Back to the roots – Zwischen Sport und Reisemagazin

In den Medien ist oft der Satz zu hören, dass die Pandemie uns als Gesellschaft verändern wird. Persönlich kann ich die Aussage nur bestätigen. Seit Beginn der pandemischen Situation habe ich eine neue Leidenschaft: Todesanzeigen lesen. Sie sind in meiner Tageszeitung jeden Samstag als Beilage zwischen dem Sportteil und dem Reisemagazin zu finden. Durch die starken Kontakteinschränkungen im Frühjahr 2020 waren die Todesanzeigen für mich ein wichtiges Informationsmedium, um Kenntnis von dem Tod von Menschen aus dem Bekanntenkreis oder stadtbekannten Persönlichkeiten zu nehmen. Mittlerweile lese ich nicht nur die Namen in den größeren Anzeigen, sondern betrachte jede noch so kleine Anzeige. Meine Gedanken kreisen um jeden Einzelnen und was von ihnen durch die Anzeige übrigbleibt. „Jede Seele wird den Tod schmecken“ (Sure 21, Vers 156). Mit dem Tod ist das Ende ihres irdischen Daseins markiert und ihre Seele ist zu ihrem Ursprung zurückgekehrt, so wie der Koran es in Sure 2, Vers 156 sagt. 

Längst verabschiedet habe ich mich von dem Gedanken, das Leben der Verstorbenen nach der Verweildauer auf der Erde nach dem Motto „Wer lange gelebt hat, hatte ein gutes Leben“ zu bewerten. In Gedanken hoffe ich, dass sie ein erfülltes Leben hatten. 

Jedes Mal, wenn ich im Freundes- und Bekanntenkreis von meiner Leidenschaft erzähle, nehme ich unterschiedliche Reaktionen darauf wahr, die auch vermutlich symptomatisch für den gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema sind. Ich wurde letztens gefragt, warum ich es mache. Ich antworte: Sie steigern meine Dankbarkeit für das Leben als ein Geschenk und anvertrautes Gut Gottes. Sie verändern meine Perspektive auf meine eigene Endlichkeit. Manchmal führt das Thema auch zu einer Stille und ist wie ein Stimmungskiller. In der Mehrheit der Gesellschaft wird das Thema oft wie etwas Privates, wie ein Tabuthema behandelt und führt zu einer erschrockenen Verschlossenheit und Zurückhaltung. Hängt die Verdrängung des Themas in unserer Gesellschaft damit zusammen, dass in unserer säkularisierten Gesellschaft kein Platz für die Endlichkeit und damit der Begrenztheit der menschlichen Existenz ist? Der Drang nach der Steigerung der Leistungsfähigkeit und Selbstoptimierung lässt eben keinen Platz für die Verletzlichkeit.

In vielen Todesanzeigen lese ich den Satz: „Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt“. Eine Aussage, der viele Muslim*innen mehr als irritiert. Im muslimischen Kontext sind Bestattungen keine Privatangelegenheit der Familie. Sie haben immer einen Öffentlichkeitscharakter, zumal die islamische Jurisprudenz es als Aufgabe der Gemeindemitglieder definiert, ihre Toten zu beerdigen. In meinem Herkunftsland ist es Tradition, auf die Beisetzung eines Verstorbenen mit einem Gebetsruf zwischen den Gebetszeiten über Lautsprecher hinzuweisen und den Ort des Totengebetes und des Friedhofes so bekannt zu geben. Und wenn man sich zufällig in der Nähe aufhält, nimmt man an dem Begräbnis als Erinnerung daran teil, dass ein Mitglied der Menschheitsfamilie seine Reise zu seinem Schöpfer, angetreten hat, back to the roots.

Übrigens findet man Todesanzeigen von verstorbenen Muslim*innen ohne Migrationsgeschichte. Verstorbene mit einer Migrationsgeschichte werden mehrheitlich immer noch in ihre Heimatländer überführt. Wenn eine Bestattung in Deutschland erfolgen soll, legt man Wert auf eine zeitnahe Beisetzung, sodass die Beisetzung schneller erfolgt als das Erscheinen der Todesanzeige. Auch wird die Todesnachricht einer verstorbenen muslimischen Person oft über die sozialen Medien schneller und effektiver verbreitet. Hin und wieder werde ich von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft gefragt, ob an dem Tag X eine bekannte muslimische Persönlichkeit auf dem muslimischen Grabfeld beigesetzt worden sei, da man dort eine große Menschenansammlung gesehen habe. In muslimischen Kontexten spielt die Fürsorge eine große Rolle, sodass Verwandte, Freunde oder Bekannte noch zum Teil wochenlang sich um die Hinterbliebenen kümmern und sie im Alltag unterstützen. 

