Nach langen Verhandlungen haben sich Bund und Länder auf das so genannte Startchancen-Programm geeinigt: 20 Milliarden in 10 Jahren für 4.000 Schulen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) spart nicht mit Superlativen: „Das größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.“ Wird die Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft ab dem Schuljahr 2024/2025 der Vergangenheit angehören? Über (verpasste) Chancen und neue Möglichkeiten.
Pia Hartmer (Von Studierenden für Studierende)
In Deutschland hängt der Bildungserfolg stark vom Bildungsniveau und der sozialen Herkunft der Eltern ab. Das hat zuletzt der OECD-Bildungsbericht bestätigt. „Denn zusammen mit Tschechien ist die Bundesrepublik das einzige Land in der OECD, in dem in den vergangenen Jahren der Anteil der jungen Menschen gestiegen ist, die weder einen Berufsabschluss noch die Hochschulreife haben. 16 Prozent derjenigen zwischen 25 und 34 Jahren sind damit nach ihrer Bildungskarriere für den Arbeitsmarkt im Grunde kaum noch vermittelbar – ein dramatischer Wert“, kommentiert Armin Himmelrath am 12.09.2023 im Deutschlandfunk die Misere (https://www.deutschlandfunk.de/oecd-bildungsbericht-schulabschluss-bildungsgerechtigkeit-100.html). Für diese 16 Prozent der jungen Erwachsenen hat das deutsche Bildungssystem versagt. Ebenso erschreckend war das Abschneiden Deutschlands beim Grundschultest IGLU oder zuletzt bei der PISA-Studie. Die Probleme sind bekannt und immer wieder wird der Anspruch erhoben, endlich Bildungsgerechtigkeit zu schaffen.
Wie soll das Programm „Startchancen“ diese anhaltende Bildungsmisere beheben? Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung 2021 wurden bereits Rahmen und Ziele vereinbart: „Mit dem neuen Programm ‚Startchancen‘ wollen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen. Wir werden mehr als 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler besonders stärken. Dazu wollen wir diese Schulen mit einem Investitionsprogramm für moderne, klimagerechte, barrierefreie Schulen mit einer zeitgemäßen Lernumgebung und Kreativlaboren unterstützen. Wir stellen diesen Schulen ein Chancenbudget zur freien Verfügung, um Schule, Unterricht und Lernangebote weiterzuentwickeln und außerschulische Kooperationen zu fördern. Wir unterstützen diese Schulen dauerhaft mit Stellen für schulische Sozialarbeit und fördern dort Schulentwicklung und Berufsorientierung im Rahmen weiterer Programme. Über dieses Programm hinaus werden wir weitere bis zu 4.000 Schulen in benachteiligten Regionen und Quartieren gezielt und dauerhaft mit zusätzlichen Stellen für schulische Sozialarbeit unterstützen. An Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die einen Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben, wollen wir dauerhaft und unbürokratisch Angebote für Lernförderung und soziokulturelle Teilhabe etablieren, um sicherzustellen, dass die Inanspruchnahme dieser Leistungen steigt“ (Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der sozialdemokratischen Partei Deutschlands [SPD], Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten [FDP]).
Dann passierte lange nichts. Erst im Sommer 2023 hieß es, die Verhandlungen zwischen Bund (BMBF) und Ländern (vertreten durch die Kultusministerkonferenz – KMK) seien völlig festgefahren, es werde vor allem ums Geld gestritten, berichtet der Spiegel in der Retrospektive über die Verhandlungen (https://www.spiegel.de/panorama/bildung/startchancen-bildungsprogramm-20-milliarden-euro-fuer-prestigeprojekt-der-ampel-a-466be18b-0b73-4b88-b3fd-170a403791fd). Wer gibt wie viel und wie wird es verteilt?
Im Herbst dann der Durchbruch. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz am 21. September 2023 (https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/2023/09/230921-startchancen.html) stellte die Verhandlungsgruppe die drei Grundfeiler vor:
- Säule I: Investitionsprogramm für eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung (hochwertige Ausstattung und moderne Infrastruktur)
- Säule II: Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung (kann von den Schulen relativ frei verwendet werden)
- Säule III: Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams (Sozialpädagog:innen und Schulsozialarbeiter:innen, keine weiteren Lehrkräfte)
Am 2. Februar 2024 haben sich Bund und Länder in der KMK endgültig auf das Programm geeinigt und es kann im nächsten Schuljahr starten. Neu ist, dass die Mittel nicht nach dem Königsteiner Schlüssel, also mit der Gießkanne, verteilt werden, sondern die Zuweisung nach Bedürftigkeit erfolgen soll (https://www.deutschlandfunk.de/bund-und-laender-beschliessen-milliarden-foerderung-fuer-schulen-104.html).
