Archiv der Kategorie: Lehrerbildung in den Medien

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 2/12

Todsünde Nr. 1: Überforderung von Schule und Lehrkräften

In einer kleinen Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Es geht uns dabei nicht um eine Rezension des Buches, sondern darum, zu schauen, wie Prämissen und Argumentationen vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Nachdem wir im ersten Beitrag Autor und Werk kurz vorgestellt und uns genauer mit der Einleitung beschäftigt haben, wenden wir uns in diesem Beitrag der ersten von zehn Todsünden der Schulpolitik zu; also, Todsünden aus Sicht des Autoren. Um den weiteren Ausführungen folgen zu können, sollte man natürlich das Buch kennen und gelesen haben. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich eine Leseempfehlung aussprechen, auch, wenn man die Ansichten des Autors nicht immer teilt. Zu Beginn noch einmal der Hinweis: Im Folgenden formuliere ich viel im Konjunktiv. Das soll keine Zustimmung oder Ablehnung zu Thesen signalisieren, sondern folgt einfach den Regelungen zur indirekten Rede.

Ziele von Schule – Zu viele oder gerade richtig.?

Im Kapitel zur Todsünde Nr. 1 wird – grob zusammengefasst – dahingehend argumentiert, dass die Schule bzw. die tätigen Lehrkräfte zu viele Aufgaben bzw. Ziele verfolgen würden bzw. sollen. Dies wiederum führe zum einen dazu, dass nicht alle Ziele gleichermaßen erreicht werden können und zum anderen dazu, dass Lehrkräfte stark belastet werden, mit Folgen für die Gesundheit. Als Kernaufgaben der Schule werden „Unterricht, Wissens-, Kompetenz- und Wertevermittlung“ (Meidinger, 2021, 26) genannt, denen exemplarisch zehn weitere Zielerwartungen neben- bzw. gegenübergestellt werden. Darunter eher gesamtgesellschaftliche Zielerwartungen (z.B. Inklusion, Integration), aber auch konkretisierte Ziele eher auf Individualebene (z.B. Medienerziehung, Berufs- und Studienorientierung). Die Gegenüberstellung zu den definierten Kernaufgaben wird dabei leider nicht näher erläutert. Bspw. hat Schule natürlich auch eine Erziehungsfunktion und das Ziel „die Demokratie stärken“ (Meidinger, 2021, 26) kann auch als Teil der Wertevermittlung verstanden werden. Viele dieser genannten Ziele sind in allen Kernlehrplänen der Bundesländer verankert (einige auch schon sehr lange), häufig in den allgemeineren Teilen. Insgesamt wird bzgl. schulischer Ziele aber eine Überfrachtung konstatiert, die im weltweiten Vergleich in Deutschland einzigartig hoch sei. Sie werde insbesondere von zwei Akteur*innen an die Schule herangetragen: Bildungspolitiker*innen und Vertreter*innen der wissenschaftlichen Pädagogik. Gerade Letzteren wird polemisch – es ist ja auch eine Streitschrift – ein „Allmachtswahn“ (Meidinger, 2021, 28) als Motiv zugeordnet, der sich darin ausdrücke, neue Lehrkonzepte zu formulieren, die in der Realität nicht umsetzbar seien. Die empirisch ausgerichtete Erziehungswissenschaft hingegen könne die Umsetzbarkeit und Wirkung von Konzepten prüfen. Diese letzte Aussage ist eine Einschätzung, die ich natürlich teile (schon weil ich selbst in diesem Berufsfeld tätig bin ;)).

Grenzen der Individualisierung?

Als Beispiel für eine solche (positive) empirische Betrachtung von Bedingungen des Lernens, wird aus einer Studie – nach Autorenaussage zur Veränderbarkeit von Lernmotivation aufgrund genetischer Prägung – zitiert, in der geschlussfolgert werden würde, dass Schüler*innen aufgrund individueller Begabungen nicht zu gleichen Leistungen befähigt werden können.

