In Stein gemeißelter Antisemitismus

Die „Judensau“ darf bleiben: Der Bundesgerichtshof hat im vergangenen Monat entschieden, dass die antijüdische Schmähskulptur an der Stadtkirche Wittenberg nicht entfernt werden muss. In dem Urteil heißt es, sie sei „zwar beleidigend, doch die Gemeinde habe sich ausreichend distanziert.“

Aber geht das überhaupt? Ausreichende Distanzierung von einem in Stein gemeißelten Relief aus dem 13. Jahrhundert, das bis heute Menschen jüdischen Glaubens beleidigt, sie als „Saujuden“ darstellt und bisher nur mit einer leicht zu übersehenden, theologisch überholten Gedenkplatte aus den 1980er Jahren sowie einer nebenstehenden Infotafel versehen ist? Und das ausgerechnet an der Kirche, die als Wiege der Reformation gilt, wo auch Martin Luther predigte? Im Jahr 2022 kommt hier noch immer der Antisemitismus zum Ausdruck, den auch Luther in Schriften wie „Von den Juden und ihren Lügen“ oder „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, die direkt Bezug auf die Skulptur nimmt, verbreitete. Der Judenhass war jahrhundertelang Teil der lutherischen Verkündigung, sodass sich auch die evangelische Kirche „an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht“ (Rheinischer Synodalbeschluss von 1980) hat, weshalb etwa Andreas Pangritz in Luther einen „Kronzeugen des Antisemitismus“ sieht.

Hochrangige Protestant*innen hatten sich schon länger für eine Abnahme der „Judensau“ ausgesprochen, darunter die ehemalige Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Irmgard Schwaetzer, und Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der feststellte: „Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung, ob man sie kommentiert oder nicht.“ In Wittenberg, wo die dunkle Seite des Reformators nicht unbedingt das Lieblingsthema darstellt, ist auch die Diskussion um das Relief vielen ein Dorn im Auge. Die evangelische Stadtkirchengemeinde in Wittenberg argumentiert, die „Judensau“ müsse bleiben, denn sie sei „ein Stachel im Fleisch der christlichen Geschichte. Sie halte die Erinnerung an den mittelalterlichen Antijudaismus aufrecht. […] Man sei kein Freund der Cancel Culture.“

Auch der Rechtspopulismus hat das Thema längst für sich vereinnahmt. Die AfD Wittenberg erreicht viele Einheimische mit dem Vorwurf, „Weltversteher“ würden von außen in die Lutherstadt kommen, um ihnen zu sagen, was sie zu tun hätten; dabei sei das Relief gar nicht mehr das Problem, da der heutige Antisemitismus doch von den Muslimen ausgehe – eine Behauptung, die angesichts der Tatsache, dass 9 von 10 antisemitischen Straftaten in Deutschland einen rechten bzw. rechtsextremistischen Hintergrund haben, natürlich wenig haltbar ist.

Niklas Ottenbach vom Deutschlandfunk hat die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird und vor allem die Gemeinde argumentiert, scharf kritisiert: „Das kann man so sehen, wenn es einem nur um sich selbst geht. Im Grunde genommen ist das Belassen der „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirchenfassade eine sehr selbstbezogene Geschichtsbetrachtung, die zwar die eigenen Untaten thematisiert wissen will, aber die Wirkung auf die, die damit beleidigten werden, ausblendet.“ Nach derselben Argumentation hätte man, so Ottenbach weiter, ja auch Adolf-Hitler-Plätze nach dem Krieg nicht umbenennen müssen – aber so funktioniere es nicht: „Geschichte entwickelt sich weiter, deshalb darf sich auch das Stadtbild weiterentwickeln.“

Und tatsächlich: Geschichte und Erinnerung sind lebendig und entwickeln sich stets weiter. Erinnerung an das Vergangene ist somit notwendig, um die Zukunft zu einem besseren und gerechteren Ort für alle zu gestalten. Das erinnerungspolitische Erinnern und Gedenken würdigt die Perspektive der Personen, die diskriminiert, ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden – kurzum: derer, die es konkret beleidigend betrifft. Ausgerechnet diese Perspektive ist jedoch in der Diskussion in Wittenberg nur unzureichend berücksichtigt worden.

Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

#Antisemitismus #Erinnerungskultur #Jüdisch-christlicher Dialog #Kunst #Wittenberg

Unsere Zeit in Gedanken fassen

Den Anlass meines Beitrags bildet ein Leserbrief, der unmittelbar nach Brexit und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika von einem Leser der britischen Tageszeitung The Guardian geschrieben wurde (vgl. https://www.theguardian.com/education/2016/nov/18/existential-angst-and-homers-philosophy). Über Leserbriefe als Quelle von Fehlschlüssen schrieb Susan Stebbing in Thinking to Some Purpose (1939): Sie gab zu, eine leidenschaftliche Leserin von Leserbriefen zu sein und diese als Grundlage für ihre Analyse von Argumenten und Fehlschlüssen im Alltagsdenken zu benutzen. Ich schlage jetzt vor, unsere Aufmerksamkeit dem Brief von Jim McCluskey in The Guardian nicht als Quelle von Fehlschlüssen zu schenken, sondern weil er ein philosophisch zentrales Thema auf eine sehr einfache Art und Weise anspricht. Herr McCluskey schreibt: 

I have been a disciple of the philosopher Homer (D’oh-levels; the wisdom of the Simpsons, 16 November) even before I heard his response to Bart’s request to switch on the TV: “Well, please turn something on, I am beginning to think.” The prospect of thinking is now more terrifying than ever. It is a courageous person who is prepared to think of the implications of having a narcissistic sociopath as commander-in-chief of the most potentially destructive armed forces the world has ever seen. A few of the other matters which do not bear thinking about include Brexit, the rapid loss of species diversity, and the population explosion. D’oh.

Herr McCluskey weist also darauf hin, dass zu denken (insbesondere in den Trump- und Brexit-Zeiten – und wir könnten hinzufügen: in Corona- und Kriegszeiten) erschreckend ist (es ist besser, einfach Netflix oder Videos auf Tik-Tok/Instagram/Youtube zu schauen). Zu denken erfordert den Mut, alle Aspekte vor Augen zu haben, die die Wirklichkeit ausmachen und ihre Konsequenzen und Implikationen für die verschiedenen Bereiche unseres Lebens explizit zu machen. So wird in diesem Brief eine Konzeption von Denken ersichtlich, die spezifisch philosophisch ist und insbesondere auf die Tradition der Hegelschen Dialektik zurückgeht. Es geht um das Denken als das Fassen der eigenen Zeit, und somit als die Anerkennung der eigenen Grenzen – es geht um eine Selbstreflexion, die das zur Geltung bringt, was alles in unserem Leben negativ ist und nicht stimmt; es geht um eine Reflexion, durch die wir erkennen, wie die Realität ist und wie sie sein sollte – wir erkennen somit die Spannung und Zerrissenheit zwischen Sein und Sein-Sollen. Man hat die Diskrepanz zwischen Idee und Realität klar vor Augen und man leidet, man ist erschreckt. Eine an dem „Philosophen“ Homer angelegte Reaktion dazu würde daher darin bestehen, dass wir einfach Netflix schauen. Eine eher Hegelsche Reaktion wäre leicht anders, das ist aber eine andere Geschichte.

PD Dr. Elena Ficara ist Akademische Oberrätin a. Z. am Institut für Humanwissenschaften im Fach Philosophie.

#Leserbrief #Simpsons #Trump #Philosophie #Dialektik

Endlich Sommer!

Beschäftigungsempfehlungen mit theologischer Note

Wochenendfrühstück draußen, Schwimmen im See, anregende Lektüre in der Sonne? – Der Sommer ist da und damit auch das Genre der Beschäftigungsempfehlungen für den Urlaub oder wenigstens einen freien Nachmittag in der Sonne. Hier kommen drei (nicht unbedingt neue) Hinweise für die freie Zeit mit theologischem Tiefgang:

  1. Lektüreempfehlung: Der Sommerurlaub ist ein guter Zeitpunkt, um mit Karl Ove Knausgårds monumentalem autobiografischem Romanprojekt (Norweg. Min Kamp) zu beginnen. Einerseits, weil man einiges an Zeit benötigt, um sich durch alle sechs Bände zu wühlen. Andererseits, weil die schonungslose Darstellung des Menschen in der Spätmoderne bei Sonnenschein besser zu ertragen ist. In unvergleichlicher Dichte schildert Knausgård die alltägliche Erfahrung persönlicher, familiärer und öffentlicher Zerrissenheit und zerrt die Leser:in förmlich in einen Mahlstrom der Selbstreflexion. Das geht natürlich nicht ohne die Berührung der wirklich letzten Fragen des Daseins, die in herrlich unverstellt akademischen Exkursen über Ästhetik, Philosophie, Geschichte und Theologie das ganze Werk durchziehen.
  2. Filmempfehlung: 3 Billboards Outside Ebbing, Missouri ist ein Meisterwerk von Martin McDonagh aus dem Jahre 2017, das sich mit Verlust und Trauer, Schuld und Vergebung auseinandersetzt – und dabei faszinierenderweise ständig wirklich lustig ist. Frances McDormand, ausgezeichnet mit dem Oscar für die beste Hauptdarstellerin, sucht als Mildred Hayes nach Vergeltung für die fehlende Aufklärung des Verschwindens ihrer Tochter. Es entwickelt sich ein packendes Drama mit überraschenden turns um ihr Verhältnis zu den Polizisten Bill Willoughby und Jason Dixon (exzellent gespielt von Woody Harrelson und Sam Rockwell). Wirklich großes Kino, das mehr oder weniger offen mit theologischen Grundfragen spielt.
  3.  Serienempfehlung: Wenn es doch ein Binge sein soll, lohnt sich die hierzulande noch wenig bemerkte Serie One Day at a Time. Sie belebt das klassische Genre der Sitcom wieder, wehrt sich aber gegen die politische und gesellschaftliche Belanglosigkeit der 90er-Jahre-Shows und thematisiert alle relevanten Gegenwartsfragen von der Klimakrise bis zur psychischen Erkrankung, vom Drama wachsender sozialer Ungleichheit bis zum Generationenkonflikt in Sachen Religion. Wer wissen will, wie die Themen der Zeit im Horizont eingespielter Lacher aussehen, und gelegentlich mangelnde Tiefe gegen gute Unterhaltung zu tauschen bereit ist, ist hier an der richtigen Adresse. Und leichte Kost ist im Sommer sowieso eine gute Wahl.

