Extinguishing Life

Am I in the fifth month of the second lockdown, or the second month of the third lockdown? How does one even measure pandemic time? Muslims are notoriously known for never being on time (except when we’re staring at our clocks to count down the miliseconds to sunset after a long day of fasting). But in lockdown time, time itself starts to loose its meaning. Recalling her 40 day sojourn at a Sufi retreat where each day is spent in prayer and reflection, the German writer Michaela Ozelsel claimed that the inner spiritual richness of the experience went so deep that “each new day seemed eventful to me and completely different from the days preceding.” But a lockdown is no spiritual retreat. Perhaps there’s something positive and liberating in that. The illusion of pretending that our physical and emotional state has no impact on our thoughts has been, helpfully, shattered by the pandemic. Here, then, are my observations, solitary and shattered, during lockdown.  

The Death of a Prince I could fill this blog with the many titles collected by the late Prince Philip, many of which commemorate his military service. In the days following the Prince’s funeral,  the Commonwealth War Graves Commission announced that, unlike white soldiers, hundreds of thousands of black African and Asian soldiers who had died fighting for the Empire had never been commemorated. This reminded me of the brilliant and searing words of the musical artist, poet and author Akala. Such is our tolerance for racism, says Akala, that we often fail to remark on the visibly manifest contradictions it creates in our societies. For instance, the black and brown immigrants who were invited to rebuild the UK after the Queen’s German relatives bombed it are often treated as outsiders who do not really belong in Europe. On the other hand, descendants of the same Germans find it easier to settle in the UK than the black and brown people who first gave up their lives fighting for the UK and whose descendants then helped rebuild the country. 

The Death of Irony The parliamentary group of the CDU/CSU alliance have called for an end to cooperation with groups suspected of supporting political Islamism. To repeat: two parties in government in a secular nation state that have the word “Christian” in their names have come out against groups whose politics are informed by their understanding of Islam. After observing a moment’s respectful silence for the death of irony, let us move on. Both these stories appear connected to me because the lack of value accorded to black and brown lives (and deaths) is not merely historical, but ongoing. The absence of commemoration of black and brown deaths is directly related to ongoing efforts to exclude and exile black and brown lives from modern political life. The idea that formations of Christianity can rightfully belong in politics, while Islam must be excluded from all forms of politics, is simply another way of extinguishing the lives of racial minorities, in this case Muslims who are racialized as outsiders. Having given up (for the most part) the ambition of exiling Muslims from European territory, the ongoing project of racialized colonialism now demands the renunciation of Islam as a condition of entry into European politics.

A Congolese man looking at the severed hand and foot of his five-year-old daughter who was killed, and allegedly cannibalized, by the members of Anglo-Belgian India Rubber Company militia.
The photograph is by Alice Seeley Harris.
https://rarehistoricalphotos.com/father-hand-belgian-congo-1904/

Dr. Abdul Rahman Mustafa ist Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#lockdown #elections #racism

Thank God and have prayers

„Thank God and have prayers“, sagte ein Bruder von George Floyd, als der Richter das Urteil verkündete, dass der weiße Polizist Derek Chauvin in allen drei Punkten der Anklage schuldig gesprochen wurde: in Minneapolis am 25.05.2020 Mord 2. Grades an einem unbewaffneten und wehrlosen Mann schwarzer Hautfarbe. Gegenüber den letzten gut verständlichen und auf dem Handyvideo dokumentierten Worte seines sterbenden Bruders „I can’t breathe“, die Chauvin ignoriert hatte und sein Knie bis zum Erstickungstod von George Floyd in seinen Nacken gedrückt hatte, sagte der Bruder nach dem Urteil: „Now we can breathe again.“

Von Joe Biden berichteten die Nachrichten am Tag vor dem Urteil, dass er dafür gebetet habe, dass das Gericht das richtige Urteil fällen würde. In seiner Rede nach dem Urteil beurteilte er die Gerichtsentscheidung als ersten Schritt zu mehr Gerechtigkeit gegenüber dem strukturellen Rassismus in der amerikanischen Polizei und kündigte ein Gesetz zur Eindämmung rassistischer Polizeigewalt an, das Floyds Namen tragen könnte. „People of color“ in den USA und überall in der Welt sowie die Bewegung „Black lives matter“ feiern das Urteil und hoffen, dass es zu einem Wendepunkt in der amerikanischen Polizei und in der Rechtsprechung wird. 

In ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme dankt die Familie Gott für das gerechte Urteil. Ihre und Bidens Gebete verstehen sie als erhört. Seit Jahren waren in ähnlichen Fällen weiße Polizist*innen freigesprochen worden. 

In Westeuropa hätten wir – so vermute ich – solch eine öffentliche Dankeserklärung an Gott nicht gehört. Wir mussten lernen, dass es sinnvoll ist, Recht und Religion deutlich zu unterscheiden. Unsere Lernerfahrungen sind die philosophische Religionskritik, Analysen des Missbrauchs des göttlichen Namens für Waffensegnungen, öffentliche, staatliche und private Gewalt, zur Legitimation der Entwürdigung von Menschen in Kolonien, die Ausdifferenzierung zwischen Recht und Religion im modernen Europa sowie die Erfahrung der Marginalisierung der Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum. Auch das Fehlurteil der Todesstrafe gegenüber dem, den die Christenheit als Gottes Sohn verehrt, könnte die Skepsis gegenüber jedem irdischen Recht nähren. 

