Mit den Gaststudenten aus Le Mans durch die Stadtgeschichte

Wer eine berufliche Laufbahn bei einer europäischen Institution anstrebt, findet in Paderborn das passende Universitätsfach: „Europäische Studien“. Gemeinsam mit der Universität der französischen Partnerstadt Le Mans betrieben, vermittelt er seinen Studierenden fundierte historische, kulturelle und sprachliche Kompetenzen für die Arbeit auf internationaler Ebene, beispielsweise bei der Europäischen Union. Studierende aus Paderborn verbringen während ihrer Bachelor-Zeit ein ganzes Jahr an der Universität Le Mans. Es finden regelmäßig wechselseitige Besuche statt. Diese Woche ist eine Gruppe französischer Studierender zu Gast in Paderborn: Sie möchten vor ihrem Auslandsaufenthalt erste Eindrücke von der Stadt und ihrer Universität gewinnen.

Als „Kulturerbe“-Student habe ich im Jahre 2016 selbst ein Auslandssemester in Le Mans verbracht. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die reizende Altstadt mit ihren kleinen Kunstgalerien und Antiquitätenläden, die prachtvolle Kathedrale und die spätantike Stadtmauer. Es ist mir daher eine besondere Freude, einen der französischen Gäste bei mir aufnehmen zu können: Adrien ist angehender „Europa“-Student. Dank zahlreicher Deutschlandreisen und zweier Praktika in der Tourismusbranche beherrscht er unsere Sprache bereits annähernd perfekt. Nach dem Studium möchte er im internationalen Jugendaustausch arbeiten, als Sprachlehrer oder bei einem europaweit agierenden Unternehmen. Besonders wichtig ist es ihm, dabei einen Beitrag für die Völkerverständigung in Europa leisten zu können.

Heute Nachmittag habe ich als Stadtschreiber die Studierenden aus Le Mans für einige Stunden begleitet: Zuerst bei ihrem deutsch-französischen Picknick auf den Paderwiesen und dann bei einer historischen Stadtführung. Angeführt von dem Paderborner Geschichtsprofessor Johannes Süßmann konnten die Gäste an vier besonders geschichtsträchtigen Orten etwas über die enge historische Verbindung zwischen Paderborn und Frankreich lernen und über die Wirkmächtigkeit historischer Mythen.

  1. Paderquellen und Kaiserpfalzen: Wie Süßmann den Gästen erklärte, entspringt hier Deutschlands kürzester Fluss, dem die Stadt Namen und Existenz verdankt. „Born“ ist nämlich ein altes Wort für „Brunnen“, daher ist in frühen Urkunden von „Patris Born“ die Rede, dem „Brunnen des Vaters“. Aufgrund dieses Wasservorkommens gründete Karl der Große im
    In jeder Hinsicht die Quelle der Stadt!

    Jahre 776 genau hier Stadt und Kaiserpfalz. Letztere diente als Stützpunkt für die Unterwerfung der „heidnischen“ Sachsen. Sie war schon im folgenden Jahre Schauplatz der ersten allgemeinen fränkischen Reichsversammlung. 799 empfing Karl der Große hier den aus Rom geflohenen Papst Leo III, ein Treffen, das in die berühmte Kaiserkrönung zu Weihnachten des Jahres 800 mündete. Paderborn sei daher in vielerlei Hinsicht auch für die französische Geschichte ein wichtiger Erinnerungsort.

Das Gebiet um Paderquellen und Kaiserpfalzen, wie es sich dem Besucher heute darbietet, ist nach Süßmann aber ein Produkt der 1970er Jahre. Erst in Folge der Zerstörungen des 2. Weltkriegs und der archäologischen Grabungen wurden ab 1964 die historischen Fundamente der Pfalzen sowohl Karls als auch des späteren ottonischen Kaisers Heinrich II. freigelegt. Letztere habe man im alten Stile wiederaufgebaut, um bewusst an Paderborns alte Geschichte anknüpfen zu können. Dem Wunsch den illustren Frankenherrscher besser greifen zu können, war nach Süßmann auch die Deutung eines alten Treppenhauses als „Thron Karls des Großen“ geschuldet.

Ein weiteres wichtiges Bindeglied zwischen Frankreich und Paderborn stellt der Heilige Liborius da. Dessen Gebeine wurden im Jahre 836 aus Le Mans verbracht, um die Autorität der hiesigen Missionsbischöfe zu stärken. Von mal mehr mal weniger intensiven Pilgerströmen aufgesucht, wurde Liborius zum wichtigen Symbol des Paderborner Katholizismus. Nicht umsonst ließ ein protestantischer Kriegsherr, der die Stadt im Dreißigjährigen Krieg eroberte, den Schrein demonstrativ einschmelzen und aus dem Metall Münzen prägen.

Laut einer von Süßmann erzählten Legende hat der Heilige sich für dieses Sakrileg revanchiert: So soll Liborius bewirkt haben, dass Frankreich nach dem Krieg seine schützende Hand über Stadt und Bistum gehalten hat. Eine Angliederung an das protestantische Hessen-Kassel konnte so verhindert werden! In Folge dieser bis ins 18. Jh. ausgeprägten „French Connection“ war Paderborn laut Süßmann „fast eine französische Kolonie gewesen“, auch wenn dies manch Zeitgenosse nicht gerne hören würde. Viel Geld für den lokalen Kirchenbau sei aber aus Frankreich geflossen.