Prof. Dr. Aaron Langenfeld ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.

#Lesen #Bücher #Filme #Serien #Theologie #Sommer

Psychohygiene

Üblicherweise erkennt man erst dann, was Gesund-Sein bedeutet, wenn man es nicht mehr ist. Diese Binsenweisheit ist so unspektakulär wie existentiell bedeutsam, wie es uns die letzten zwei Jahre immer wieder bisweilen dramatisch vor Augen geführt haben. Plötzlich wurde im politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und auch im persönlichen Leben der Takt von einem Virus vorgegeben, mit dem man sich mittlerweile mehr oder weniger arrangiert hat, der allerdings nach wie vor seine Spuren im Alltag hinterlassen hat – angesichts von omnipräsenten Desinfektionsspendern, fallengelassenen Masken auf dem Bürgersteig und unbeholfenen Tanz-ähnlichen Bewegungen beim Begrüßen, da noch nicht ganz klar ist, ob der Handschlag rehabilitiert ist oder nicht. So wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft neue Regeln aufstellen mussten und nun abwägen, welche dieser Regeln archiviert werden können, bevor sie im Herbst ihr Revival feiern, mussten wir für uns persönlich ebenfalls neue Abläufe und Gewohnheiten etablieren, unsere Art des Lebens anpassen und damit umgehen lernen, dass Krankheit und Tod traurige Must-haves in unser aller Leben sind. 

Die Allgegenwart von Krankheit führt dazu, dass die eigene körperliche Verletzlichkeit, die faktischen Einschränkungen, Verluste und Einschnitte, die man erlebt hat, irgendwie eingeordnet, verarbeitet und eventuell sogar sinnvoll in das eigene Leben integriert werden müssen. Resilienz als die Fähigkeit, das innere Gleichgewicht gegen Störungen und Angriffe von außen beizubehalten, hat hierdurch eine ganz neue Bedeutung erhalten. Auch wenn vieles jetzt gerade zurück zu „normal“ pendelt, können die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie nicht geleugnet werden. Entsprechend rückt in den Vordergrund, dass Gesundheit nicht nur eine Sache des Körpers, sondern eben auch der Psyche – oder etwas spiritueller ausgedrückt – der Seele ist. 

Wo aber die Seele im Spiel ist, da ist auch die Religion nicht weit. Zu der Frage, was Gott bzw. sein Handeln in der Welt mit Ursprung und Verlauf der Pandemie zu tun hat, ist schon viel aus theologischer Sicht geschrieben worden. Auf der ganz praktischen Ebene stellt sich für mich allerdings nach wie vor die Frage, ob man nicht noch mehr Lehren aus der Pandemie ziehen kann als die Einsicht, dass Weihwasserbecken in hygienischer Hinsicht dubios sind. Müsste man nicht gelernt haben, dass Krank-Sein immer nicht nur etwas mit dem Körper macht, sondern den ganzen Menschen mit Leib und Seele in Beschlag nimmt und wir deswegen nicht nur eine Körper- sondern auch eine Psychohygiene brauchen? 

Im Rahmen der in Kooperation von ZeKK, CTSI und der Theologischen Fakultät Paderborn stattgefundenen internationalen Tagung vom 16.-18.06. zum Thema „Health and Religion“ wurden aus interreligiöser Perspektive vielfältige Fragen zum Zusammenhang von Krankheit, Gesundheit, Religiosität und Gottes heilendem Wirken in der Welt (bspw. das islamische Konzept des shifa oder Christus als Arzt und Heiler) thematisiert. Den Hauptvortrag am Abend hielt der Professor für Global Health des Universitätsklinikums Bonn Walter Bruchhausen, der die Bedeutung des Zusammenwirkens von Religion und Medizin in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft betont hat. Dabei gehe es eben nicht darum, dass Religion die Aufgaben der Medizin übernehme, sondern darum, dass die große Bedeutung der persönlichen Spiritualität nicht nur derjenigen, die von Krankheit betroffen sind, sondern auch derjenigen, die im Gesundheitssektor arbeiten, stärkere Beachtung finden sollte. Hier kommt die Fähigkeit zur Resilienz wieder ins Spiel. Wer – auf welcher Seite auch immer stehend – tagtäglich mit Krankheit und Tod konfrontiert ist, braucht funktionierende coping-Strategien und eine Sinngebung für das eigene Tun, die über die Logiken des Marktes hinausgeht. Diese Sinngebung muss nicht zwingend religiös fundiert sein, allerdings zeigt sich Religion doch bleibend als wichtiger Player auf dem Spielfeld der Suche nach Motivation und Zielsetzung des eigenen Handelns. 