„Schüler sind mit individuellen Begabungen ausgestattet, und es wird nicht möglich sein, sie durch Fördermaßnahmen auf breiter Basis zu gleichen Leistungen zu befähigen.“

(Spinath, Spinath & Borkenau, 2008, 114)

Leider ist im Text keine Quellenangabe zum Zitat enthalten. Die Möglichkeiten der Onlinesuche führen zu Spinath et al. (2008), einem Kapitel im als Lehrbuch angelegten Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Um diese Aussage etwas genauer einordnen zu können, lohnt ein Blick in das gesamte Kapitel, aus dem das Zitat stammt. Dort werden Forschungen von sozialen und genetischen Determinanten zur Lernfähigkeit von Schüler*innen zusammengefasst. In solchen verhaltensgenetischen Studien wird analysiert, zu welchen Anteilen Unterschiede in der oben beschriebenen Lernfähigkeit von Menschen durch genetische (also feste Anlagen einer Person) oder soziale (also Erfahrungen und Einflüsse des Umfelds) Einflussfaktoren erklärt werden können. Methodisch werden Zwillings- oder Adoptionsstudien durchgeführt, bei der unter verschiedenen Annahmen genetische und soziale Einflüsse kontrolliert werden können. Dabei fassen Spinath et al. (2008) den Einfluss genetischer Determinanten aus Studien auf die allgemeine kognitive Fähigkeit mit ca. 50% zusammen. Die soziale Umwelt hat also einen vergleichbaren Einfluss. Die Bedeutung genetischer Determinanten nimmt über die Lebensspanne allerdings zu. Wichtig ist: mit solchen Anteilen von Varianzkomponenten können Aussagen über Unterschiede zwischen Personen gemacht werden, nicht über Fähigkeiten einer einzelnen Person. Zugleich sind diese Anteile nicht konstant. Spinath et al. (2008) nennen die Körpergröße als Beispiel, die stark genetisch bestimmt ist: „Obwohl die Körpergröße innerhalb einer Kohorte hochgradig genetisch determiniert ist, wurden die Menschen unter sich verbessernden Umweltbedingungen immer größer.“ (Spinath et al.,2008, 113), wobei irgendwann aufgrund der beschränkten Verbesserbarkeit der Umweltbedingungen eine bisher unbekannte Grenze vermutet werden kann. „Analog dazu gilt für die Lernfähigkeit, dass derzeit keine Aussagen darüber möglich sind, wo die Grenzen der Verbesserung durch geeignete Interventionen liegen.“ (Spinath et al.,2008, 113)

Im Kontext des Textes wird dieser Bezug zur Wissenschaft hergestellt, um „die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen“ (Meidinger, 2021, 29), wobei nicht ganz deutlich wird, ob dies eher bezogen auf erzieherische oder lernunterstützende Tätigkeiten gemeint ist. Das obige Zitat wird weitergeführt mit: „Stattdessen gilt es, die vorhandenen Stärken durch individuell angemessene Maßnahmen so zu fördern, dass es allen Schüler möglich wird, ihre Potenziale bestmöglich auszuschöpfen. Ziel von schulischen […] Lernprozessen sollte demnach nicht die Egalisierung des Leistungsniveaus sein, sondern das Hervorbringen von durchaus unterschiedlichen Leistungen auf möglichst hohem Niveau“ (Spinath et al., 2008, 114). Diese individuell angemessenen Verfahren können sich natürlich auf unterschiedliche Kontexte beziehen (z.B. Maßnahmen im Unterricht, Maßnahmen auf Ebene des Schulsystems). Aus Verhaltensgenetischen Studien ergibt sich also nicht direkt eine bevorzugte Handlungsweise, sondern dort sind viele normative Entscheidungen zu treffen.