Dennoch hoffen die biblischen Schriften immer wieder darauf, dass sich im irdischen Recht göttliches Handeln zeigt und fordern auf, Recht zu tun: „Gott liebt Gerechtigkeit und Recht“, heißt es in Psalm 35,5.

Neben berechtigter Kritik steht daher auch die moderne Theologie vor der Aufgabe, Kriterien zu nennen, an denen sich Recht im Sinn Gottes orientieren sollte. Aus der Sicht der christlichen Religion zeigt sich Gottes Handeln im irdischen Recht, wenn das Recht dazu dient, Gewalt gegenüber Wehrlosen, die Missachtung der Freiheit und der Würde schwacher, marginalisierter und ausgegrenzter Menschen zu sanktionieren und Frieden zu fördern. Humanität, Frieden und Respekt gegenüber gesellschaftlich Ausgegrenzten können wachsen, wenn das Recht sie schützt. Aus der Sicht der christlichen und anderer Religionen kann sich in solchem Recht schon irdisch göttliche Gerechtigkeit ausbreiten. 

Prof. Dr. Helga Kuhlmann ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Ökumene am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#GeorgesFloyd #Prayer #Humanität #Frieden

Tage der Hoffnung

Im schiitischen Islam ist der 15. šaʾbān des achten Monats im islamischen Kalender der Geburtstag des zwölften Imam. Entsprechend der Überlieferungen soll er in Verborgenheit leben und am Ende der Zeit, bevor die Welt eine essenzielle Umwandlung erfährt, erscheinen.  Das islamische Mondjahr ist etwa 10 Tage kürzer als das Sonnenjahr des Gregorianischen Kalenders,  somit sind die religiösen Feiertage beweglich und wandern jedes Jahr etwa 10 Tage rückwärts. In diesem Jahr ist der Monat šaʾbān zeitgleich mit Pessach und Ostern. Beide Feste sind Feste der Hoffnung: Pessach erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Für sie beginnt nach jahrelanger Unterdrückung und Leiderfahrung die Zeit der Befreiung. Das Fest der Befreiung ist ein bedeutendes Fest im Judentum, das jedes Jahr erneut die Hoffnung und Zuversicht schenken soll.  Am Karfreitag wird an das Leiden Jesu erinnert, das am Ostersonntag mit der Auferstehung die Hoffnung vermittelt, dass sogar der Tod überwunden werden kann. Beide Feste erinnern an die Leiderfahrungen in der Vergangenheit, die durch Gottes Einwirken überwunden sind. Die Erinnerungskultur lässt kontinuierlich an die Botschaft Gottes denken und daraus neue Kraft schöpfen. Auch wenn in den schwierigen Zeiten diese Hoffnung utopisch erscheint, verliert sie nicht gänzlich ihre Wirkungskraft, an die jedes Jahr von neuem erinnert wird.

Mit dem Warten auf Imam Mahdī, den zwölften Imam, wird die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ausgedrückt. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden zeichnet das Urbedürfnis der Menschen auf und wird im Koran als deren Hauptverantwortungsbereich bezeichnet. Es ist ein Gebot Gottes, sich für Gerechtigkeit, das gute Tun und Großzügigkeit gegenüber Mitmenschen einzusetzen (Vgl. Koran, 16:90). Die Menschheitsgeschichte zeigt jedoch, dass die Menschen und die Schöpfung stets unter Ungerechtigkeiten und Unfrieden zu leiden haben. Die umfassende Gerechtigkeit, die eine tragende Rolle für den Frieden innehat, scheint unerreichbar zu sein. Dies ist womöglich ein Grund für die Weltuntergangszenarien, die in nahezu allen Religionen vorhanden sind. Die Spannungen und Leiderfahrungen entluden sich in legendäre und fantasievolle Erzählungen über die Endzeit und damit verbundene Erscheinungsformen. Auch im Zusammenhang mit Imam Mahdi bestehen zahlreiche legendär erscheinende Erzählungen, die die rationale Nachvollziehbarkeit erschweren, und doch bleibt sein Geburtstag der Tag, an dem jedes Jahr Hoffnung und Zuversicht belebt werden soll.  Gerade in diesem Jahr, in dem die Pandemie und die eingeschränkten Lebensgewohnheiten viele Menschen in Hoffnungslosigkeit und Stagnation versetzen, scheinen mir diese Tage der Hoffnung eine besondere Bedeutung zu bekommen. Wir sollten es als ein Zeichen betrachten, dass gerade in diesem Jahr die drei Hoffnungsfeste im Judentum, Christentum und Islam nah beieinander liegen.    