Phillippe Ariés arbeitet in seinen Büchern historisch auf, dass in früheren Epochen in Europa die Gemeinschaftskomponente im Umgang mit dem Tod durchaus stärker war. Seit dem 20. Jahrhundert wird der Tod nach Ariés als ein notwendiges Übel angesehen, dass man nicht in die Öffentlichkeit trägt. Inwieweit solche Veränderungen auch in muslimischen Gesellschaften stattgefunden haben bzw. Muslim*innen als religiöse Minderheit in Europa von dem Umgang der dominanten Kultur beeinflusst werden, wäre eine empirische Untersuchung wert. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Tod #Islam #privat #Leben

„Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe …!“ (Ps 22,12)

Die Welt ist nun schon fast zwei Jahre fest im Griff des Coronavirus und die Infektionszahlen sind in Deutschland so hoch, wie nie zuvor. Da kann die Bitte in Psalm 22 nur allzugut nachvollzogen werden. Aber wo ist Gott? 

Biblisch wird die Nähe Gottes oft mit der heilenden Zuwendung zum Menschen verbunden (z.B. Gen 28,15). Die Abwesenheit und Distanz Gottes hingegen wird als schmerzhaft wahrgenommen und verspricht Unheil (z.B. Ri 6,13). Dabei ist den Menschen in biblischen Zeiten bewusst, dass Gott in seiner Präsenz immer unbegreifbar bleibt. Er ist zu herrlich, um vom Menschen gesehen zu werden (z.B. Ex 33,18). Die Geheimnishaftigkeit Gottes bleibt durch sein Erscheinen in Feuer und Wolken gewahrt (Ex 24,16-18).

Häufiger noch als durch sichtbare Nähe teilt sich Gott durch sein Wort mit. Gott spricht zu den Erzeltern, Prophet*innen sowie zum Volk Israel. Doch rufen Gottes Wort und sein Erscheinen nicht nur Freude hervor, sondern auch Niederwerfung und Verhüllung (z.B. Ex 3,6). Die Nähe Gottes kann sogar als quälend empfunden werden, wie Hiob seine Erfahrung in großem Leid schildert: „Lass ab von mir, damit ich ein wenig heiter blicken kann.“ (Ijob 10,20) 

Christlich gesehen wird der Logos Gottes, seine Nähe, in seiner Menschwerdung in Jesus Christus erfahren. In ihm ist Gott in die Welt gekommen, um ihr Trost, Vergebung und Erlösung zu schenken. Doch auch die Jüngerinnen und Jünger müssen nach Jesu Tod durch den Engel erfahren: „Er ist nicht hier, […]“ (Mt 28,6). Schon das irdische Leben Jesu war voll von Abschieden (z.B. Joh 14-16). Auch wenn Jesus Christus auferstanden ist und sein bzw. Gottes Geist bei uns bleibt (1 Joh 4,13), so gehört doch die Erfahrung des „Er ist nicht hier“ zur Ostererfahrung hinzu.[1] In der Erzählung über die Emmausjünger zeigt sich eine Dialektik des Erscheinens Jesu im Verschwinden, des Geschenktwerdens in der Ungreifbarkeit.[2]

Aus dem Dialog mit Muslimen heraus fällt mir zur Nähe Gottes nicht nur die berühmte Zeile im Koran ein, dass Gott dem Menschen näher ist als seine Halsschlagader (Q 50:16). In Sure 93 findet sich die Zusage Gottes: „Dein Erhalter hat dich nicht verlassen…“. Dies kann als Antwort auf die Frage des Beters in Psalm 22 verstanden werden,[3] mit der der Psalm beginnt und den Jesus nach dem Markusevangelium am Kreuz gesprochen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 

Die Unbegreifbarkeit und Geheimnishaftigkeit gehören wohl in allen drei abrahamischen Religionen zur Größe und Herrlichkeit Gottes. Was wir dadurch gewinnen ist die Freiheit des Vertrauens, des Zweifels und der Liebe. Doch die Liebe und Nähe unserer Mitmenschen, in der wir christlich gesprochen durch Jesus Christus auch Gott begegnen können (Mt 25,35-40), fehlt in diesen Zeiten der Pandemie besonders. Hoffen wir, dass sich dies im Laufe des Jahres 2022 wieder ändert.