Welcher Schluss aus diesem Forschungsbeitrag für die Argumentation im Rahmen der Streitschrift gezogen werden soll, bleibt ein wenig unklar. Interpretieren lässt es sich als ein Argument gegen die Forderung eines gemeinsamen Unterrichts von Schüler*innen sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen, als Gegenposition zum vorher benannten „Allmachtswahn“ von Pädagog*innen. Dies ist allerdings eine Interpretation meinerseits und wird im Text nicht explizit formuliert. Die Quelle bezieht sich jedenfalls weniger auf (eher affektive) Lernmotivation, sondern auf (kognitive) Lernfähigkeit.

Arbeitszeit von Lehrkräften

Als weiteres und das für die im Kapitel thematisierte Todsünde eigentlich bestimmende Beispiel empirischer Bildungsforschung wird im Beitrag auf die Arbeitsbelastung bzw. genauer die Arbeitszeit von Lehrkräften im deutschen Bildungssystem Bezug genommen. Wir fokussieren für diesen Blogbeitrag auch auf die Arbeitszeit, weil im Text zugleich angemerkt wird, dass gerade die Arbeitszeit von Lehrkräften von Seiten der Landesregierungen in Deutschland bisher nicht angemessen untersucht werde, weshalb dies von Lehrerverbänden angestoßen werden müsse. Ein aktuelles Beispiel sei die vom deutschen Philologenverband initiierte LaiW-Studie (Lehrerarbeit im Wandel), die wir später noch genauer betrachten werden.

Die Arbeitszeit von Lehrkräften und auch ihr Belastungserleben wurden schon häufiger empirisch untersucht. Schaarschmidt et al. (2007) berichten bspw. basierend auf Wochenstundenangaben von N = 4181 Lehrkräften verschiedener Schulformen aus Nordrhein-Westfalen eine durchschnittliche Gesamtarbeitszeit von 62,2 Stunden für Vollzeitlehrkräfte und 49,5 Stunden für Teilzeitlehrkräfte. Hardwig & Mußmann (2018) fassen umfangreich Zeiterfassungsstudien zusammen, die zwischen 1958 und 2016 in Deutschland durchgeführt wurden. Zugleich existieren auch aktuellere Ergebnisse aus dem Raum Frankfurt (Mußmann et al., 2020). Grob zusammengefasst, stellten alle diese Untersuchungen fest, dass Lehrkräfte im Mittel mehr Arbeitszeit aufwenden, als es gemäß ihrer Dienstaufgaben bzw. vertraglichen Situation vorgesehen ist, wobei natürlich Abweichungen zwischen einzelnen Untersuchungen und Gruppen von Lehrkräften bestehen.

Die LaiW-Studie ist aber insofern bemerkenswert, als bundesweit vergleichend Daten von insgesamt ca. N = 16.000 erhoben wurden (von Januar 2018 bis Mai 2018) und die Erfassung von Arbeitszeitdaten methodisch relativ präzise erfolgte. Dabei wurden zwei Erfassungsmethoden kombiniert, ein Onlinefragebogen zur Einschätzung der Gesamtarbeitszeit einer Woche (viermal) und ein tägliches Protokoll der Arbeitszeit nach vordefinierten Tätigkeiten über einen Zeitraum von vier Wochen (Kreuzfeld, Felsing & Seibt, 2022). Methodisch interessant ist ebenfalls, dass daneben auch eine app-basierte Erfassung erprobt wurde (Felsing et al., 2019). Für Vollzeitlehrkräfte ergab sich eine durchschnittliche Wochengesamtarbeitszeit von 45.2 Stunden, für Teilzeitlehrkräfte von 36,5 Stunden (für eine bereinigte Stichprobe von N = 6109; Kreuzfeld, Felsing & Seibt, 2022; DPhV, 2020). Die Daten beziehen sich, gemäß dem beauftragenden Verband, allerdings nur auf Gymnasiallehrkräfte.

