Gerade lese ich ein Buch von Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Mutig, phantasievoll und bisweilen kühn entwirft er positive Zukunftsszenarien, die auf einer genauen Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichgewichte und ökologischen Herausforderungen beruhen. Gemäß seinem Leitsatz Die Welt ist zum Verändern da, nicht zum Ertragen macht er auf die Handlungsspielräume aufmerksam, die jede und jeder von uns in ihren und seinen täglichen Lebensvollzügen hat. Dabei predigt er keinen asketischen Weltverzicht, sondern möchte Lust machen, Neues auszuprobieren, neue Wege zu gehen, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Beispiele konkreten guten Gelingens untermauern seinen Imperativ.
Ich vermute, dass er Religionen und Theologien nicht unbedingt als seine natürlichen Verbündeten versteht, da sie nicht Gegenstand seiner Reflexionen zu sein scheinen, ihnen vielleicht sogar skeptisch gegenübersteht. Warum ist das so?
Was sagt es über Religionen und Theologien aus, wenn sie von ihm, einem Sozialpsychologen und Soziologen nicht als vielversprechende Ressource für das Projekt lebensbejahende Zukunft wahrgenommen werden? Dass er auf diesem Auge vielleicht blind ist und die vielen kreativen lebensbejahenden Praktiken religiös motivierter Menschen und entsprechende Elemente theologischer Schriften nicht wahrnimmt? Oder dass Religionen und Theologien sich vielleicht noch nicht gut genug unter diesem Aspekt in der Öffentlichkeit präsentieren? Oder können sie vielleicht den drängenden Fragen der Zeit derzeit nicht inspirierend genug begegnen? Oder kann es auch daran liegen, dass wir Menschen, die Trägerinnen und Träger von Religionen und Theologien und ihre Gestalterinnen und Gestalter, wie so viele anderen Menschen auch, so in unseren Alltagsvollzügen gebunden sind, dass wir kaum Zeit, Muße und Energie verspüren, utopisch zu denken, zu fühlen und zu handeln?
Wahrscheinlich ist es von Allem etwas und das ist ausgesprochen schade. Denn es gehört eigentlich zu den natürlichen Kompetenzen von Religionen und Theologien, die Menschen zu ermutigen, über ihr eigenes Interesse hinaus für das Gemeinwohl aller einzustehen. Ihre Quellentexte und erinnerten Persönlichkeiten legen in zu großer Breite und Intensität Zeugnis genau davon ab, um sie zu ignorieren; nämlich davon, wie neue Wege zu wagen, das friedensstiftende und emanzipatorische Potenzial von Religionen wecken kann.
Wir sollten uns diese Geschichten erzählen. Denn nur so bewahren wir sie und antiquiren sie nicht. Geschichten haben, so meine ich, das Potenzial, das, was der Philosoph Günther Anders moralische Fantasie genannt hat, anzuregen. Moralische Phantasie ist für ihn die Fähigkeit, zum einen die Folgen von derzeitig zu beobachteten Fehlentwicklungen empathisch zu antizipieren (und damit versteht er sie als eine Schlüsselkompetenz für existenziell wahrnehmbare Verantwortung) und zum anderen verbindet er mit dem Begriff der moralischen Phantasie die Befähigung, Fäden in eine noch unbekannte, da noch nicht existente, bessere Welt zu spinnen.
Dort, wo gesellschaftliche Utopien und religiöse eschatologische Vorstellungen von einem guten Ausgang sich kreuzen, können, so meine ich, spannende Synergien entstehen. Warum sollten wir da nicht anfangen zu spinnen?
Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari ist Juniorprofessorin für Islamische Systematische Theologie/ Kalam am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.