu können. Und etwas tun zu können, fordert dazu heraus, diese seine Fähigkeiten zu nutzen. 

Der Kampf gegen organisierten Rechtsterrorismus wird nicht nur auf den höchsten politischen Entscheidungsebenen durch bessere nachrichtendienstliche und polizeiliche Arbeit gewonnen, er wird auch nicht nur durch eine Bildungspolitik gewonnen, die sich ihren Namen erst wieder verdienen müsste. Er wird vor allem da gewonnen, wo Menschen im Alltag mühsame Ortsvereinstreffen und Kommunalwahlen stemmen und wo im Pfarrgemeinderat über Strategien der Integration von Geflüchteten gebrütet wird. Er wird da gewonnen, wo sich im Großen das Publikum im Fußballstadion gegen rassistische Schreihälse wehrt und wo im Kleinen der politischen Konfrontation im Freundeskreis nicht ausgewichen wird. 

Wir müssen neu lernen, uns aus dem Privaten ins Öffentliche aufzumachen, Diskurse zu kultivieren, argumentative Kommunikation über Meinung zu stellen. Nur dann wird es gelingen, menschenverachtende Überzeugungssysteme wirksam zu bekämpfen. Christian Vooren hat auf ZEIT ONLINE gefordert, den Erinnerungskorridor an die Opfer von Hanau nicht sofort routiniert zu schließen. Dieser Forderung wird man eben am besten entsprechen können, wenn wir Routinen durchbrechen und neu Verantwortung übernehmen – für die Gesellschaft, in der wir leben, und damit für diejenigen, die als Teil unserer Gemeinschaft fürchten müssen, selbst Opfer zu werden.

Dr. Aaron Langenfeld ist geschäftsführender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften.

Durch die Blume gesagt: „Liebeserklärung ab 39 Euro“

Das Überreichen eines Blumenstraußes, das letzte Woche in Thüringen noch zum Symbolakt der Verachtung wurde, dürfte heute in vielen Haushalten Gegenteiliges bedeuten: Eine Liebeserklärung – und das bei Fleurop bereits ab 39 Euro laut Website! Der 14. Februar gilt in vielen Ländern als Tag der Liebenden. Über den Ursprung des Valentinstags gibt es unterschiedliche Theorien, von denen jedoch keine als bewiesen gilt. Möglicherweise geht dieser Tag auf Valentin von Terni zurück, der Kranke geheilt und sie so vom Christentum überzeugt habe. Vielleicht war aber auch Valentin von Rom gemeint, der entgegen des kaiserlichen Verbots Paare christlich getraut haben soll. Womöglich handelt es sich sogar um dieselbe Person. Wahrscheinlich ist, dass beide aufgrund o.g. Aktivitäten den Märtyrertod starben. Weitere Erklärungen setzen u.a. bei heidnischen Bräuchen im antiken Rom an, wie etwa der Ehrung der Ehe- und Familiengöttin Juno oder dem Fruchtbarkeitsfest Lupercalia, da beides auf Mitte Februar datiert ist. Auch eine Kombination mehrerer Theorien ist denkbar. Insgesamt bleibt die Causa Valentin ungeklärt, aber wen sollte das im postfaktischen Zeitalter noch stören? Die Geschenkeindustrie jedenfalls nicht. 

Schaufenster und Supermarktregale sind in rosa und rot getaucht, Werbungen versprechen exklusive Valentinstagsangebote und überhaupt scheinen erstaunlich viele Menschen daran interessiert zu sein, dass ja niemand diesen Tag vergisst. Solch eine kollektive Erinnerungshilfe würde ich mir manchmal für Arzttermine und Abgabefristen wünschen. Die Reaktionen auf den Valentinstag sind jedenfalls vielfältiger als sein kommerzielles Farbspektrum: Die einen freuen sich auf ein traditionelles romantisches Abendessen, andere hoffen auf eine Überraschung. Wieder andere sind traurig, weil sie diesen Tag mit niemandem feiern können und bei manchen führt die schamlose Vermarktung von Liebe zu Unbehagen im Rachenraum. Schließlich gibt es noch jene, die sich von einer Diskrepanz zwischen eigenen und Erwartungen anderer an diesen Tag verunsichert fühlen und solche, die sie sich von gesellschaftlichen Konventionen nicht beeindrucken lassen. Egal welche dieser und anderer möglicher Reaktionen eintritt, sie drehen sich letztendlich alle um das Zelebrieren einer Kommerzialisierung des tiefsten zwischenmenschlichen Gefühls, das diese Welt zu bieten hat. Da darf man sich ruhig mal empören. 