Wichtig ist zu allen diesen Studien anzumerken, dass innerhalb der Gruppe der Lehrkräfte ebenfalls große Unterschiede existieren (in der LaiW-Studie gaben bspw. 45% der Befragten wöchentliche Arbeitszeiten von über 45 Stunden an, DPhV, 2020). Diese Arbeitszeiten sind im weltweiten Vergleich allerdings nicht unbedingt herausragend hoch. Für die Schweiz ergeben sich bspw. ähnliche durchschnittliche Gesamtwochenarbeitszeiten (Brägger & Schwendimann, 2022), in England etwas höhere (Walker et al., 2019). Hohe Arbeitszeiten gehen mit hohem Belastungserleben einher, welches in vielen der erwähnten Studien ebenfalls erhoben wurde. Es lohnt sich daher, auf diese einen näheren Blick zu werfen. Aus Gründen des Umfangs können wir die Ergebnisse hierzu allerdings nicht umfassend beschreiben, auch weil die Anzahl entsprechender Untersuchungen größer ist als vergleichbare Arbeitszeituntersuchungen (siehe z.B. Rothland, 2007).

Fazit

Was lässt sich hieraus nun bzgl. der Thesen aus dem Buch schließen? Insgesamt ist es empirisch gut belegt, dass Lehrkräfte in Deutschland häufig höhere wöchentliche Gesamtzeiten arbeiten, als vorgesehen, was zu hohen Belastungen führt. Insofern ist diese Prämisse für die formulierte Todsünde Nr. 1 der Überlastung von Lehrkräften auch empirisch gut fundiert und es stimmt, dass diese Untersuchungen fast nur von Lehrerverbänden angestoßen wurden. Die Aussage der zu großen Anzahl unterschiedlicher Zielerwartungen und -vorgaben an Lehrkräfte bzw. an die Schule ist aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung schwierig zu betrachten, da diese These im Text wenig mit Bezug zu empirischen Aussagen formuliert wird (es bleibt eher eine normative Einschätzung). Auch aus dem impliziten Bezug zu verhaltensgenetischen Studien wird keine konkretere Aussage abgeleitet. Die zweite Todsünde wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er findet sich hier.

Literatur:

  • Brägger, M., & Schwendimann, B. A. (2022). Entwicklung der Arbeitszeitbelastung von Lehrpersonen in der Deutschschweiz in den letzten 10 Jahren. Prävention und Gesundheitsförderung17(1), 13-26. (Online)
  • Deutscher Philologenverband (Hrsg.) (2020). Arbeitsbelastung, Zufriedenheit und Gesundheit von Lehrkräften an Gymnasien. Presse-Konferenz in Berlin, 09.03.2020. (Online)
  • Felsing, C., Kreuzfeld, S., Stoll, R., & Seibt, R. (2019). App-basierte vs. geschätzte Ermittlung der Arbeitszeit von Gymnasiallehrkräften. Prävention und Gesundheitsförderung14(3), 281-289. (Online)
  • Hardwig, T., & Mußmann, F. (2018). Zeiterfassungsstudien zur Arbeitszeit von Lehrkräften in Deutschland. Konzepte, Methoden und Ergebnisse von Studien zu Arbeitszeiten und Arbeitsverteilung im historischen Vergleich. Expertise im Auftrag der Max-Träger-Stiftung. Georg-August-Universität Göttingen. (Online)
  • Kreuzfeld, S., Felsing, C., & Seibt, R. (2022). Teachers’ working time as a risk factor for their mental health-findings from a cross-sectional study at German upper-level secondary schools. BMC public health22(1), 1-12. (Online)
  • Meidinger, H.-P. (2021). Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift. Claudius Verlag.
  • Mußmann, F., Hardwig, T., Riethmüller, M.m Klötzer, S., & Peters, S. (2020). Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften an Frankfurter Schulen 2020. Georg-August-Universität Göttingen. (Online)
  • Rothland, M. (2007). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Springer VS. (Online)
  • Schaarschmidt, U., Fischer, A., Sieland, B., Rahm, T., & Tarnowski, T. (2007). Die Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse und Vorschläge der Projektgruppe QuAGiS zur Entwicklung eines zukunftsfähigen Arbeitszeitmodells. Projektgruppe QuAGiS (Qualität, Arbeit und Gesundheit in Schulen) des VBE NRW. (Online)
  • Spinath, F. M., Spinath, B., & Borkenau, P. (2008). Soziale und genetische Determinanten der Lernfähigkeit. In W. Schneider, & M. Hasselhorn (Hrsg.), Handbuch der Pädagogischen Psychologie (S. 105-115). Hogrefe.
  • Walker, M., Worth, J., & Van den Brande, J. (2019). Teacher workload survey 2019. Research Brief. Department of Education. (Online)