„Es ist gelungen, dass ein Teil der Gelder nach Sozialindex verteilt wird. Das ist im Vergleich zur Vergangenheit ein echter Durchbruch. Endlich kann ein Teil der Gelder zielgerichtet dort eingesetzt werden, wo er am meisten benötigt wird: in armen Stadtvierteln und Regionen. Das Startchancen-Programm erreicht aber nur rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler. Gut 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind jedoch arm beziehungsweise armutsgefährdet“, kritisiert Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Spiegel Online noch am gleichen Tag (https://www.spiegel.de/panorama/bildung/startchancen-programm-fuer-schulen-reaktionen-von-durchbruch-und-tropfen-auf-den-heissen-stein-a-7fb8943e-13db-4ac6-b733-f14b67af24e7).
Sozialindizes müssen in einigen Bundesländern erst entwickelt werden, in anderen gibt es sie bereits (vgl. Weishaupt, H. (2016): Sozialindex – Ein Instrument zur Gestaltung fairer Vergleiche: Einführung. In B. Groot-Wilken, K. Isaac, J.-P. Schräpler (Hrsg.): Sozialindices für Schulen: Hintergründe, Methoden und Anwendung (S. 13-26). Münster: Waxmann). In Hamburg werden sie seit den 1990er Jahren zur Mittelverteilung herangezogen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird die „soziale Zusammensetzung“ ermittelt. Neben Faktoren wie dem Sozialhilfeanteil im Einzugsgebiet wird, wie in Hamburg, auch der Anteil der Schüler:innen mit den Förderschwerpunkten Lernen und emotionale und soziale Entwicklung berücksichtigt (https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/schulsozialindex_schulliste_2024_2025.pdfhttps://www.schulministerium.nrw/schulsozialindex).
Denn, so Cloerkes (2007, Soziologie der Behinderten. Eine Einführung (3. Auflage). Heidelberg: Winter), mit abnehmender Schichtzugehörigkeit bzw. zunehmender Armut steigt das Risiko, behindert zu werden.
Nordrhein-Westfalen erhält in den zehn Jahren rund 2,3 Milliarden Euro vom Bund und gibt seinerseits die gleiche Summe hinzu. Damit soll „die gezielte Unterstützung von landesweit mehr als 900 Schulen in herausfordernder Lage [erfolgen]. Der Fokus liegt dabei auf der Primarstufe, für die 60 Prozent der Förderung vorgesehen sind. Mit den verbleibenden 40 Prozent werden weiterführende Schulen und die Ausbildungsvorbereitung in den Berufskollegs gefördert“, heißt es in der Pressemitteilung des Schulministerium (https://www.schulministerium.nrw/presse/pressemitteilungen/bildungschancen-foerdern-basiskompetenzen-staerken-startchancen-programm).
In einem Kommentar in Zeit Online schreibt Eser Aktay: „Doch das zentrale Problem des Bildungssystems geht es nicht an: den Mangel an Lehrkräften. Denn die darf der Bund zum einen nicht finanzieren, das ist Ländersache. Und zum anderen könnten eben auch Milliarden die dringend nötigen Fachkräfte nicht herbeizaubern. Das Startchancen-Programm bleibt für dieses Problem die Lösung schuldig“ (https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2024-02/startchancen-programm-bildungsgerechtigkeit-schule-kritik).
„Bund und Länder veröffentlichen 2027, 2030 und 2032 sowie abschließend nach Abrechnung aller geförderten Investitionsmaßnahmen gemeinsam einen zusammenfassenden Fortschrittsbericht zum Startchancen-Programm“, heißt es in dem gemeinsamen Entwurf (https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2024/blv-startchancen.pdf?__blob=publicationFile&v=1).
Wir werden sehen, ob sich die Ziele erreichen lassen.