Die Tagung hat die Möglichkeiten eines Zusammenspiels von Spiritualität bzw. Religiosität und Health Care eindrucksvoll vor Augen geführt und damit noch einmal deutlich gemacht, inwieweit Religionen durchaus systemrelevant sein können. 

Dr. Cornelia Dockter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katholisch-theologischen Fakultät Bonn.

#Krankheit #Religion #Mental Health #Resilienz

Islam through the lens of Drama 

 “Faten Amal Harbi” represents my Egyptian dramatic discovery of this year. The events of the work revolve in a dramatic social setting, around the tragedy of „Faten“, with her husband and her marital problems with him, so she decides to separate from him, thinking she has managed to eliminate her problems, but she faces other crises with certain provisions of the Personal Status Law, which decides under the name of law derived from Sharia to deprive her of her two daughters if she remarries another person.

Faten’s struggle continues in the court of Judge David, who has always been a supporter of one side (Sharia), and who always insists on telling her that his job is to apply the laws and not to make justice.  Faten, after making sure that the source of this law is human, resorts to the Qur’anic text, proves the illegitimacy of this law, and even succeeds in sending it back for revision and modification. 

In general, both Drama and cinema are faced with rejection and hostility from many jurists, who keep on making fatwas regarding the forms and contents of works. However, both Arts continue to stimulate the Muslim realities and many works moved on from treating the topic of the Muslim history and victories and tried to break the silence on other topics that touch on the details of the sensitive reality within Muslim societies. The Drama embraced thorny issues, overlapping and clashing with the hottest of these topics; such as differences in religions, the relationship between Muslims and Christians, issues of religious extremism, violence, terrorism, and other propositions that used to be the preserve of news bulletins.

“Faten Amal Harbi” is a work that sparked a lot of debates not only in Egypt but also in many other Muslim countries, not only because it succeeded in reviewing a law that is derived from Sharia, but also because it succeeded to trigger the Muslim awareness to reconsider the divine laws which are set in the Qur’anic text and the human laws which are based on al-‚ijma’, al-ijtihad, al-iastihsan, or al-qiyas and to differentiate between what is variable and what is invariable. And how many Davids, who apply the rules and not justice, still exist in our courts?

Nadia Saad ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#Drama #Islam #Justice

Wenn Kinder Theologie betreiben

Meine Kinder haben sich neulich gestritten. Das an sich ist kein Novum. Aber das Thema ihres Streitgesprächs fand ich diesmal hochinteressant. Es enthielt viele Reminiszenzen theologischer Debatten der Frühphase islamischer Theologie. Zum Kontext: An dem Tag war die Mama gesundheitlich angeschlagen und lag flach im Bett. Meine Tochter (7,5 Jahre), Erstklässlerin, besucht den Moscheeunterricht in unserer Gemeinde, und der Hodscha, der zugleich auch deren Opa ist, erklärt ihr so manchmal „die Welt“. Der Sohn ist sechs und geht in den Kindergarten. Ich skizziere kurz deren Streitgespräch, das ich am liebsten aufgenommen hätte:

Sie: „Weißt du, Mama ist krank, weil Gott es so will. Dedo (Opa) hat gesagt, dass alles was passiert, dass es so Gott will.“

Er: „Nein!“

Sie: „Doch! Dedo hat das so in der Moschee gesagt. Gott will alles und er weiß alles.“

Er: „Nein! Gott will nicht, dass Mama krank ist!“

Sie: „Aber Dedo hat das so gesaaaagt!“

Das wiederholte Autoritätsargument brachte den Kleinen zum Weinen. Ihm fehlten die Argumente, die Liebe und Barmherzigkeit Gottes bekräftigen, und in seinem lauten Aufschrei erklang der Protest gegen die Vorstellung eines Gottes, der auch das Üble in der Welt will und erschafft. Zu dem Zeitpunkt war ja die Tatsache, dass Mama krank ist, das größte Übel seiner kleinen Welt. Meine Tochter fing dann auch gleich an zu weinen: entweder weil er ihr nicht glaubt oder weil sie selbst diese Erklärung der ewigen Frage „unde malum?“ nicht mag.