Und täglich grüßt das Murmeltier – Die KMK vs. Lehrkräftemangel

In Deutschland fehlt es an Lehrkräften. Alle Jahre wieder hört man diesen Satz und er sorgt für Unruhe an allen Stellen im Bildungssystem. Man muss aber deutlich differenzieren, wie wir auch schon in unserer Blogreihe zum Quer- und Seiteneinstieg ausführlich beschrieben haben. Denn der oft beschriebene Lehrkräftemangel, so stellte es die Kultusministerkonferenz schon 2020 fest, herrscht bezogen auf weiterführende Schulen vor allem in den sogenannten MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften (hier insb. Physik & Chemie) und Technik (z.B. Elektrotechnik am Berufskolleg). Ein Jahr nach dieser Feststellung gibt es nun erste Ergebnisse und Vorschläge gegen diesen Mangel vorzugehen. Primär sieht die KMK hier die Wahrnehmung der Mangelfächer und Sichtbarkeit der Lehramtsoption als Schlüssel um diese Lücke zu schließen. In diesem Beitrag möchten wir kurz über die fünf Bereiche und die darin enthaltenen verschiedenen Ansätze der KMK berichten und auch zeigen, wie unsere Performanztests hier eine Rolle spielen könnten!

1) Schule

Idee der KMK ist es, das Bild der MINT-Lehrkräfte zu verbessern, damit Schüler*innen die Fächer tendenziell positiver in Erinnerung haben: „Um ein Lehramtsstudium in diesem Bereich in Erwägung zu ziehen, wird vor allem das Erleben der MINT-Lehrkräfte von Bedeutung sein. Werden diese als Vorbilder wahrgenommen, erscheint ein entsprechender Studien- und Berufswunsch eher wahrscheinlich“ (KMK, 2021, 3). Diese Aussage wird z.B. auch im Hinblick auf die Berufswahl Informatiklehrkraft von Dorothee Müller unterstützt, die dem „Erleben oder auch Fehlen des eigenen Informatikunterrichts“ (2017, 135) einen „entscheidenden Einfluss“ (ebd.) zuspricht. Zwar ist hier eine langfristige Veränderung unabdingbar, nur ist es fraglich, ob sich mit diesem Wunsch der schon für 2030 prognostizierte Mangel an Lehrkräften aufhalten lässt. Doch es gibt auch konkretere Handlungsempfehlungen wie „hochschulische Angebote für Schülerinnen und Schüler“ (KMK, 2021, 5). Ganz konkret gibt es hier schon Projekte wie z.B. so genannte Hochschultage, an denen Schüler*innen eine Hochschule besuchen, Informationen zu Studiengängen erhalten oder auch in Veranstaltungen hereinschauen können. Interessant sind auch Ansätze, die Schüler*innen schon in der Schulzeit den Beruf als Lehrkraft näherbringen, z.B. durch Werbung von Praktikant*innen oder Patenschaften von Lehramtsstudierenden.

2) Eltern, Familie, Freunde, Bekannte, Peergroup

Dieser so wichtige Bereich der beruflichen Sozialisation wird zwar genannt, aber da es „besonders schwierig [sei], hierauf Einfluss zu nehmen“ (KMK, 2021, 3) gibt es keine konkreten Maßnahmen, sondern es werden oberflächlich alle MINT-Lehrkräfte zu Botschafter*innen des Bekanntenkreises ernannt. Dabei gäbe es hier z.B. durch gezielte Aufklärungsarbeit bei Elterngesprächen und Elternabenden über die Anforderungen an den Beruf und die ausgezeichneten Jobmöglichkeiten eine sehr gute Möglichkeit, das familiäre Umfeld für die Tätigkeit zu sensibilisieren.