  1. Paradiesportal des Paderborner Doms: Dieses stellt nach Süßmann ein weiteres Beispiel für französischen Einfluss da. Die aus dem frühen 13. Jh. stammenden Figuren entsprachen nämlich einer Innovation der französischen Gotik. Sie wurden erst nachträglich in das romanische Säulenportal eingefügt. Ähnlich innovativ war seinerzeit die zentrale Marienfigur, bei der es sich um die älteste derartige Darstellung der Gottesmutter in Deutschland handeln könnte. Bis dahin sei es nämlich üblich gewesen, sie nicht in stehender, sondern in sitzender Haltung darzustellen. Auffällig sei auch die lebendige Haltung des kleinen Jesus. Er
    Rechts im Bilde der schreibende Stadtschreiber.

    wurde nicht mehr als König, sondern primär als Kind dargestellt, das mit seiner Mutter spielt, laut Süßmann ein Ausdruck von Verbürgerlichung.

Den Gästen empfahl Süßmann, bei Gelegenheit die heutige Krypta des Heiligen Liborius im Dom zu besuchen. Dessen Verehrung habe während des 19. Jh. nachhaltig an Bedeutung gewonnen, vor allem in Opposition zu Bemühungen um die Trennung von Staat und Kirche. Die Pracht des jährlich begangenen Libori-Fests ist nach Süßmann eines der „Überbleibsel aus dem Kulturkampf“ gegen die preußisch-liberale Regierung.

  1. Paderborner Rathausfassade: Bei dieser handelt es sich um eine der eindrucksvollsten in Deutschland. Pracht und Gestaltung sind Ausdruck des städtischen Selbstbewusstseins im frühen 17. Jh., als eine zeitweise mehrheitlich protestantische Bürgerschaft ihre Emanzipation von der katholischen bischöflichen Stadtherrschaft anstrebte. Auf die heute nicht mehr vorhandene protestantische Stadtkirche ausgerichtet, ist die Rathausfassade nach Süßmann ein „Baudenkmal dieses Kampfes um Paderborn“ und ein „Programmbau für kommunale Selbstverwaltung“. Ihre Achsensymmetrie sei damals modern gewesen und damit ein Ausdruck für eine neue politische Gesinnung. Die Arkaden sollten dort versammelten Menschen Schutz vor Regen bieten, aber vor allem nach italienischem Vorbild einen öffentlichen Raum der Kommune markieren.

Der von Jesuiten beeinflusste Bischof Dietrich von Fürstenberg (1546 – 1618) wollte derartige republikanisch-protestantische Umtriebe in „seiner“ Stadt allerdings nicht dulden. Er ließ sogar einen Bürgermeister als Hochverräter enthaupten. Als architektonisches Gegengewicht zum Rathaus entstanden Schloss Neuhaus und die Wewelsburg, deren Geschichten daher besonders eng mit der Stadtgeschichte Paderborns verknüpft sind.

  1. Barocke Jesuitenkirche: Bei der Rückgewinnung der Paderborner Bevölkerung für den Katholizismus spielten die von Dietrich von Fürstenberg in die Stadt geholten Jesuiten eine zentrale Rolle. Mit französischem Geld wurde Ende des 17. Jh. die prächtige barocke Jesuitenkirche errichtet. Ihr Vorplatz diente als Bühne für Jesuitendramen und als Ausgangspunkt für die liturgischen Prozessionen, mit denen der Stadtraum systematisch zurückgewonnen wurde. So wurde Paderborn wieder zu einer mehrheitlich katholisch geprägten Stadt, trotz des anfänglichen Fortlebens eines „Untergrundprotestantismus“.
Last but not least bei der Stadtführung: Die Jesuiten als treibende Kraft hinter der Rekatholisierung Paderborns ab dem 17. Jh.

Neben der Jesuitenkirche finden sich das alte Jesuitengymnasium und die heutige Theologische Fakultät, die damals die jesuitische Universität beherbergte. Letztere begründete die Tradition Paderborns als Universitätsstadt. Sie diente den Jesuiten bis zu ihrer Schließung durch den preußischen Staat im 19. Jh. als Kaderschmiede und „assessment centre“. Da kein Schulgeld erhoben wurde, konnten hier kluge Nachwuchskräfte auch aus ärmeren Schichten für kirchliche Ämter in den Zentren Köln und Rom ausgebildet werden.

Prägt den Kamp wie sonst nur die Venus: das Denkmal des Jesuiten Friedrich Spee.

Einer der dortigen Professoren, Friedrich Spee (1591 – 1635), wird bis heute mit einem Denkmal geehrt. So verfasste er eine besonders engagierte Schrift gegen den Einsatz der Folter bei Hexenprozessen, da diese zwangsläufig zu einem Geständnis führen muss. Aufgrund dieser These musste er Paderborn verlassen und floh nach Trier, wo er Pestkranke behandelte und deshalb selbst an dieser Krankheit verstarb. Später ist er von der Kirche seelig gesprochen worden.

Durch die Teilnahme an der historischen Führung, deren Inhalt ich nur stark verkürzt (wenn nicht gar verfälscht) wiedergeben konnte, habe ich nicht nur viel Neues über die Paderborner Geschichte gelernt. Sie hat mir auch vor Augen geführt, wie gut man diese Geschichte aus dem heutigen Stadtbild ablesen kann, sofern man über das entsprechende Wissen verfügt. Neben dem Besuch der stadtgeschichtlichen Museen ist daher auch die Teilnahme an einer vergleichbaren Führung mit Nachdruck zu empfehlen.

Unsere Gäste aus Le Mans haben in jedem Falle einen spannenden ersten Einblick in die Geschichte und Architektur der Stadt bekommen, den viele bei ihrer baldigen Rückkehr als Erasmus-Studierende vertiefen werden!

Herzliche Grüße und bis bald,

Ihr Paul Duschner

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