Ich musste mich dann in das Gespräch einmischen, als es nicht mehr um die geäußerten Argumente ging, sondern nur darum, wer lauter schreien und besser weinen kann, um somit das Streitgespräch zu gewinnen. (Ich frage mich jetzt aber, ob es auch nicht so ähnlich – mit vielleicht etwas sophistizierteren Methoden – in den theologischen Debatten der Frühzeit gewesen ist?!)

Das Theodizeeproblem musste ich also derart aufklären, dass beide Seiten zufrieden sind. Einerseits muss weiterhin gelten, was der Hodscha in der Moschee erzählt, denn eine der sechs Glaubenssäulen im Islam ist ja der Glaube an qadar, dass nämlich „alles was passiert, mit dem Willen Gottes passiert.“ Außerdem hat das doch der Hodscha gesagt, und „er weiß ja alles über Gott und Islam.“ Andererseits müsste ich die Vorstellung eines liebenden, barmherzigen Gottes, der ja nur das Beste für alle Menschen will – so auch für die momentan kranke Mama – untermauern.

Ich bin auf eine klassische versöhnende Erklärung ausgewichen, während sie beide ihre Tränen weggewischt haben: „Es stimmt, dass Gott alles will. Er will aber Mama durch die temporäre Krankheit nichts Böses antun, sondern nur prüfen, ob Mama mit Allem, was so von Gott kommt, zufrieden und dankbar ist, oder ob sie bei jeder Kleinigkeit jammert. Also, ihr beide habt recht: Gott liebt uns alle, und will nicht, dass es uns schlecht geht. Und für alles was uns an Bösem trifft, solange wir zufrieden, geduldig und dankbar sind, werden wir von Gott belohnt.“ Meine Tochter schien mit dem Schiedsspruch zufrieden zu sein, da ihre Weltvorstellung noch standhielt: der Hodscha/Opa hatte doch recht und sie hat es gut im Moscheeunterricht verstanden und dem Bruder übermittelt. Meinem Sohn schien noch ein abschließendes Argument für die „Verteidigung“ seiner Position zu fehlen. Nicht etwa ein Koranvers, denn er kennt diese noch nicht. Als Argument fiel mir dann ein Kinderlied aus seinem evangelischen Kindergarten ein. Ich fragte: „Singt ihr denn auch etwa nicht beim Essen im Kindergarten: 

Alle guten Gaben, 

alles, was wir haben, 

kommt, o Gott, von Dir, 

wir danken Dir dafür.

Jedes Tierlein hat sein Essen, 

jedes Blümlein trinkt von Dir. 

Hast auch Du uns nicht vergessen 

Lieber Gott, wir danken Dir.

Damit hat er sich begnügt und beendete das ihm sehr bekannte Lied: „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – Guten Appetit ihr Lieben!“. Und dieser Ohrwurm, der sich mir – gesungen von 20 Kleinkindern vor dem Essen in einer sehr stressigen Eingewöhnungsphase im Kindergarten – tief ins Gedächtnis eingeprägt hat, hat sich endlich auch gelohnt!

Ahmed Husic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie.

#kinder #theologie #Gott #Wille

Dust to Dust

Some stories about our lives we live to tell. But many we do not, for these may only be told after we are no longer alive to tell them.   

Walking through a cemetery provides ample opportunity to reflect on how the dead speak, or are spoken for, by the graves that contain them. For some, nothing less than a mini mausoleum will do. What shape this takes will depend on one’s faith, tastes and graveyard by-laws (death might liberate us from suffering and mortality but the coils of administrative rules endure into the great abyss!). I must admit I usually walk quickly past these graves. The elaborate carvings of angels, the miniature domes and elaborate calligraphic laments appear to me to be an unceasing howl from the big beyond. Do the dead get bored seeing the same engraving over themselves until they are resurrected out of their graves? I am always drawn to the graves that narrate in silence the lives extinguished beneath them. Muslims will often leave instructions that their graves are to be a mound of earth and dust with nothing solid to record their existence. What I hear when I see these graves are the words of the Qurʾān: “All that is upon it perishes: and there remains only the face of your Lord of majesty and honor” (Q. Al-Raḥmān 55:27). 

On a recent walk through a Muslim cemetery, I was struck by the irony and profundity of a marbled tombstone etched with words from the Sufī poet Bābā Farīd, reflecting on our most enduring memorial:

“Behold Farīd, blowing dust

Dust piling upon more dust.

Laughing dust, weepy dust

Dust ending into dust.

Say not, servant, “me” and “mine”

For it is not yours, nor mine.