3) Medien und Werbung

Hier möchte die KMK an die Erfolge anknüpfen, die zur Verbesserung des Gesamtansehens des MINT-Bereichs geführt haben. Da diese Aufbesserung des MINT-Bildes aber eher mit wirtschaftlichen Aspekten verknüpft ist, soll hier ebenso langfristig das Bild von MINT-Lehrkräften durch eine auf einen längeren Zeitraum angelegte Werbe- und Imagekampagne verbessert werden.

4) Studienwahl

Es müssen sich mehr Schüler*innen für ein Lehramtsstudium in den MINT-Fächern entscheiden, damit es mehr MINT-Lehrkräfte gibt. Um dies zu unterstützen sollen z.B. Stipendienprogramme für Lehrkräfte mit MINT-Fächern geschaffen oder ausgebaut werden. An dieser Stelle, möchten wir auf bereits bestehende Stipendien verweisen, wie die Ford MINT-Didaktikstipendien an der Universität zu Köln. Im Rahmen des Deutschlandstipendiums, einer Initiative des BMBFs, werden in Kooperation mit Unternehmen ebenfalls Studierende mit Stipendien unterstützt – unter anderem durfte auch Thomas in seinen ersten beiden Semestern 2015/2016 davon profitieren. Denn das hier erwähnte Stipendium unterstützt, wie von der KMK jetzt auch gefordert, gezielt Lehramtsstudierende mit MINT-Fächern, wie Thomas selbst einer war.

5) Studium

Doch es reicht nicht, sich für ein Studium zu entscheiden – man sollte es auch durchhalten und abschließen. Hier spricht die KMK der Studieneingangsphase zurecht eine besondere Bedeutung zu und möchte ein größeres und fokussiertes Beratungsangebot auf den Weg bringen. Wichtig ist im Studium z.B. auch die Wertschätzung, die Studierenden in MINT-Fächern während des Studiums von Dozierenden entgegengebracht wird. Diese kann einen Einfluss auf das Belastungserleben und somit auch auf einen möglichen Studienabbruch haben (Carstensen et al., 2021). Diese aktuelle Studie hat festgestellt, dass Lehramtsstudierende in MINT-Fächern sich weniger wertgeschätzt fühlen als Lehramtsstudierende anderer Fächer (ebd.). So wäre es auch ein wichtiger Aspekt, hier an den Hochschulen direkt anzusetzen und die Dozierenden der Fachwissenschaften gezielt auf diese Problematik hinzuweisen, denn schließlich sind es die Studierenden der Zukunft, die von diesen Lehrkräften ausgebildet werden und die – wie in 1) erwähnt – Vorbilder sein sollen.

Ein weiterer sehr interessanter Punkt in dem KMK Papier ist folgender Absatz: „Lehrkräfteausbildung in der ersten Phase strukturell und inhaltlich professionsorientierter gestalten, ohne dabei die bestehende hohe fachwissenschaftliche Qualität zu beeinträchtigen“ (KMK, 2021, 7). Diesem Punkt können wir uns voll und ganz anschließen. Eine praxisorientiertere erste Phase könnte Signalwirkung auf das gesamte Studium haben und dieses weiter aufwerten. Eine Möglichkeit das Studium professionsorientierter zu gestalten sind beispielsweise Performanztests, so wie wir diese als rollenspielbasierte Simulationen entwickeln. Durch Einführung und Etablierung handlungsnaher Prüfungen, die die Performance bewerten, müssen diese Fähigkeiten auch schon in den Kursen trainiert werden, wodurch das gesamte Studium an Praxisnähe gewinnen kann.