Die Mahdī-Erwartung ist kein passives Warten und Hoffen. Die Menschen sind verpflichtet, aktiv auf eine Zeit hinzuarbeiten, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Die Aufgabe der einzelnen Menschen besteht darin, bei sich und dem eigenen Umfeld zu beginnen: soziale Solidarität und Fürsorge im Umgang mit Menschen und Natur sind die Fundamente der Bewegungen, die den Weg für das Erscheinen der friedvollen Endzeit bereiten. Jährliches Feiern und Erinnern sind notwendig, um nicht zu vergessen. Die Botschaft dieser Tage zu erkennen und sie ernst zu nehmen, beginnt jedoch am Tag nach der Feierlichkeit: halten wir uns an ein „weiter so“, wie wir vor dem Erinnern gewirkt haben, oder nutzen wir diese Erinnerungszeit zum Nachdenken und Reflektieren? Darin wird sichtbar, wie wahrhaftig wir diese Tage der Hoffnung begehen und ob wir sie als Auszeit für einen Neubeginn nutzen. 

Hamideh Mohagheghi ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Koranwissenschaften an der Universität Paderborn.

#Hoffnung #Verborgen #Gerechtigkeit #Frieden

… und grün des Lebens goldner Baum

Heutzutage gewinnt die Natur in der Spiritualität vieler Menschen wieder an Bedeutung. Der thoreausche Aufruf, in ihren grünen Schoß zurückzukehren, wird immer lauter. Mit erbaulicher Rührung wird uns nahegelegt, unser Heil in der Natur zu suchen. Auch mir ist die Natur außerordentlich wichtig. Und doch musste ich, gerade während der Corona-Krise, all das Bitternis-Potential erfahren, das diesem gutgemeinten Gebot innewohnt. Schließlich ist die Natur, was ihre Zugänglichkeit, ihre „Qualität“ und „Quantität“ angeht, ungleich an uns verteilt.

Der eine wohnt im Alpenvorland, der andere unweit eines schönen Waldes und noch einer wohnt irgendwo in einem grauen Betondschungel. Wenn die Natur dann als etwas angepriesen wird, was überall und zu jedem Zeitpunkt genossen werden kann, kann es unglaubwürdig werden. Nicht alle Naturerlebnisse sind sich eben gleich. Ein paar Bäume vor dem Wohnblock sind eben nicht der Harz. Umso gravierender wird diese Ungleichverteilung, wenn etwa die Quarantäne verhängt wird. Wenn der Gang zum Park verwehrt bleibt, gewinnt der Blick aus dem Fenster einen neuen Wert. Und auch hier gilt: Bei einigen ist es ein grünes Panorama mit Eichhörnchen zu Besuch, während es bei Anderen ein paar triste Mülltonnen sind. Durch die Erfahrung des Eingesperrt-Seins verliert sich der transzendente Wert der Natur vor lauter verzweifelter Immanenz.

Obwohl ich ansonsten dafür eintreten würde, so viel Naturliebe und -verbundenheit ins Christentum hereinzuholen wie möglich, muss ich an dieser Stelle für die christliche Mystik in ihrer Abstraktheit und gerade auch Losgelöstheit von der Natur die Lanze brechen. Schließlich hat das Abstrakte ein Trostpotential, das wie bei Boethius bis in die Gefängniszelle hinein leuchten kann. 

Viele Vertreter der naturbezogenen Religiosität seien in der Lage sie auch im urbanen Umfeld wunderbar auszuleben. Und doch dürfen wir nicht vergessen, dass auch der Gang an die frische Luft uns genommen werden kann. 

Und da scheint mir die christliche Spiritualität eben sehr überzeugende Antworten zu bieten, besonders, wie sie in der mystischen und monastischen Tradition zu finden sind, allen voran bei Meister Eckhart, aber auch Dionysius Pseudo-Areopagita und den Vätern aus dem Osten. 

Die Natur steht eben nicht jedem von uns zur Verfügung und kann daher auch nicht zur Panazee für unsere spirituellen Nöte werden. Dies wäre auch für sie selbst nicht optimal. Durch die instagramisierte „Aufwertung“, die die Natur in heutigen Zeiten erfährt, wird sie gleichzeitig immer mehr materialisiert. Sie wird zu einem Gut, einer commodity. Durch die Vertherapisierung und Instagramisierung leidet nicht nur ihre Sakralität, es geht ihr auch im materiellen Sinne an die Substanz: Der Bau von Hotels an den schönsten Orten, Picknicks in den wilden Bergoasen, das Fotografieren von Vogelküken in ihren Nestern, wodurch sie gestört und manchmal sogar gefährdet werden, und sonstige Phänomene unserer Sehnsucht zurück zur Natur sind oft nicht im Sinne ihrer fliegenden, springenden, laufenden, blühenden und grünenden Bewohner. Auch hier kann eine gewisse Distanz zur Natur Ausdruck von Andacht ihr gegenüber sein.

Im Dialog mit alternativen spirituellen Traditionen erscheint mir also die ständige Abfrage von Immanenz und Transzendenz wichtig. Die Kirche darf sich nicht zu sehr von der Erde abheben, der Stonehenge sich nicht zu sehr in ihr verwurzeln. 