Our world is a four day bustle

Then a pile of dust.“

Abdul Rahman Mustafa ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Paderborner Institut für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#dust #graves #cemetry

Umma for Future?! – Muslim*innen und der Umweltschutz

Als ich und meine Studierenden am Freitag, den 20.05. im Seminar sitzen und über den Umgang mit dem Koran in pädagogischen Kontexten diskutieren, schaue ich hin und wieder aus dem Fenster und denke, dass die Wettervorhersage mit der Unwetterwarnung wieder einmal übertrieben hat. Abgesehen von mal kräftigen/kurzen Regenschauern und Nieselregen, kann ich noch nichts Beunruhigendes sehen. Erst am späten Abend, als ich wieder in meinem Zuhause 100 km entfernt von Paderborn ankomme, sehe ich bestürzt in den Nachrichten, was in Paderborn, ca. 4 km von der Universität entfernt, in kürzester Zeit passiert ist: demolierte Autos, zersprungene Fensterscheiben, ein Meer aus Dachziegeln, Ästen und Scherben auf den Straßen und viele verletzte Menschen. Freund*innen und Kolleg*innen posten in den sozialen Medien ihre Aufnahmen von durch die Luft fliegenden Gegenständen und Verkehrsschildern und Ampeln, die wie Streichhölzer umzukippen scheinen. 

Die Ereignisse der letzten Woche zeigen uns anschaulich, dass die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise auch in unserem Leben angekommen sind. 

Wenn ich mich mit Muslim*innen über den Klimawandel unterhalte, nehme ich unterschiedliche Reaktionen darauf wahr. Für manch eine ist es ein Zeichen der nahenden Apokalypse, von dem der Koran in vielen Suren anschaulich berichtet und ähnliche Weltszenarien eindrücklich beschreibt. Die Mehrheit hingegen sieht den Klimawandel als von uns Menschen gemacht an und erkennt einen Zusammenhang zwischen unserem Umgang mit den natürlichen Ressourcen der Erde und unserem Lebensstil. Auch wenn mein soziales muslimisches Umfeld kein repräsentatives Abbild der muslimischen Communities in Deutschland darstellt, ist zunächst festzuhalten, dass das Thema Umweltschutz auch Muslim*innen durchaus beschäftigt. Noch vor einigen Jahren belächelt, wenn ich es vorgezogen habe, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, plastikreduziert einzukaufen oder die Kinder nicht mit Wegwerfwindeln zu wickeln, setzen sich nun auch verstärkt Muslim*innen mit Umwelt- und Klimaschutz auseinander. 

Längst gibt es Initiativen, die etwa Halal nicht nur auf die Schlachtung des Tieres beziehen, sondern dazu auch die artgerechte Tierhaltung zählen. Auch gibt es Initiativen, die Alternativen gegen Lebensmittelverschwendung und Plastikgeschirr beim gemeinschaftlichen Fastenbrechen im Ramadan in Moscheen anbieten. Es verwundert nicht, dass diese in ihren Internetauftritten auch islamisch-theologische Inhalte aufweisen und eine islamische Umweltethik auf der Grundlage des Korans aufarbeiten. Es dürfte klar sein, dass man kaum Muslim*innen finden würde, die den Inhalten dort theologische Gegenargumente entgegenbringen könnten. 

Geht man nun einen Schritt weiter und betrachtet, wie viele Muslim*innen bestrebt sind, ihren Alltag ökologisch bewusster zu gestalten, stößt man jedoch auf eine große Diskrepanz: Umweltschutz ist unter Muslim*innen weiterhin nur eine Randerscheinung, die die große Mehrheit der Muslim*innen nicht erreicht bzw. nicht für sich als relevant erachten. Umweltschutz taucht weder als Thema in medialen Beiträgen noch in der Praxis der Moscheen oder der großen Dachverbände auf, eher im Gegenteil: Der Anblick der Müllberge beim Besuch von Kermesveranstaltungen in vielen Moscheen derzeit oder auf dem Festi Ramazan im April rufen bei vielen den Alltag umweltbewusst gestaltenden Muslim*innen blankes Entsetzen hervor und führen zu Diskussionen darüber, wie man sich in dieser Situation gleichzeitig solidarisch mit der Moschee zeigen soll und dabei ignorieren könne, welche Schäden die bei der Aktion entstehenden Müllberge aus Einweggeschirr für die Natur bedeuten.  

Dabei gibt es bislang erprobte Konzepte zur Müllvermeidung speziell für Großveranstaltungen. Über die Gründe dieses fehlenden Einsatzes unter vielen Muslim*innen kann nur spekuliert werden. Möglicherweise sind umwelt- und klimabewusstes Handeln ein Thema des Bildungsbürgertums. Studien belegen, dass auch in der Mehrheitsgesellschaft das Thema überwiegend bei bildungsorientierten Schichten Anklang findet. Auch wenn Muslim*innen in Deutschland zu den Bildungsaufsteiger*innen zählen, bilden sie aber noch lange nicht die Mehrheit in den einzelnen Moscheevereinen ab. 

Um Veränderungen zu bewirken, bedarf es einer intensiven Diskussion in muslimischen Communities. Möglicherweise zählt auch das Argument, dass viele Muslim*innen sich weiterhin an ihren Herkunftsländer orientieren. Da Umweltschutz dort keine allzu wichtige Rolle spielt, verwundert es kaum, wenn es für sie auch nicht auf der Tagesordnung steht. 

