Der ADHS Golem – wie Essentialismus unser Denken beeinflusst

Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität – das sind die drei Hauptsymptome von ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Auch ohne tatsächliche Lehrerfahrung zeichnet sich in unseren Gedanken ein Bild eines Kindes mit ADHS ab, das mit bestimmten Emotionen behaftet ist und mit einem Bewusstsein über die damit zusammenhängenden Herausforderungen für den Unterricht in der Primar- sowie Sekundarstufe einhergeht.

Doch woraus resultiert diese Erwartungshaltung und wie können wir sie aktiv beeinflussen? Das erklärt uns eine aktuelle Studie von Timo Hennig, Klaus Michael Reininger, Marie-Luise Schütt, Jörg Doll und Gabi Ricken (2023): Essentialist beliefs about attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD): an empirical study with preservice teachers. Emotional and Behavioural Difficulties, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13632752.2023.2199480).

Emilia Nottbeck (Von Studierenden für Studierende)

ADHS kommt laut Hennig et al. (2023) mit einer Prävalenzrate von 5-7% häufig bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten vor. Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass man, bevor man den Lehrberuf aufnimmt, schon Erfahrungen mit Kindern oder Jugendlichen mit ADHS gemacht hat. Wessen man sich aber nicht bewusst ist: ADHS ist oft mit essentialistischen Annahmen in der Gesellschaft verknüpft, nämlich dass Menschen mit ADHS grundlegend anders sind als Menschen ohne ADHS, und zwar im negativen Sinne.

Umso wichtiger scheint es zu erkennen, welche Annahmen Lehramtsstudierende über Kinder mit ADHS haben und wie diese Annahmen in ihrem späteren Berufsleben ihre Erwartungen prägen und beeinflussen könnten. Negative Erwartungen seitens der Lehrer:innen an die Schüler:innen können den akademischen Fortschritt von Kindern erheblich behindern. Dies bezeichnen die Forscher:innen auch als Golem Effekt (Babad E.Y., Rosenthal R. & Inbar J. (1982): Pygmalion, Galatea, and the Golem: Investigations of Biased and Unbiased Teachers. Journal of Educational Psychology74 (4): 459–474, https://doi.org/10.1037/0022-0663.74.4.459; Rosenthal R. & Jacobson L. (1968): Pygmalion in the Classroom: Teacher Expectation and pupils’ Intellectual Development. New York: Holt, Rinehart & Winston,https://gwern.net/doc/statistics/bias/1968-rosenthal-pygmalionintheclassroom.pdf).  

Dem Golem Effekt zufolge könnte auch eine mit den besten Intentionen ausgestellte ADHS-Diagnose unter Umständen zu der sogenannten selbst-erfüllenden Prophezeiungen (Merton, R. K. (1948): The Self-Fulfilling Prophecy. The Antioch Review 8 (2): 193–210, https://doi.org/10.2307/4609267) führen, denn Lehrer:innen gehen von ungünstigen Entwicklungen für Kinder mit ADHS aus, welche sich dann auch entsprechend diesen Erwartungen erfüllen.

Um diesen negativen Erwartungen entgegenzuwirken, muss man allerdings wissen, welche bewussten oder unbewussten Überzeugungen man in Bezug auf ADHS und dessen Ausprägung bei Kindern und Jugendlichen hat. Dazu hat eine Forscher:innengruppe um Timo Henning, Professor für Psychologie an der Universität Potsdam, erste Ergebnisse einer online Studie veröffentlicht, in der 213 Lehramtsstudierende im Alter von 18-50 Jahren in zwei Gruppen unterteilt wurden und zunächst angeben sollten, in wie fern sie Aussagen über essentialistische Annahmen (z.B. Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen Menschen mit bzw. ohne ADHS) auf einer Skala von 1-6 zustimmen oder nicht. Daraufhin sollten sie Aussagen mit affektiven Reaktionen sowie prognostischen Aussagen über die akademische Entwicklung der Kinder mit ADHS bewerten und zuletzt ihre bisherigen Erfahrungen mit Kindern mit ADHS angeben.

Ergebnisse zeigen, dass gerade die Teilnehmer:innen, die über Vorerfahrung mit Kindern mit ADHS verfügen, von essentialistischen Überzeugungen geprägt sind, die sich wiederum mit den untersuchten negativen Erwartungen verknüpfen lassen. So gehen sie bei zugrundeliegender Annahme der Andersartigkeit davon aus, dass Kinder mit ADHS von ihren Peers ausgeschlossen werden. Der Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft einer Klasse hat wiederum Mobbing zur Folge, welches sich erwiesenermaßen negativ auf die Entwicklung eines Kindes mit ADHS auswirkt.

Angehende Lehrer:innen sollten sich über ihre Annahmen im Klaren sein und damit verbundene mögliche Auswirkungen negativer Überzeugungen im essentialistischen Sinne erkennen. Metaphorisch gesprochen hat der ADHS Golem, so Hennig et al. (2023) das Potential einen großen Schaden anzurichten, wenn man nicht weiß, wie man ihn begrenzt und in Zaum hält. Dieses Wissen sollte schon in der Lehramtsausbildung berücksichtigt werden, um angehende Lehrer:innen bestmöglich zu schulen, positive Erwartungen gegenüber Kindern mit ADHS zu entwickeln und diesen Kindern somit größtmögliche Unterstützung zu bieten.