Elizaveta Dorogova ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Natur #Spiritualität #Ausgleich

Der Schrei

In Tolkiens „Herr der Ringe“ gibt es einen magischen Gegenstand, den Palantir, der eine Verbindung zum personifizierten Bösen, dem Herrscher Sauron, herstellt. In der Verfilmung sieht der Palantir aus wie eine brennende Bowlingkugel. Der Hobbit Pippin schaut hinein, hört auf einmal Saurons Stimme und kann sich aus eigener Kraft nicht vom Blick in den Abgrund losreißen. Er kann nicht einmal seine Hände von der Kugel nehmen, und seine Freunde, die direkt neben ihm sind, um ihm zu helfen, nimmt er nicht mehr wahr.

Die Philosophin Eleonore Stump nutzt diese Szene, um den Kreuzesschrei Jesu zu interpretieren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46).[1] Es könne, so überlegt sie, weder an Gott noch an Jesus gelegen haben, dass sich Jesus im Moment des Schreis seiner Verbindung zum Vater nicht mehr sicher sein konnte, die doch sein ganzes Leben ausgemacht hat. Ganz ähnlich wie beim Hobbit Pippin könne es aber Momente geben, in denen ein Mensch so sehr erschüttert wird, dass er selbst die engsten Beziehungen nicht mehr als gegenwärtig erfahren kann – und in diesem Sinne wirkliche Verlassenheit erlebt. Ein solcher Moment ist laut Stump bei Jesus zum Zeitpunkt des Schreis gegeben, weil er seinen Geist für alle Menschen aller Zeiten geöffnet und so auch die schlimmsten Gräueltaten der Menschheitsgeschichte gegenwärtig hatte. Jesus habe sich also in uns alle, auch in diejenigen hineinversetzt, die schlimmste Verbrechen begehen – und konnte nur noch schreien. Der Blick in diesen Abgrund hat ihm sogar die Beziehung zu seinem Vater verstellt.

Auch wenn es nicht überzeugen mag, dass der Mensch Jesus auch das konkrete Leiden unserer Gegenwart im Blick hatte – für Stump folgt, dass auch Gott selbst weiß, wie es ist, wenn sich ein solcher Abgrund im Leben auftut. Jedenfalls lädt ihre Interpretation ein, den Schrei, der am Karfreitag so zentral ist, nicht zu übergehen. Bereits die Evangelien sind an dieser Stelle vielstimmig. Schon die Worte Jesu selbst bieten die Lesart, das Ende des Psalms 22 mitzuhören, den sie eröffnen. Dort wendet sich die Stimmung und der Beter sagt nach der anfänglichen Klage: „Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben.“ (Ps 22,23). Und auch andere der Jesus zugeschriebenen letzten Worte klingen frommer, etwa in Joh 19,30: „Es ist vollbracht.“

In dieser Vielstimmigkeit aber hat auch der Moment der Gottverlassenheit seinen Platz. Dem eigenen Leben keinen Sinn mehr abringen zu können, nur noch den Abgrund zu schauen, wie Pippin im Palatin, nicht mehr ansprechbar zu sein: auch dafür, nicht vorschnell für die Erwartung des Sonntags, stehen das Kreuz und der Schrei Jesu. Und auch für die, denen es so geht, so die Hoffnung, wird Ostern. 


[1] Ausführlich dazu Stump, Eleonore: Atonement. Oxford 2018. 

Lukas Wiesenhütter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Karfreitag #Ostern #Hoffnung

Prophet*innen?

Anlässlich des Weltfrauentages am 8. März sprach ich mit einer Freundin über das gendergerechte Sprechen. Die sprachlichen Gewohnheiten wie auch die Strukturen der gewachsenen Sprache hindern häufig an der Absicht, alle Menschen ansprechen zu wollen. Durch die männliche Form des Plurals wird die Existenz von weiblichen Professoren, Studenten, Ärzten und Bäckern nun mal verschwiegen. Das wird besonders tragisch, wenn diese sich nicht mehr zu Wort melden können, wie die Jüngerinnen und Prophetinnen der Bibel, die allzu oft unter dem Plural der Jünger und Propheten verschwinden. Die Frauen um Jesus herum mögen durch die Evangelien noch explizit genannt werden, sie werden aber oft nicht als Jüngerinnen wahrgenommen. Und was ist zum Beispiel mit den Prophetinnen Mirjam, Deborah und Huldah? Noch nie von ihrer Frauenpower gehört? Dann muss sich das ändern. Hier kann das nur stichwortartig geschehen, in den biblischen Schriften klingt das viel schöner:

Mirjam ist vermutlich am bekanntesten als Schwester der großen Gestalten Mose und Aaron, die ihnen dadurch gleichgestellt ist (Mi 6,4). Sie ist an der Rettungsaktion Moses aus dem Schilfmeer maßgeblich beteiligt (Ex 2,4-8), besingt als Prophetin und Führerin des Volkes Israel den Auszug aus Ägypten (Ex 15,20f.) und nach ihrem Tod versagt die Führung Moses und Aarons (Num 20,1-13). 

