Viele Student*innen leben in sogenannten Wohngemeinschaften, zusammen mit anderen teilen sie sich eine Wohnung. Jeder hat sein eigenes Zimmer, seinen eigenen Bereich, einen Rückzugsort. Im Normalfall trifft ein*e Student*n viele verschiedene Mitmenschen an einem Tag, sie oder er besucht die Uni, Vorlesungen und Seminare, geht im Anschluss mit den Kommiliton*innen in die Mensa oder einen Kaffee trinken. Am Nachmittag oder Abend trifft sie oder er sich mit Freund*innen, geht einem Nebenjob nach oder in einer Diskothek feiern. Nun ist alles anders. Viele der zuvor genannten Tätigkeiten fallen einfach aus, sie finden nicht mehr statt. Nun wirkt das WG-Zimmer vielleicht gar nicht mehr so groß und der eigene Rückzugsort in der Wohnung viel zu beengt. Viele Student*innen entscheiden sich nun, wenn sie die Chance dazu haben, zurück in ihre Heimat zu ihren Familien zu reisen und dort die Zeit bis zum Ende dieser Krise zu überbrücken. Na klar, ein großes Haus, eventuell ein großer Garten und der Kontakt zur eigenen Familie machen zurzeit einiges erträglicher, da ist es nur verständlich dies auch auszunutzen, schließlich lässt es sich ja auch ganz bequem von überall studieren.
Nun stell Dir mal vor, Du hättest keine Ausweichmöglichkeiten. Du würdest in einem Plattenbaugebiet, in einer Großstadt leben. Hochhaus an Hochhaus gereiht und Dein Spielplatz, auf den Du sonst gelegentlich zum Spielen gegangen bist, hat nun auch geschlossen. Die Wohnung Deiner Familie hat ca. 60 m2, hier wohnt ihr zu sechst. Deine Eltern und Deine drei Geschwister. Ihr teilt euch ein Zimmer. Einen Garten gibt es keinen, nur das Kinderhaus „Bolle“, in das ihr jeden Tag zum Spielen, Freunde treffen und Hausaufgaben machen geht. Nur leider hat auch dieses zurzeit der Corona-Pandemie geschlossen, sodass euch nur das Ausharren in der kleinen Wohnung bleibt.
Leiter des Kinderhauses „Bolle“ in Berlin Marzahn ist Eckhard Baumann. In einer Reportage des ZDF heute-journal vom 01.04.2020 berichtet er: „Wirkliche Problemfamilien können nun nicht mehr erreicht werden“ (ZDF heute-journal, 2020, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-1-april-2020-100.html). Die Mitarbeiter der Einrichtung versuchen den Kontakt zu den Kindern, die sonst die Einrichtung besuchen zu halten. Doch die ohnehin schon so dünne Hilfsschnur droht zu reißen. Eckhard Baumann befürchtet eine drastische Verschlechterung der Zustände in den Familien, dessen Kinder die Einrichtung sonst besuchen. Viele Kinder haben nun keinen Zufluchtsort mehr und sind Gewalt, Missbrauch und seelischem Schmerz hilflos ausgeliefert.
Diese prekäre Situation führt dazu, dass es viele Kinder und Jugendliche schlichtweg nicht mehr zuhause aushalten. Sie ergreifen die Flucht auf die Straße.
Isabel Hausmann (Von Studierenden für Studierende)
Der Straßenkinder e.V. (https://strassenkinder-ev.de/), zu dem auch das Kinderhaus „Bolle“ gehört, meldet aktuell besonders viele Mädchen, die aus ihren Familien oder ihrer vorherigen Wohnsituation fliehen (Vgl. ZDF heute-journal, 2020, https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-1-april-2020-100.html). Die Streetworker um Eckhard Baumann sind besorgt, über den rasanten Anstieg der Fälle fehlt ihnen jegliche Kontrolle, denn gerade die Versorgung, der auf der Straße lebenden Kindern und Jugendlichen, stellt eine enorme Herausforderung dar (vgl. Graen, 2020, https://www.stern.de/familie/strassenkinder-in-der-corona-krise—sie-finden-nicht-mal-mehr-toiletten–9207844.html).
Des Weiteren gibt es für die Arbeit der Streetworker strikte Hygieneauflagen, wie die Abstandsregelung von drei bis vier Metern bei der Essensausgabe oder die vollständige Schließung von Einrichtungen. Doch betrachtet man die Situation realistisch, interessiert es die wenigsten auf der Straße lebenden Kinder und Jugendlichen, ob sie sich mit dem Coronavirus anstecken, wenn sie zurzeit auf der Straße nicht einmal eine Toilette finden. Die Realität ist also weitaus härter, das Virus ist im Leben der Kinder und Jugendlichen, die Eckhard Baumann und sein Team zu unterstützen versuchen, das kleinste Problem. Auch das Loch im Bauch oder die Abhängigkeit von Drogen setzt während einer weltweiten Pandemie nicht aus. Die Geldbeschaffung ist erschwert, viele Menschen meiden öffentliche Orte oder sie sind ohnehin geschlossen, was das Betteln nach Geld für das Nötigste enorm erschwert. Nun kommen zu den ohnehin schon erschwerten Lebensbedingungen weitere seelische Verletzungen und psychische Probleme und Ängste hinzu (vgl. Graen, 2020, https://www.stern.de/familie/strassenkinder-in-der-corona-krise—sie-finden-nicht-mal-mehr-toiletten–9207844.html).
In einem Artikel des Sterns vom 02.04.2020 resümiert Eckhard Baumann: „Man löscht das große Feuer, aber dabei entstehen viele kleine Brände. Für eine normal funktionierende Familie mit Garten in der Vorstadt ist ein Kontaktverbot oder eine Ausgangssperre gut machbar. Aber die ohnehin schon Abgehängten sind jetzt noch abgehängter. Sie sind so verloren wie noch nie zuvor“ (Eckhard Baumann, 2020, https://www.stern.de/familie/strassenkinder-in-der-corona-krise—sie-finden-nicht-mal-mehr-toiletten–9207844.html).