[1] Vgl. F. Meures, „Er ist nicht hier“. Osterglaube als Teilhabe an der Gottesferne. In: Herder Korrespondenz Spezial 1 (2014), 61-64, 62.

[2] Vgl. H. U. v. Balthasar, Die Abwesenheiten Jesu, in: Geist und Leben 44 (1971), 329–335, hier 335.

[3] Vgl. Zohar Handromi-Allouche, „My God? Your Lord!” A Qur´ānic Response to a Biblical Question, in: JIQSA 3 (2018): 79-110.

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

#Gott #Covid #Psalm 22 #Religionen

Eine talmudische Weisheit über Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Tod

In wenigen Tagen wird das jüdische „Neujahrsfest der Bäume“, Tu bischwat, (17.01.22) gefeiert. Seine mystische Tradition reicht bis ins Mittelalter zurück. Tu bischwat feiert den ersten Austrieb der Früchte der Bäume und zeigt einen kleinen Vorgeschmack auf das Ende des Winters. 

Der Baum ist eine Inspirationsquelle für viele Kulturen, er kann Kontinuität und Verwurzelung, Fruchtbarkeit, die Verbindung mit der Unterwelt, mit der Gegenwart und mit den göttlichen himmlischen Welten darstellen. Bei verschiedenen Völkern hat der Baum eine fast spirituelle Ähnlichkeit mit dem Menschen, er wird vergöttert und respektiert. Ihm werden magische und prophetische Eigenschaften zugeschrieben. Die biblische Tradition betrachtet den Baum als Rätsel und Spender von Früchten, die Wissen wecken (Genesis 2), sie personifiziert und politisiert den Baum (in der Fabel von Iotam, Richter 9), behandelt ihn als Belohnung und begehrtes Gut (in der Prophezeiung von Hoshea 14), bis hin zur ausgefeiltesten und wertvollsten Form innerhalb der jüdischen Tradition: der Betrachtung der Thora selbst als Baum des Lebens (Sprüche 3). 

In einer Erzählung aus dem babylonischen Talmud (Taanit 23a) schwingen zwei überraschend zeitgenössische Bedeutungen des Baumes und der Natur insgesamt mit, zu denen sich ein Appell gesellt, der sinnvollerweise aktuell ist. Hier in zusammengefasster Form:

Honi HaMe´aggel soll ein Weiser gewesen sein, der die Fähigkeit besaß, Regen fallen zu lassen, indem er sich auf einen Kreis (haMaagal) stellte und betete, dass in Zeiten der Dürre der Regen kommen möge. Eines Tages ging Honi die Straße entlang, als er einen Mann sah, der einen Johannisbrotbaum pflanzte.

„Da fragte er ihn: Nach wie vielen Jahren trägt er? Jener erwiderte: Nach siebzig Jahren. Dieser fragte weiter: Bist du überzeugt davon, daß du noch siebzig Jahre leben wirst? Jener erwiderte: Ich habe Johannesbrotbäume auf der Welt vorgefunden; wie meine für mich pflanzten, ebenso will ich für meine Nachkommen pflanzen. Hierauf setzte er sich, aß sein Brot, worauf der in den Schlaf fiel.“ (b.Taanit 23a) 

Eine Felsenwand bildete sich um ihn, sodass er für niemanden sichtbar war und schlief siebzig Jahre lang. Als Honi erwachte, sah er einen Mann, der Johannisbrot von diesem Baum pflückte. Ḥoni fragte: Bist du derjenige, der diesen Baum gepflanzt hat? Der Mann antwortete ihm: Ich bin der Sohn seines Sohnes. 

Darauf ging Ḥoni nach Hause und fragte die Mitglieder des Hauses: Ist der Sohn von Ḥoni HaMe’aggel am Leben? Sie sagten zu ihm: Sein Sohn ist nicht mehr bei uns, aber der Sohn seines Sohnes lebt noch. Er sagte zu ihnen: Ich bin Ḥoni HaMe’aggel. Sie glaubten ihm nicht. Er ging in das Lehrhaus, wo er die Jünger über einen Gelehrten sagen hörte: Seine Halachot (Gesetze) sind so erhellend und so klar wie in den Jahren von Ḥoni HaMe’aggel. 