Deborah dient nicht nur als Prophetin sondern auch als Richterin, die unter der Deborah-Palme Recht spricht. Sie wird zudem explizit als Frau und Ehefrau sowie als Sängerin, militärische Führungsgestalt, Kriegerin und Mutter charakterisiert (Ri 4-5).

Huldah prophezeit mit der prophetischen Botenformel „So spricht der Herr“ den Zorn JHWHs über die Stadt, nachdem sie von Priester Hilkija gebeten wurde, als Prophetin eine im Tempel gefundene Schriftrolle auszulegen und (2 Kön 22; vgl. auch 2 Chr 34). Warum wurde sie gefragt und nicht ihr Zeitgenosse Jeremia?

Neben diesen namentlich genannten Prophetinnen wird es noch weitere gegeben haben, die nur notizhaft erwähnt werden (Jes 8,3; Ez 13, 17-23; Neh 6,14) oder sich nur durch ihre prophetische Tätigkeit und nicht durch den Titel identifizieren lassen (Rebekka? Abigail?). Das ließe sich auch am Neuen Testament aufzeigen, doch dafür wäre ein weiterer Blogbeitrag nötig. Schon diese kurzen Charakterisierungen zeigen, dass die Prophetinnen Israels dieselben Aufgaben erfüllten, wie ihre Kollegen. Es muss von Ihnen erzählt werden und ich finde, sie sollten auch sprachlich Erwähnung finden, weil man sie sonst allzu leicht vergisst.

Bild: Das Lied der Debora von Gustave Doré (ca. 1866)

Dr. Cordula Heupts ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Systematischen Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.

#Weltfrauentag #Gender #Prophetin

Umkämpfter Sehnsuchtsort Jerusalem: „Bethaus für alle Völker“?

Erinnern Sie sich noch an Udo Jürgens? Eines der bedeutendsten Lieder des großen Entertainers war „Ich war noch niemals in New York“. Frank Sinatra singt ebenfalls über die Stadt, die niemals schläft: „New York, New York“. Das sind nur zwei Beispiele, aber sicher ist: Die Weltstadt an der Ostküste der USA ist der Sehnsuchtsort der internationalen Popmusik. Zugleich bleiben Orte der Sehnsucht aber immer etwas ganz Persönliches – sei es wie bei uns São Luís (Brasilien) oder Santa Cruz de Tenerife (Spanien). 
Auch die Heiligen Schriften von Judentum und Christentum kennen den einen großen irdischen Sehnsuchtsort, der seit dem vergangenen Jahr sogar auch in der Popmusik hohe Popularität erlangte und durch den international gehypten Song „Jerusalema“ zu weltweiten Dance-Challenges anregte. Alt oder jung, Arzt oder Nonne, Lehrer oder Schülerin: Alle wollten ein Teil der vielfältigen interkulturellen und interreligiösen Gemeinschaft sein. Jerusalem erscheint als endzeitliche Sehnsucht, als ein Ort des Heils und der Hoffnung.
In der Bibel kommt Jerusalem über 900 Mal vor. Bereits Jesaja, der erste große Schriftprophet des Tanach, befasst sich mit dieser Stadt. Bei ihm heißt es: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen“ (Jes 62,6a). Und später: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine weg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ (Jes 62,10).
Die Realität sieht leider anders aus. Es werden keine Steine aus dem Weg geräumt, stattdessen ist eine Betonmauer quer durch die Stadt gezogen. Nirgendwo sonst liegen die heiligen Stätten der drei großen Religionen so nah beieinander, doch der politische Status ist umstritten, der Nahostkonflikt tobt vor allem auch um Jerusalem. Ausgerechnet eine Teilung könnte zur Lösung des Konfliktes beitragen, so wie die Resolution der Vereinten Nationen von 1947 es ursprünglich vorgesehen hatte. Und so war es internationaler Konsens, dass der politische Status der Stadt in einem Friedensabkommen mit den Palästinensern festgelegt werden soll.
Die Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt entgegen aller internationalen Warnungen durch den mittlerweile abgewählten US-Präsidenten Donald Trump und der Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem haben einen positiven Ausgang des Friedensprozesses in noch weitere Ferne rücken lassen. Trumps Schritt war die Einlösung eines teuren Wahlversprechens an eine seiner wichtigsten Wählergruppen, die evangelikalen und wiedergeborenen Christen in den USA. Sie nennen seinen Beschluss eine „biblische Wahrheit“, schließlich brauchen sie das eine, ungeteilte Jerusalem zur Erfüllung ihres apokalyptischen Fahrplans. Diese biblizistische Auslegung der Johannes-Offenbarung hat jedoch nicht nur schlimme Folgen für die in Jerusalem lebenden Muslime: Auch die Juden bleiben in der Endzeitvorstellung der religiösen Hardliner unerlöst, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehren lassen – was proisraelisch scheint, ist in Wahrheit antijudaistisch.
Dabei wären alle Beteiligten gut beraten, noch einmal in das Buch Jesaja zu schauen. In Kapitel 56 heißt es im siebten Vers über Jerusalem: „Mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker“. Udo Jürgens glaubte an New York als die Stadt, in der man „richtig frei“ sein kann. Die Hoffnung ist, dass dies auch in Jerusalem gelten kann, für Juden, Christen und Muslime. Sollte das in dieser umkämpften Stadt gelingen, wäre es ein bedeutsames Signal für den Frieden auf der Welt, oder mit Frank Sinatra gesprochen: „If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Nicht von ungefähr ist bis heute eine Deutung des Stadtnamens Jerusalem besonders populär: Ir Shalom, Stadt des Friedens.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn.