Dass das Christkind seit Jahrzehnten amerikanische Erfrischungsgetränke bewirbt, mögen mittlerweile viele stillschweigend hingenommen haben, und auch, dass sich immer mehr Menschen am Reformationstag verkleiden und Kürbisse schnitzen, mag nur noch eine protestantische Schnittmenge stören, aber seit einigen Jahren macht der Kapitalismus nicht einmal mehr vor der Liebe Halt. Ein komplexer, vielschichtiger Begriff, der seit Jahrhunderten interdisziplinär diskutiert wird, findet an diesem Tag Ausdruck in Pralinenschachteln, Blumensträußen, Drogerieartikeln und Erlebnisgutscheinen. Das mag nun sehr pathetisch klingen, aber lassen Sie mich ganz unverblümt fragen: Ist dieser blinde Umgang mit Liebe angesichts der aktuellen Weltlage angemessen? Ich meine nein. Ich meine, es ist Zeit, die Vase voller verwelkter Blüten des Patriarchats beiseite zu stellen und die rosarote Brille abzusetzen. Denn auch wenn die gekaufte Liebeserklärung so praktisch erscheint: Was ist mit Menschen, die ihre Liebe zueinander nicht öffentlich zeigen können, weil sie sich damit zur Zielscheibe verbaler und körperlicher Anfeindungen oder sogar Strafverfolgung machten? Was ist mit Menschen, die ihre Liebe nicht miteinander teilen können, weil Grenzübergänge oder Gefängnismauern sie trennen? Was ist mit Verwitweten, Verlassenen und unglücklich Verliebten? Sie alle und weitere scheinen in dieser Rechnung nicht vorzukommen. 

Nun ist Whataboutism zwar nicht die eleganteste Argumentationsstrategie, aber ich plädiere ja auch nicht für die Abschaffung des Valentinstags, sondern lediglich für eine Erweiterung der Zielgruppe. Angebote einiger Kirchen, die auch Singles, homosexuelle, nichtbinäre und unverheiratete Paare zu Segnungsgottesdiensten anlässlich des Valentinstags einladen, sind ein guter Anfang. Aber auch jenseits von Gotteshäusern und Religionen kann man sich Gedanken machen und aktiv werden. Vielleicht sollte die Herausforderung am Valentinstag nicht (nur) darin bestehen, das beste Geschenk zu machen, sondern (auch) den Menschen mit Liebe zu begegnen, die es am wenigsten erwarten, bei denen es uns am schwersten fällt und bei denen wir nicht die übrigen 321 Tage dieses Jahres Gelegenheit dazu haben. Nicht immer sind die dominierenden Stimmen diejenigen, deren Melodie wir singen sollten. Deshalb ist es umso wichtiger, sorgfältig hinzuhören und selbst den richtigen Ton zu treffen. Und wer könnte besser darin einstimmen als Valentin von Terni oder Valentin von Rom, ob wir ihnen nun den Valentinstag zu verdanken haben oder nicht!

Rebecca Meier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

Ewige Propheten des Untergangs?

Wenn Donald Trump auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos gegen die „ewigen Propheten des Untergangs“ wettert, dann tauchen in meinem inneren Auge sofort biblische Bilder der alttestamentlichen Prophetinnen und Propheten auf. Waren das nicht auch Menschen, die den Völkern die Folgen ihres Handelns vor Augen geführt haben? Zugegeben, sie beriefen sich auf Gott und es ging um andere Themen, aber hat nicht auch Greta Thunberg etwas von diesen Propheten, die zumeist gegen ihr eigenes Wohl und unfreiwillig die Menschen warnen sollten? Es ließen sich noch weitere Ähnlichkeiten finden, mit Sicherheit macht Trump aber auf eine religiöse Dimension aufmerksam. Müssen sich nicht auch die Religionen und Theologien mit dem Klimawandel beschäftigen?

Greta Thunberg hat auf demselben Wirtschaftsgipfel wieder deutlich ausgesprochen, wie drängend der Klimawandel politisches und wirtschaftliches Umdenken und Handeln erfordert. Doch, wie Politiker aus Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerne verschweigen, ist auch auf gesellschaftlicher Ebene eine persönliche Änderung des Konsum- und Mobilitätsverhalten aller Menschen unumgänglich. Doch das ist nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern eine gewaltige kulturelle Aufgabe. Man denke nur daran, wie sehr Fleischkonsum und Sportwagen mit Männlichkeitsidealen verbunden werden oder an das Versprechen der Werbung, dass Konsum doch glücklich macht.

Wie können die Religionen und andere Kulturschaffende dieser kulturellen, gesamtgesellschaftlichen Aufgabe begegnen? Ein erster Schritt könnte ein Austausch sein, der die Anliegen zusammenbringt. Es geht um die Fragen, wie man Menschen bewegt und Brücken zwischen den Generationen, Kulturen und Weltanschauungen schlägt. Wie können Religionen und Künste das Klimabewusstsein befördern? Kann aus ‚Verzicht‘ und ‚Verbot‘ Verschönerung werden? An welchen Stellen können Religions- und Kulturinstitutionen auf sinnvolle Weise die eigene Umweltbilanz verbessern? Warum spiegelt sich in den gegenwärtigen Klimaprotesten nicht die kulturelle Vielfalt unseres Landes wider?