Als Fazit möchten wir festhalten, dass die Initiativen der KMK deutlich zu begrüßen sind und hoffentlich den anstehenden Versorgungsengpässen an Schulen entgegenwirken. Es bleibt zu wünschen, dass die beschriebenen Maßnahmen, sofern es diese nicht schon in Ansätzen gibt, auch ergriffen werden. Wir sind gespannt, wie die ebenfalls angekündigte Evaluation des Unterfangens ausfallen wird. Zur Wirkung einzelner dieser Maßnahmen existieren auch schon mehr oder weniger umfangreiche empirische Erkenntnisse. Diese werden wir in zukünftigen Blogbeitragen auch einmal näher vorstellen.

Literatur:

  • Carstensen, B., Lindner, C. & Klusmann, U. (2021). Wahrgenommene Wertschätzung im Lehramtsstudium. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 1-14. (Online)
  • KMK (2021). Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Stärkung des Lehramtsstudiums in Mangelfächern. Beschluss der KMK vom 09.12.2021. (Online)
  • Müller, D. (2017). Berufswahl Informatiklehrkraft. In I. Diethelm (Hrsg.), Informatische Bildung zum Verstehen und Gestalten der digitalen Welt – 17. GI-Fachtagung Informatik und Schule (S. 127-136). Gesellschaft für Informatik e.V.

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 1/12

Ist das schon Clickbait?

Zu allen Fragen des deutschen Bildungssystems im Allgemeinen und der Lehrer*innenbildung im Speziellen gibt es eine Vielzahl von Büchern unterschiedlicher Akteur*innen, die einen gewissen Einfluss auf bildungspolitische Diskussionen innerhalb der Medienlandschaft haben bzw. dies wollen. Diese Bücher kritisieren meist bestimmte Defizite und argumentieren davon ausgehend für bestimmte Veränderungen. Wie stichhaltig diese Argumentationen sind, hängt natürlich auch davon ab, wie zutreffend die vorherigen Analysen und Zustandsbeschreibungen sind. Ergebnisse empirischer Bildungsforschung können hierzu Einschätzungen ermöglichen, bspw. ob sie zutreffen oder ob überhaupt Erkenntnisse vorliegen.

Worum gehts?

Bildnachweis: © Stifterverband, CC BY 3.0

In einer kleinen Beitragsreihe möchten wir uns mit einem solchen Buch beschäftigen, das sich neben dem Inhaltlichen auch aufgrund seines Clickbait-ähnlichen Titels perfekt für unseren Blog eignet ;). Es geht um „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) erschienen im Claudius Verlag, München. Heinz-Peter Meidinger ist medial hauptsächlich bekannt als aktueller ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Der Lehrerverband ist eine Dachorganisation von vier bundesweiten Lehrkräfteverbänden, von denen der Deutsche Philologenverband e.V., in dem sich hauptsächlich Gymnasiallehrkräfte organisieren, sicherlich der bekannteste ist. Es ist also nicht möglich als Lehrkraft direkt Mitglied im Lehrerverband zu werden (wobei es auch weitere große Lehrkräfteverbände gibt, die nicht teil des Lehrerverbands sind). Man kann den Lehrerverband auch nach den formulierten Zielen hauptsächlich als eine Vernetzungs- und Abstimmungsorganisation der Mitgliedsverbände bezeichnen, die explizit Einfluss auf politische Entscheidungen zur Entwicklung des Bildungssystems nehmen möchte. Es geht also auch um Lobbyarbeit für bestimmte Ziele. Das Buch kann in diesem Kontext als möglicher Beitrag betrachtet werden, Diskussionen zur Schulpolitik anzuregen, verbunden mit dem Ziel, bestimmte Veränderungen erreichen zu wollen. Anzumerken ist allerdings, dass die im Buch enthaltenen Thesen, Argumente und Begründungen nicht als Positionen des Lehrerverbandes bezeichnet werden.