Deshalb setze ich meine Hoffnung in die junge Generation, die sich, anders als ihre Elterngeneration, als deutsche Muslim*innen verstehen und durch ihr verändertes Bewusstsein und wachsendes gesellschaftliches Engagement manch einen muslimischen Dachverband und Moscheeverein zu mehr umwelt- und klimabewusstem Verhalten bewegen. 

Dr. Naciye Kamcili-Yildiz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie an der Universität Paderborn.

#Unwetter #Klimawandel #Islam #Bildung #Nachhaltigkeit

Oft Gesagt

Meine Mutter hat mir oft gesagt “Jeder Mensch hat seine Gründe. Dafür was er denkt, wie er handelt. Dafür was er nicht denkt und wie er nicht handelt. Bitte versuch diese Gründe zu verstehen und zügle dein Urteil.” Und so häufig ich mich in all den Jahren immer wieder dabei erwischt habe, mit dem Urteil schneller zu sein als mit der Suche nach Gründen, ist es sicherlich dieser Satz, der mir die Empathie eines Jesus von Nazareth, aber auch die hermeneutischen Anliegen diskursiv-komprehensiver Wissenschaftstheorien so sympathisch erscheinen lässt.

Der Gedanken verliert seine Trivialität in dem Moment, in dem wir darüber nachdenken, wie wir, acht Milliarden Menschen, zusammenleben wollen (und können!). Das gute Verständnis füreinander, für unsere Hoffnungen und Ängste, ist die Basis, von der Gerechtigkeitskonzepte aus ihren Sinn erhalten und nicht zuletzt in politischen oder wirtschaftlichen Institutionen verwurzelt werden.

In den letzten Jahren hat mich jedoch zunehmend ernüchtert, dass ich trotz bester Verstehensabsicht, die Welt und die Gründe der Menschen doch nur immer weniger zu begreifen vermag. Die Paradoxien und Widersprüchlichkeiten unserer weltweiten Entwicklungen lassen mich immer häufiger stolpern über vermeintlich gute Ziele, lähmen meine Geduld und Ausdauer. Einerseits leben und werben wir ständig dafür, die Gründe für eine bestimmte Weltdeutung oder eine Handlungsorientierung miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir setzen darauf, dass die deliberative Verständigung am Ende ein Minimum an Rationalität bei einem Maximum an Heterogenität in den Entscheidungsfindungsprozessen gewährt. Andererseits merken wir ständig, dass der Rationalitätsnachweis uns nicht motiviert auch umzusetzen, was wir zuvor als das bessere, richtigere oder nachhaltigere Vorgehen bestimmt haben. 

Und ja, in religiöser und nicht-religiöser Weisheitsliteratur ist immer wieder die Rede davon, dass genau dies unsere Menschlichkeit ausmacht: Gutes zu wollen und es – along the way – dann doch zu vergessen, zu ignorieren, zu versäumen. 

Mittlerweile haben viele kluge Menschen diese beinah alltägliche (Selbst-)Erkenntnis soziologisch ausgearbeitet, psychologisch verklammert und durch unsere kulturellen Brenngläser fokussiert. Nun weiß ich, dass wir mit der Steigerungslogik  überfordert sind und uns deshalb lieber mit diversen Angeboten aus Internet und Medien zerstreuen, anstatt füreinander einzustehen; nun kann ich erklären, warum Ressourcenverbrauch, Ausbeutung und Naturzerstörung ständig zunehmen, obwohl uns niemals klarer war, dass die planetaren Grenzen erreicht sind; nun vermag ich die riesigen Autos, festungsähnlichen Häuser und ideologischen Glasperlenspiele als Überkompensation unserer Unsicherheit und Angst zu deuten. Und dennoch: Je besser ich die Gründe der Menschen zu verstehen meine, umso schwerer lässt sich der Status-quo akzeptieren. Sicher bin ich mit diesen Gedanken nicht alleine, denn zeitgleich nimmt die Suche nach alternativen, nachhaltigen, solidarischen Lebensformen zu. Konzepte wie Paradising oder Postgrowth ergründen Möglichkeiten, um das Gesollte als ein Gewolltes einholen zu können. Neben den Graswurzelbewegungen der letzten Jahre könnten gerade auch religiöse Gemeinschaften als Pionier*innen für Veränderungen ein sozialpolitisches Echo erzeugen, Mitmenschlichkeit nicht nur predigen, sondern lebbar machen. Und wenn uns auch hier ein ums andere Mal die Geschichte zu überholen droht, so fordert mein Glaube mich auf, nicht zu resignieren und in meiner Zeit das zu tun, was ich tun kann. Es ist dieser Glaube, an dem sich ohne Sentimentalitäten die Hoffnung auf eine humanere, friedlichere Zukunft entzündet. Und nun erinnere ich wieder meine Mutter, die auf mein Murren mit einem geduldigen Lächeln mindestens ebenso oft betont hat, dass es eben diese Hoffnung ist, die sich mit kleinherzigen Gründen nicht zufriedengeben kann. 