Ḥoni sagte zu ihnen: Ich bin es, aber sie glaubten ihm nicht und zollten ihm nicht den gebührenden Respekt. Ḥoni wurde sehr wütend, betete um Gnade und starb. Rava sagte: Dies erklärt die Volksweisheit, die die Menschen erzählen: (oChevruta o Mituta) Entweder Freundschaft oder Tod. 

Neben der Botschaft der Nachhaltigkeit und der Rücksichtnahme auf die Natur für unsere nächsten Generationen, die die Geschichte bietet, stellen wir fest, dass der Talmud (und die jüdische Tradition im Allgemeinen) Einsamkeit, Askese und alternative Formen zu der Gemeinschaft und des sozialen Lebens bekämpft. Im aramäischen Original klingt „o Chevruta o Mituta“ am stärksten nach. 

Wir erleben gerade paradoxale Zeiten, in denen „Chevruta“ (Gesellschaft) zu „Mituta“ (Tod) oder Krankheit führen kann und das Alleinsein zum Leben. Die Herausforderung ist nun, den Gegensatz zu durchbrechen, den Honis Geschichte darstellt und nach Mittelwegen zwischen den beiden Extremen zu suchen. Es ist meine Hoffnung, dass uns allen dies gelingt.

Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.

#Feiertage #Natur #Baum #Nachhaltigkeit #Talmud #Covid #Gesellschaft #Verantwortung

Is God a Capricorn?

It recently dawned on me that God and I were really quite similar. You might think this claim warrants admission to a psychiatric ward for a suspected diagnosis of narcissistic personality disorder. But consider this: the son of God and I are both capricorns. Does this explain why all capricorns often feel like they are carrying the burdens of others? Of course, as a Muslim, I did also wonder if I might share a star sign with Muhmmad and what that might mean. Sadly, the Prophet (birthday 29 August 570, apparently) was a virgo. Still, I have the solace of knowing that the Prophet and I would be very compatible as spouses. These thoughts were sparked by a chance social encounter with a witch who, despite having never met me and only speaking to me for about twenty minutes, accurately informed me of my astrological and ascendant signs. How exactly does astrology fit into the worlds of religious dogma, new age mysticism, pseudo-science and hard science? 

Scholars of religion might scoff at calling Jesus a Capricorn, or Muhammad a virgo. The actual birth dates of these figures are shrouded in obscurity. There are lively controversies in both Christianity and Islam over the real birthdates of their central figures. Many religious believers also dismiss astrology as frivolous, or even worse, as a form of playing at (false) religion. Some sayings of the Prophet also condemn consulting astrologers, fortunetellers and necromancers. Nevertheless, the Islamic tradition is rich with scholars, rulers and ordinary believers investing considerable energies in attempting to learn the secrets of the cosmos by observing patterns in the movement of celestial bodies.   

Some contemporary practitioners of astrology also profess atheism and look down at traditional religion with contempt. Yet the conviction that the movement of the planets and the stars influences the course of human lives seems to assume a universe that has an organized, if not providential, structure. If my day, month or year is going to be influenced by the position of the moon or sun in their orbits, this would suggest that the universe is not a random arrangement of disconnected matter. Rather, there is an order, and indeed a non-material connection, between everything that exists. This is also what traditional religions have been saying for millennia. 

Scientists might consider themselves above the fray in these disputes. But the boundaries between science and pseudo-science are themselves shifting in light of advances in our understanding. What were once regarded as scientific impossibilities, such as the idea that a particle could act as both a particle and a wave at the same time, are now accepted as scientific truth. Because science is always concerned with undermining its own certainties, it is scientifically impossible to rule out that what is now regarded as pseudo-science, for instance Rupert Sheldrake’s notion of morphic resonance, the idea that there is an extrasensory connection between organisms, might one day be accepted as basic scientific knowledge. 

If you are someone who does new year’s resolutions (I don’t see the point myself), consider being more open to things that are dismissed as patently ridiculous, whether by religious believers, scientists or witches. Being open to what is dismissed as absurd is a great way to learn.

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#astrology #science #open-minded