Auf diese Suche nach konkreten kulturellen Handlungsoptionen lädt Bernhard König mit dem Trimum e.V. und dem ZeKK ein zur Zukunftswerkstatt: Musik und Klima vom 14. bis 16. Februar 2020, Universität Paderborn, AstA Stadtcampus (Königstraße 1).

Cordula Heupts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

Die Veranstaltung findet statt in Zusammenarbeit mit der Professur für Eventmanagement mit den Schwerpunkten Populäre Musik, Medien und Sport und dem Institut für Evangelische Theologie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn sowie mit der AG Musik – Szene – Spiel OWL e.V.

Informieren Sie sich weiter auf http://trimum.de/start/aktuelles/musik-und-klima

Anmeldung bitte an Bernhard König, b.koenig@trimum.de

Living with God’s Gifts

Theologians are notorious for taking what appear to be straightforward aspects of religious beliefs and complicating them, showing how religious ideas are counter-intuitive, subversive and queer. I have been thinking about this recently as I was invited to participate in a research proposal submitted by the Faculty of Theology. My contribution to the proposal was to take the form of a discussion on Islamic ideas of gift. 

Living with God’s gifts is difficult. Religious believers are familiar with the idea that humanity should respond to the gifts of God with gratitude. For the Muʿtazilites, an early Islamic theological sect, the realization that one owed an obligation to be grateful was the foundation of all subsequent religious experience. Before we can think about how to properly worship God, we must accept that, starting with our existence, we are all the recipients of undeserved gifts by God and that gratitude to God is therefore necessary.

But the gifts of God also create the possibility of disbelieving in God. For God’s gifts have been bestowed so liberally that their very ubiquity creates the possibility that humanity will consider these gifts as belonging to itself rather than to God, ultimately posturing, as Martin Heidegger said, as lords of the earth. This danger becomes even more real, according to Heidegger, as societies adopt ever more sophisticated forms of technology that allow humans to exploit nature for their own benefit. 

Nature has, of course, traditionally been regarded as one of God’s greatest gift. Yet here again, we find that living with God’s gift is more difficult than it appears at first. For according to most classical Jewish, Christian and Muslim theologians, humanity has only been given the gift of nature on the understanding that it enjoys this gift in accordance with the will of the benefactor – God. God’s gift of nature to humanity thus has the potential to confuse humanity about its own significance and status. The effects of what is now called dominion theology, in which the maximal exploitation of natural resources is considered to be a religiously meritorious way for believers to live, only reminds us of how far the experience of receiving God’s gifts can delude us.

Muslim theologians in the classical period, al-Ghazālī and Ibn al-Qayyim to name but a few, generally spoke of gratitude and patience as related virtues. The experience of being the recipient of God’s gifts did not allow us to be free and to use that gift as we desired. God’s gift of life, for instance, is given as an unsolicited gift. We were never asked if we wanted it and we have been told we cannot return it when we want. To be the recipient of the gifts of God is thus to be under an enduring sense of obligation regarding the use of that gift – precisely the reason philosophers such as Kant and Nietzsche argue that it is contrary to human nobility to be placed in such a state of obligation and constraint. Whether it is ever possible to escape this state of being under obligations and constraints is, of course, a question that we can only answer if we first settle on a common account of what being human is all about. 

Dr. Abdul Rahman Mustafa is Research Associate at the Institute of Islamic Theology in Paderborn.

Über das Fasten

Während der christliche liturgische Kalender orthodoxer und nordafrikanischer Kirchen die Heilige Nacht der Geburt Christi am 6. Januar feiert, den die westliche Kirche als den Tag der Heiligen drei Könige oder der Weisen aus dem Morgenland vollzieht, und alle christlichen Kirchen die weihnachtliche Freude mit der Freude über die Erscheinung Gottes in Jesus Christus in der Epiphaniaszeit fortsetzen, läutet der weltliche Kalender seit einigen Jahren mit Neujahr den Dryuary oder Dry January ein, den „trockenen“ suchtfreien Januar. Seit 2013 wird er in Großbritannien von einer gesundheitspolitischen Initiative Alcohol Change UK gefördert und verbreitet sich seitdem auch auf dem amerikanischen und dem europäischen Kontinent. In der christlichen Religion folgt der weihnachtlichen Fest- und Schlemmerzeit ab Aschermittwoch die Fastenzeit des Gedenkens an das Leiden Christi auf seinem Weg ans Kreuz, die Passionszeit.