Dr. Anne Weber ist Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Kirche in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.

#Mutter #Hoffnung #Verstehen #Durchhalten

Ose Schalom Bimromav: Er, der in seinem hohen Himmel Frieden stiftet (Job 25,2)

Für einen jüdischen Weisen des 15. Jahrhunderts, Isaac Arama (1420-1494) war das Konzept von Shalom im Judentum mit seiner Vielzahl von Bedeutungen eine Art Stabilisator (Kaminski): „Shalom (…) ist das Element in der Natur, das die Bestandteile aller Dinge zusammenhält und stabilisiert, so dass sie ihre essentielle Qualität {ihre Integrität} bewahren.Das bedeutet auch, dass seine Abwesenheit in der Natur Spaltung und Degeneration zur Folge hat.

Shalom ist aber nicht nur ein stabiler Zustand, es ist das formende Element, das eine lebenswichtige Funktion erfüllt, wie die Luft für das Leben auf der Erde oder die DNA für die Übertragung der Erbmerkmale, die Menschen und die meisten Organismen auszeichnen. Es ist ein Element, das eine Tendenz zum Zusammenhalt und zur Einheit garantiert und Konflikte und die Möglichkeit der Zerstörung vermeidet oder abschwächt. 

Der Begriff Schalom hat die folgende Bedeutung (gemeinsam mit Salam aus dem Arabischen):

1. Vollständigkeit, Solidität, Wohlergehen

2. Sicherheit, Unversehrtheit (im Körper)

3. Wohlfahrt, Gesundheit, Wohlstand

4. Frieden, Ruhe, Zufriedenheit,

5. Frieden, Freundschaft

    a.  der menschlichen Beziehungen

    b. mit Gott besonders in der Bundesbeziehung

6. Frieden (vom Krieg)

7. Frieden (als Adjektiv)

8. Zustand. Begrüßung. Shalom Alechem

Vom abstraktesten Konzept bis zur banalen Begrüßung erscheint der Zustand von Schalom als ein Ideal, das keineswegs offensichtlich, sondern notwendig, erwünscht, zugleich erreichbar und utopisch ist. Es ist eine Herausforderung für eine Tradition, die glaubt, dass der Mensch das Göttliche und das Bösartige (ietzer hara) in sich trägt und dass sein Charakter durch den Kampf zwischen diesen Kräften bestimmt wird. Eine Binarität, die die Koexistenz des Bösen und dessen Wechsel mit Perioden des Wohlbefindens erklärt. 

Am Ende eines der wichtigsten Gebete der jüdischen Liturgie, des Kaddisch, heißt es „Ose schalom bimromav…“, (Er, der in seinem hohen Himmel Frieden stiftet. Job 25,2)

Das Gebet schreibt Gott, unter seinen unendlichen Fähigkeiten, die Fähigkeit zu, den Himmel zu befrieden. Das Interessante dabei ist, dass das Gebet davon ausgeht, dass es im Himmel auch Konflikte, Spannungen, vielleicht sogar Krieg gibt. Vielleicht spiegelt die Erde einen Schatten der himmlischen Konflikte wider? Und wenn ja, wie würden diese himmlischen Konflikte aussehen? Oder ist es andersherum? Spiegelt der Himmel die Spannungen wider, die auf der Erde herrschen, denn schließlich wurde der Mensch so erschaffen, wie er erschaffen wurde?

Das Gebet appelliert an ein göttliches Eingreifen, um Frieden zu erreichen, an eine Garantie von demjenigen, der mit seinem Wort erschafft und die Fäden dessen zieht, was in der Welt geschieht. Das Gebet wird mit einem Appell fortgesetzt, der zwar exklusiv ist, aber auch Raum für Zweideutiges lässt: … möge er Frieden über uns und über das ganze Volk Israel bringen, und wir sagen Amen.  In der traditioneller Liturgie ist dieses uns, jede einzelne jüdische Gemeinschaft. Heute, aber, interpretieren wir, dass dieses uns die gesamte Menschheit ist. Jeder Krieg und jeder Friedenszustand beeinflusst die ganze Welt. Diese Neuinterpretation eines alten Gebetes zeigt, dass wenn Frieden herrscht, dieser nicht exklusiv ist. Die Idee des Friedens des Himmels projiziert sich auf uns auf der Erde, auf uns als universelles Kollektiv und dann auch auf Israel.

In diesen Zeiten des Krieges brauchen wir dringend ein göttliches Eingreifen. Solange es keine Anzeichen dafür gibt, bete ich mit einer naiven Hoffnung, dass es den Menschen, die die Fäden über Leben und Tod in der Hand halten, gelingen wird, den dringenden Ruf nach Schalom in all seinen Bedeutungen zu akzeptieren. 

Liliana Furmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.

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