#Jerusalem #Sehnsuchtsort #Frieden #Nahostkonflikt.

Google hat Safiye Ali nicht vergessen

Als ich am 02. Februar wieder einmal auf Google gehe, weil meine Bäume pflanzende Suchmaschine mir mit ihren Ergebnissen nicht weiterhelfen kann, sehe ich dort ein Doodle: In der Mitte eine Frau in einem Kittel, rechts und links von ihr medizinische Geräte. Google erinnert wohl an eine Ärztin, denke ich und widme mich meiner Recherche. Später, vor dem Herunterfahren des Rechners entdecke ich in der Online-Ausgabe meiner Tageszeitung eine Überschrift, die lautet, dass Google der ersten türkischen Ärztin zu ihrem 127. Geburtstag gedenkt; sie wurde im Jahre 1952 in Dortmund, meinem Wohnort, beigesetzt. Meine Neugierde ist nun entfacht: Wer war diese Frau und was hat sie in Dortmund gemacht? Auch noch in einer Zeit, in der noch gar keine Muslim*innen in Deutschland lebten und noch mindestens ein Jahrzehnt vergehen würde, bis die ersten Gastarbeiter aus der Türkei ins Ruhrgebiet kommen. Nun gebe ich in Google „Safiye Ali“ als Suchbegriff ein. Ich trage für mich die Ergebnisse zusammen: Safiye Ali, geboren am 02. Februar 1894 in Istanbul, war die erste türkische Ärztin. Ihrem Wunsch, Medizin zu studieren, konnte sie im damaligen Osmanischen Reich nicht nachgehen, weil damals trotz des großen Bedarfs an Ärztinnen das Studium nur Männern vorbehalten war. Erst eine Gesetzesänderung öffnete ihr und einigen wenigen jungen Frauen den Weg ins Studium im Ausland. Safiye Ali kam während des ersten Weltkrieges nach Würzburg, lernte schnell Deutsch und beendete ihr Studium mit Auszeichnung. Sie spezialisierte sich auf die Gynäkologie, heiratete ihren Kommilitonen Ferdinand Krekeler und ging 1923 mit ihm zusammen nach Istanbul zurück. In diesem Jahr wurde die moderne türkische Republik gegründet. Safiye Ali Krekeler eröffnete die erste gynäkologische Praxis der Türkei, die von einer Frau geführt wurde. Später wurde sie zur ersten Dozentin an einer medizinischen Fakultät, die Studierende, mittlerweile auch Frauen, ausbildete. Sie spezialisierte sich auf die Mutter-Kind-Gesundheit und schrieb wissenschaftliche Abhandlungen über die Bedeutung des Stillens. Als Frauenrechtlerin gründete sie sogar eine Partei für Frauen, die aufgrund der fehlenden Zulassung in eine Frauenorganisation umgewandelt wurde. Auch wenn die politische Führung der jungen türkischen Republik die Bildungschancen von Frauen stark förderte und gebildete Frauen als Vorbilder idealisierte und stilisierte, blieb ihr die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt: Die meisten der Patientinnen von Dr. Ali gehörten der Unterschicht an. Frauen aus gehobeneren Schichten unterstellten ihr allein aufgrund des Geschlechts fachliche Inkompetenz und bevorzugten männliche Ärzte. Auch von männlichen Kollegen wurde ihr der Erfolg nicht gegönnt, sodass sie immer wieder Anfeindungen ausgesetzt war.
1928 kamen sie und ihr Mann zurück nach Deutschland, genauer nach Dortmund, wo sie bis zu ihrem Tod eine eigene Praxis führte. An Krebs erkrankt, starb sie 1952 und wurde auf dem Hauptfriedhof in Dortmund beigesetzt. 
Ich bin beeindruckt von Frau Ali: Eine großartige Feministin, die ihrer Zeit in so vielen Punkten voraus war: Gesetze ihres Landes konnten sie nicht davon abhalten, ihren Traumberuf auszuüben – auch wenn sie sogar eine neue Sprache im ihr kulturell und religiös fremden deutschen Kaiserreich lernen musste. Anscheinend waren weder Religion noch die Herkunft ihres Partners ein Hinderungsgrund für die Ehe. Ihr Mann Ferdinand scheint, was Rollenbilder anbelangt, auch seiner Zeit voraus gewesen zu sein, wenn er aus Liebe seine Karriere an der Universität aufgibt, nach Istanbul geht und eine Praxis unter dem Namen Ferdi Ali, seinem abgekürzten Vornamen und dem Nachnamen seiner Frau führte. Frau Ali und ihr Mann sind nicht nur ein bikulturelles Paar, sie sind auch Symbole für die historische Freundschaft und Verbundenheit der Türk*innen und Deutschen.
In der Zwischenzeit hat der Dortmunder Ratsherr Emre Gülec ihre Grabstelle ausfindig gemacht und Gespräche mit der Stadt Dortmund aufgenommen, um an dieser Stelle einen Gedenkstein anbringen zu lassen. 
In dieser Woche, in der am 8. März der Internationale Weltfrauentag begangen wird, kann die Geschichte von Safiye Ali jungen Frauen Mut machen, sich trotz Widerständen von ihrem Streben nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung nicht abhalten zu lassen, ihren eigenen Weg zu gehen. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.

