„Sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe …!“ (Ps 22,12)

Die Welt ist nun schon fast zwei Jahre fest im Griff des Coronavirus und die Infektionszahlen sind in Deutschland so hoch, wie nie zuvor. Da kann die Bitte in Psalm 22 nur allzugut nachvollzogen werden. Aber wo ist Gott? 

Biblisch wird die Nähe Gottes oft mit der heilenden Zuwendung zum Menschen verbunden (z.B. Gen 28,15). Die Abwesenheit und Distanz Gottes hingegen wird als schmerzhaft wahrgenommen und verspricht Unheil (z.B. Ri 6,13). Dabei ist den Menschen in biblischen Zeiten bewusst, dass Gott in seiner Präsenz immer unbegreifbar bleibt. Er ist zu herrlich, um vom Menschen gesehen zu werden (z.B. Ex 33,18). Die Geheimnishaftigkeit Gottes bleibt durch sein Erscheinen in Feuer und Wolken gewahrt (Ex 24,16-18).

Häufiger noch als durch sichtbare Nähe teilt sich Gott durch sein Wort mit. Gott spricht zu den Erzeltern, Prophet*innen sowie zum Volk Israel. Doch rufen Gottes Wort und sein Erscheinen nicht nur Freude hervor, sondern auch Niederwerfung und Verhüllung (z.B. Ex 3,6). Die Nähe Gottes kann sogar als quälend empfunden werden, wie Hiob seine Erfahrung in großem Leid schildert: „Lass ab von mir, damit ich ein wenig heiter blicken kann.“ (Ijob 10,20) 

Christlich gesehen wird der Logos Gottes, seine Nähe, in seiner Menschwerdung in Jesus Christus erfahren. In ihm ist Gott in die Welt gekommen, um ihr Trost, Vergebung und Erlösung zu schenken. Doch auch die Jüngerinnen und Jünger müssen nach Jesu Tod durch den Engel erfahren: „Er ist nicht hier, […]“ (Mt 28,6). Schon das irdische Leben Jesu war voll von Abschieden (z.B. Joh 14-16). Auch wenn Jesus Christus auferstanden ist und sein bzw. Gottes Geist bei uns bleibt (1 Joh 4,13), so gehört doch die Erfahrung des „Er ist nicht hier“ zur Ostererfahrung hinzu.[1] In der Erzählung über die Emmausjünger zeigt sich eine Dialektik des Erscheinens Jesu im Verschwinden, des Geschenktwerdens in der Ungreifbarkeit.[2]

Aus dem Dialog mit Muslimen heraus fällt mir zur Nähe Gottes nicht nur die berühmte Zeile im Koran ein, dass Gott dem Menschen näher ist als seine Halsschlagader (Q 50:16). In Sure 93 findet sich die Zusage Gottes: „Dein Erhalter hat dich nicht verlassen…“. Dies kann als Antwort auf die Frage des Beters in Psalm 22 verstanden werden,[3] mit der der Psalm beginnt und den Jesus nach dem Markusevangelium am Kreuz gesprochen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ 

Die Unbegreifbarkeit und Geheimnishaftigkeit gehören wohl in allen drei abrahamischen Religionen zur Größe und Herrlichkeit Gottes. Was wir dadurch gewinnen ist die Freiheit des Vertrauens, des Zweifels und der Liebe. Doch die Liebe und Nähe unserer Mitmenschen, in der wir christlich gesprochen durch Jesus Christus auch Gott begegnen können (Mt 25,35-40), fehlt in diesen Zeiten der Pandemie besonders. Hoffen wir, dass sich dies im Laufe des Jahres 2022 wieder ändert.


[1] Vgl. F. Meures, „Er ist nicht hier“. Osterglaube als Teilhabe an der Gottesferne. In: Herder Korrespondenz Spezial 1 (2014), 61-64, 62.

[2] Vgl. H. U. v. Balthasar, Die Abwesenheiten Jesu, in: Geist und Leben 44 (1971), 329–335, hier 335.

[3] Vgl. Zohar Handromi-Allouche, „My God? Your Lord!” A Qur´ānic Response to a Biblical Question, in: JIQSA 3 (2018): 79-110.

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

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