Alle großen Religionen kennen Phasen des Fastens, der freiwilligen und zuweilen auch durch Machtstrukturen der Religion erzwungenen Enthaltsamkeit von leiblichen Genüssen der Nahrung und der Sexualität. Fasten dient der Vorbereitung Heiliger Feste und der Vorbereitung von Gottesbegegnungen. Fasten kann Buße und Trauer zum Ausdruck bringen und wird oft mit Klagen und Selbstanklagen verbunden. Individuell und kollektiv wird Fasten in unterschiedlichen Formen praktiziert.

Von mehreren wichtigen biblischen Figuren wie Mose, Elia, Hanna, David, Johannes dem Täufer und Jesus wird überliefert, dass sie gefastet haben. Im Buch des Propheten Jesaja wird herausgestellt, dass aus göttlicher Perspektive Fasten und eine gerechte und soziale Praxis zusammengehören. Den Hungrigen soll Brot gegeben werden, Obdachlosen ein Wohnort, Nackte sollen Kleidung bekommen und Konflikte sollen beendet werden (Jes 58). Wie auch in neutestamentlichen Texten wird deutlich, dass eine gerechte, solidarische und friedliche Praxis einem asketischen Leben vorzuziehen ist. Die Überzeugung, dass Fasten um des Fastens willen ohne eine gerechte und friedliche Praxis Gott missfällt, findet sich in Texten der jüdischen, der christlichen und der islamischen Religion.

In der Christenheit verzichten katholische Gemeindeglieder in den Fastenzeiten des Kirchenjahres traditionell freiwillig auf Fleisch, Fisch, fetthaltige Nahrung, Süßes und Alkohol zu verzichten, während einfache flüssige und feste Nahrung verzehrt wird. Nachdem in europäischen evangelischen Kirchen Fasten im 19. und im 20. Jahrhundert kaum praktiziert wurde, entdecken sie seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Fasten neu. Seit Mitte der achtziger Jahre werden evangelische Christ*innen zur Aktion „Sieben Wochen ohne“ von Aschermittwoch bis zum Ende der Karwoche eingeladen, die jedes Jahr einem anderen Motto gewidmet ist. Schädigende Verhaltensweisen und Gewohnheiten sollen unterlassen werden und stattdessen Gesten der Nächstenliebe und ein schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen praktiziert werden, z.B. ehrlich, freundlich und sozial zu sein: sieben Wochen ohne Scheu, ohne Ausreden, ohne falschen Ehrgeiz, ohne Ausreden, ohne Enge, ohne Sofort oder „mit Zu-Neigung“.

Wenn Menschen in der Nahrungsüberflussgesellschaft freiwillig auf körperliche Genüsse verzichten, lernen sie, wieder Hunger zu erfahren und sich über den sonst selbstverständlichen Genuss an Nahrung zu freuen. Sie geben ihren Organen die Chance, auszuruhen, zu entgiften und mithilfe der körperlichen Selbstheilungskräfte zu regenerieren. Durch die Erfahrung des Verzichts und des darin spürbaren Mangels und der Selbstdisziplin kommen sie denen nahe, die nicht freiwillig, sondern unfreiwillig Not leiden und zu wenig zu essen und zu genießen haben. Sie gewinnen Zeit und Freiräume für Wesentliches. Sie lernen neu, wie elementar „Brot“ Leben ermöglicht und dass zugleich niemand allein vom Brot leben kann. Fasten kann den Körper, die Seele und den Geist reinigen. Während säkular und in den Religionen Fasten bei vielen an Attraktivität gewinnt, wird zugleich öffentliche Kritik am muslimischen Fasten laut.

Die Erinnerung an unterschiedliche Fastentraditionen der Religionen und Kulturen sowie die Erkenntnisse der modernen Medizin über die heilende Wirkung des Fastens könnten das Verständnis und die Akzeptanz muslimischen Fastens erleichtern. Gemeinsame Fastenaktionen und Einladungen in die je eigenen Fastentraditionen können Menschen zusammenbringen, die zuvor wenig miteinander anfangen konnten. Viele muslimische Gruppen laden im Fastenmonat Ramadan dazu ein, gemeinsam mit nicht-muslimischen Menschen das Fastenbrechen zu feiern. Solche Feiern ermöglichen das Kennenlernen und den Aufbau von Vertrauen in einem gesellschaftlichen Klima, in dem viele an Einsamkeit, Angst, Fremdheitserfahrungen, Konkurrenzdruck und Sinnleere ihres Lebens leiden. Im gemeinsamen Fasten und in Feiern des Fastenbrechens kann Schalom, Frieden im umfassenden Sinn wachsen.

Prof. Dr Helga Kuhlmann ist Professorin für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theeologie an der Universität Paderborn.