#Safiye Ali #Weltfrauentag #Gleichberechtigung

Die Nachtreise und die Himmelfahrt

„Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei Nacht von der heiligen Kultstätte (in Mekka) nach der fernen Kultstätte (in Jerusalem), deren Umgebung wir gesegnet haben, reiste, um ihn etwas von unseren Zeichen sehen zu lassen! Er ist der, der (alles) hört und sieht.“ (Q 17:1)

Mit dem Sonnenuntergang am Mittwoch den 10. März erinnern Muslime an eine der fünf gesegneten Nächte, die Nacht der Himmelfahrt (Laylat al-Miʿrāj), die nach islamischem Kalender am 27. Tag des Monats Rajab fällt. Dabei gedenken wir der nächtlichen Reise des Propheten Muḥammad ﷺ von Mekka aus zum Tempelberg in Jerusalem und von dort aus zu den verschiedenen Himmelsebenen.

Die Himmelfahrtstellt eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Propheten Muḥammad ﷺ dar, und die näheren Umstände um dieses Ereignis werden in den Überlieferungen sehr lebhaft dargestellt: Ibn Isḥāq berichtet etwa, dass die Himmelsreise mit Hilfe eines pferdeähnlichen Reittieres namens Burāq durchgezogen wurde, den der Engel Gabriel dem Propheten in dieser Nacht überreichte. Von Mekka nach Jerusalem (isrāʾ) und dann vom Tempelberg aus hinauf durch die sieben Himmelssphären (miʿrāj) folgte der Engel Gabriel dem Propheten, während dieser in verschiedenen Himmelssphären die Propheten Adam, Jesus, Hennoch, Joseph, Aaron, Moses und Abraham traf. Im siebten Himmel, in dem der Prophet die Nähe Gottes erfahren konnte, wurden ihm für die Gemeinde der Gläubigen zunächst 50 täglichen Gebete auferlegt, die er – nach einer Rücksprache mit Moses bei seiner Rückkehr und der wiederholten Audienz vor Gott – von 50 auf fünf „heruntergehandelt“ hat. Mit dieser Reise sind zahlreiche weitere Überlieferungen verbunden: vom Erblicken des Paradieses und der Hölle seitens des Propheten, den Einzelgesprächen mit anderen Propheten, der Fürbitte für die Gläubigen, bis hin zu seinem Erblicken eines nicht überschaubaren Meeres mit einem Vogel der einen Staubkrümel in seiner Schnabel hält – eine Szene, die die Metapher göttlicher Barmherzigkeit im Vergleich zu den Sünden der Menschheit darstellt.

Auf ein Detail möchte ich jedoch hinweisen, das stets in diesen vielen zum Teil auch umstrittenen Überlieferungen von der Nachtreise übersehen wird; ein Detail, welches die Realität des Lebens des Propheten repräsentiert: Die Nachtreise ereignete sich nämlich in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens, in einem Jahr welches er selbst Sanat al-Ḥuzn (Jahr des Trauer) nannte. Ein Teil seiner Gefährten befand sich im Exil in Abessinien. Nach einem dreijährigen Boykott seitens der Qurayš vermehrten sich die Anfeindungen gegenüber seiner Gemeinde. Zudem verstarb im Monat Ramadan die geliebte Ehefrau des Propheten, Ḫadīja – die Frau, bei der der Prophet in den 25 Jahren Ehe immer seine Ruhe finden konnte, seine Lebensgefährtin, seine Stützte und die Mutter seiner Kinder. Im selben Jahr starb auch sein Onkel Abū Ṭālib, der ihn seit Beginn an geschützt und unterstützt hat. Der Versuch des Propheten ﷺ, die Bewohner Taifs zum Islam zu gewinnen, scheiterte auch. Dort wurde er von den Taif-Bewohnern beleidigt, beschimpft und mit Steinen beworfen, während er sich eilends zurückzog. Dass der Prophet Muḥammad ﷺ in dieser Zeit besonders traurig und besorgt war, war – einigen Überlieferungen zufolge – selbst an seiner sonst sehr erhellenden und fröhlichen Miene und der gesamten Körperhaltung ersichtlich. Und gerade in diesem Zustand der Trauer und Einsamkeit ereignete sich die Nachtreise als ein Geschenk Gottes, ein Zeichen Seiner Gnade und Liebe, ja eine Zuwendung Gottes Seinem geliebten Propheten in der schönsten Form. In dieser wundersamen Reise, in der der Engel Gabriel sein Herz reinigte, erfuhr der Prophet den größeren Kontext seiner Mission und bekam die Nähe Gottes zu spüren. „Da wankte der Blick nicht, noch schweifte er ab. Wahrlich, er hatte eines der größten Zeichen seines Herrn gesehen.“ (Q 58:17,18)

