Die Venus vom Kamp

Man begegnet ihr, wenn man in der Paderborner Innenstadt den Kamp entlang in Richtung Marktkirche spaziert: die Statue einer Dame auf einem quadratischen Sockel, mit einer für die kalte Jahreszeit ganz ungenügenden Bekleidung. Dass sie nicht der Erregung öffentlichen Ärgernisses bezichtigt wird, verdankt sie vor allem ihrer Berühmtheit. Man kennt ihre Erscheinung aus dem Geschichtsbuch und aus Reiseführern. Vergleichbare Standbilder zieren die Eingangsräume von Künstlerateliers und mediterranen Restaurants. Längst haben sie die Fähigkeit verloren selbst den konservativsten Zeitgenossen zu empören.

Ebenso vertraut sind die Identität der Abgebildeten und die Geschichten, die man sich seit Jahrtausenden über sie erzählt: Ihr Sieg in einem Schönheitswettbewerb soll zum Krieg um Troja geführt haben und ihr Sohn ist angeblich Stammvater der Römer. Es handelt sich, wie dem Leser längst bewusst ist, um die antike Liebesgöttin: Aphrodite bei den alten Griechen genannt und Venus bei den Römern.

Darstellungen der Göttin mit spärlicher oder überhaupt keiner Bekleidung finden sich in der antiken Kunst ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. Auch Skandale sind überliefert: Dem Bildhauer Praxiteles soll es gelungen sein, eine Marmorstatue von solcher Schönheit anzufertigen, dass Menschen von nah und fern ihren Tempel auf der Insel Knidos besuchten. Ein junger Mann konnte nicht widerstehen! Er versteckte sich und ließ sich eine Nacht mit der Statue einschließen. Ob er sich am nächsten Morgen vor Schande selbst von den Klippen stürzte, oder ob ihm von den erzürnten Inselbewohnern dabei geholfen wurde, ist nicht bekannt…

Konkretes Vorbild für die „Venus vom Kamp“ ist die „Venus von Milo“, so benannt nach der ägäischen Insel Melos, auf der sie im Jahre 1820 von einem Bauern entdeckt wurde. In einem Handgemenge zwischen osmanischen und französischen Soldaten konnten sich letztere durchsetzen: So fand die Göttin ihren Weg in den Pariser Louvre. Dessen Galerien hatten sich nach der Niederlage Napoleons 1815 deutlich geleert, da die Siegermächte ihre nach Frankreich verbrachten Kunstwerke ins eigene Land zurückholen konnten. Unter diesen befand sich die berühmte „Medici-Venus“ aus Italien, die bis dahin am meisten gelobte Vertreterin ihrer Art. Für ihren Verlust war man in Paris mit der „Venus von Milo“ mehr als entschädigt. Heute ist sie sogar die deutlich Berühmtere der beiden Statuen! Selbst für die eiligsten Besucher des Louvre gehört sie zum Pflichtprogramm, wie sonst nur die „Mona Lisa“. Kunsthistoriker datieren ihre Entstehung auf das späte 2. Jahrhundert v. Chr.

Eine Besonderheit, die die „Venus vom Kamp“ von der „Venus von Milo“ geerbt hat, sind die fehlenden Arme. Was hielt die Göttin einst in ihren Händen? Ein Zepter? Einen Schild? Einen Spiegel? Oder etwa den Apfel, den der trojanische Prinz Paris ihr überreicht haben soll? Gehörte die „Venus von Milo“ vielleicht sogar zu einer Statuengruppe? Hatte sie ihre Arme zärtlich um die Schultern ihres mythischen Liebhabers geschlungen, den Kriegsgott Mars? All diese Theorien sind ebenso plausibel wie nicht beweisbar!

Zwar handelt es sich bei der „Venus vom Kamp“ um eine Kopie. Doch auch diese haben bei antiken Statuen eine lange Tradition. So dienen derartige Stücke aus Gips den Schülern der Künste seit Jahrhunderten als Zeichenvorlage. In München füllen sie beispielsweise ein ganzes Museum: Eintritt frei, gleich neben der Glyptothek!

Primäre Aufgabe der „Venus vom Kamp“ scheint es, die Aufmerksamkeit des Passanten auf die Angebote eines Bademode-Geschäfts zu lenken. Unabhängig davon trägt sie einen Hauch von klassischer Kunst und mediterraner Eleganz in die Paderborner Innenstadt. Hoffen wir, dass sie dort noch lange steht!

Herzliche Grüße und bis bald,

Paul Duschner

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