Diese Zuwendung und die Liebe Gottes sucht jeder Gläubige. Vom Propheten Muḥammad ﷺ erfahren wir, dass „das Gebet die Nachtreise eines jeden Gläubigen ist“ (Ḥadīṯ). In diesem Akt der Verehrung, des Dankens und des Bittens trägt der Mensch seinen Kummer und seine Sorgen vor Gott vor, hofft dabei den größeren Kontext seines eigenen Daseins zu erkennen und in seiner Hingabe von Gott gehört zu werden, denn – wie es im Koranvers vom Anfang heißt „… Er ist der, der alles hört und sieht.“

Ahmed Husić ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Islamische Theologie der Universität Paderborn.

#Nachtreise #Rajab #Himmelfahrt #Muhammad #Mekka #Jerusalem

Queer of Heaven

Von den drei islamischen Theologinnen Kecia Ali, Jerusha Tanner Rhodes und Hosn Abboud habe ich gelernt in der Himmelskönigin Maria auch eine „Queer of Heaven“ zu sehen. Queere Personen sind ja solche, die sich unserer üblichen binären Geschlechterordnung entziehen. In seiner himmlischen Variante bietet das Queere die Chance, einengende Geschlechterklischees aufzubrechen und auch sonst Grenzen zu überschreiten, die Menschen einsperren und auf fest definierte Rollenvorstellungen festlegen wollen. Auch religiöse Menschen sind leider gegen ein solches Schubladendenken nicht immun und ziehen oft schneller Grenzen, als dies eigentlich aus himmlischer Perspektive angemessen erscheint. Gott sprengt in der von den drei Theologinnen entwickelten Lesart der koranischen Mariengeschichte unsere einengenden Sichtweisen und Praktiken und die durch sie verursachten Ungerechtigkeiten.

Maria erscheint eben nicht nur als hingebungsvolle, aufopferungsbereite Mutter, die in perfekter Weise weibliche Rollenmuster erfüllt, sondern sie ist auch eine todesmutige, eigenständige, kritische Frau, die einen neuen Zugang zu Gott eröffnet und ganz ohne männliche Unterstützung auskommt. In ihrer prophetischen Kraft stellt sie nicht nur klassische Geschlechterstereotype in Frage, sondern verändert auch unseren oft von männlichen Stereotypen geprägten Blick auf Gott. Nicht umsonst führt die Mariengeschichte im Koran den Gottesnamen des Barmherzigen ein, der im Arabischen ethymologisch auf die Gebärmutter verweist und Gott in einem weiblichen Licht erscheinen lässt. Auch die Grenze zwischen Gott und Mensch wird durch diese auch koranisch jungfräuliche Gebärerin des Wortes Gottes verschoben und transzendiert. 

So ermutigt uns die koranischen Mariengeschichte, einerseits ein dualistisches Denken mit essentialisierenden Kategorien des Männlichen und des Weiblichen zu überwinden, andererseits aber auch das Gott-Mensch-Verhältnis von Maria her neu zu denken und auch hier essentialisierende Gräben zu überwinden. Auch das Verhältnis der Religionen untereinander oder das Verhältnis von Tradition und Moderne dürfe – nach der Deutung unserer muslimischen Theologinnen – nicht auf binäre Codes hin verengt werden. Selbst die eigentlich klare Unterscheidung zwischen Jungfräulichkeit und Muttersein wird durch Maria unterminiert. Immer gelte es nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und Verflüssigung Ausschau zu halten. Ali plädiert angesichts der großen Heterogenität der koranischen Mariengeschichten dafür, die koranische messiness wertzuschätzen und also gerade das Unscharfe, Grenzüberschreitende, Irritierende als Weg zu Gott stark zu machen. 

Mir macht dieser Gedanke viel Mut in einer Zeit, in der wir ständig auf Abstände, Klarheit und Sicherheit bedacht sind. Maria lädt uns ein zum Unscharfen, zum nicht Fassbaren, nicht Kontrollierbaren, zum Grenzüberschreitenden, zur Queerness. Interessant, dass ich das erst durch die Lektüre des Korans und seiner muslimischen Interpretinnen gemerkt habe.

Mehr über die „Queer of Heaven“ im Koran können Sie in dem gerade erschienenen Buch von Muna Tatari und Klaus von Stosch erfahren.

Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.

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