Der Autor selbst war Gymnasiallehrer und später auch lange Jahre Schulleiter in Bayern und ging im Sommer 2020 in den Ruhestand. Bevor er 2017 erstmalig als Präsident des Lehrerverbandes gewählt wurde, war Heinz-Peter Meidinger 13 Jahre lang Vorsitzender des deutschen Philologenverbandes. Er schreibt also aus der Perspektive des erfahrenen Gymnasialschulleiters mit vielfältigen Einblicken aus der Verbandsarbeit. Mehr erfährt man über ihn und seine Positionen auch auf Wikipedia ;).

Was passiert hier?

In dieser Artikelreihe möchten wir uns etwas differenzierter mit den Argumentationen im Buch aus Perspektive der empirischen Bildungsforschung auseinandersetzen. Dabei geht es uns weniger darum, eine eigene Bewertung der Thesen des Autors vorzunehmen, sondern eher zu prüfen, was man aus Ergebnissen der Bildungsforschung zu ihren Prämissen beisteuern kann oder nicht. Hierzu ist es natürlich sinnvoll, das Buch gelesen zu haben. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich empfehlen, auch wenn man vielleicht manche Position des Autors nicht teilt. Man kann durch die Auseinandersetzung auch die eigene Perspektive ausschärfen. Diese Beitragsreihe ist daher keine Rezension im engeren Sinne, sondern wir werden punktuell Aspekte herausgreifen, die sich sinnvoll auf Ergebnisse empirischer Bildungsforschung beziehen lassen. Jede „Todsünde“ bekommt dabei einen eigenen kurzen Beitrag, die in der Länge aber auch sehr variieren können (je nachdem, inwiefern sich inhaltlich anknüpfen lässt).

In diesem Beitrag geht es um das erste Kapitel, quasi das Vorwort, welches mit „Schulpolitik in der Krise“ überschrieben ist. Heinz-Peter Meidinger stellt darin zunächst Bedingungen heraus, die für das Feld der Bildungspolitik charakteristisch seien, z.B. dass das Bildungssystem hochkomplex und durch viele Interdependenzen geprägt sei. Er findet, das deutsche Schulsystem arbeite in vielen Bereichen sehr gut, aber Dinge, die schief laufen, müssten für eine Bestandsaufnahme herausgestellt werden. Die Sprache ist – negativ interpretiert – polemisch, – positiv interpretiert – ausdrucksstark, was sich auch darin zeigt, dass als Analogie für „[…] Konzepte, Reformen, politische Haltungen und Ideologien sowie wiederkehrende Verhaltensmuster, aber auch permanente Untätigkeit sowie bewusste Versäumnisse, die der Bildungsqualität in unserem Land schaden […]“ (Meidinger, 2021, 23) das Konzept der „Todsünde“ aus der katholischen Theologie verwendet wird. Aber es ist ja auch als Streitschrift angekündigt.

G9 zu G8 – Wie ist es gelaufen?

In diesem Vorwortkapitel fällt es schwer, Aussagen zu finden, die mit Bezug zu empirischen Forschungsergebnissen betrachtet werden können. Es enthält viele Meinungsäußerungen, die zumindest an dieser Stelle nicht anhand konkreter Beispiele begründet werden. Eine Ausnahme ist die Thematisierung der Umstellung vieler Bundesländer von einem neunjährigen (G9) hin zu einem achtjährigen Abiturbildungsgang (G8), als Beispiel für eine Veränderung der Schulstrukturen, die möglicherweise zu vielen negativen Nebenwirkungen führte. Heinz-Peter Meidinger nennt Folgende: Baubedarf an Mittagskantinen, mehrfache Überarbeitung der Lehrpläne auf Druck von Außen, weniger Nachwuchs in Sportvereinen, Kirchen bzw. in der Kinder- und Jugendarbeit, weniger junge Menschen nehmen eine duale Ausbildung auf.

Während mir zum Baubedarf keine Studien bekannt sind und Lehrplanüberarbeitungen je nach Bundesland mehr oder weniger häufig vorkamen (und man beides auch als positive Nebenwirkung sehen könnte, weil z.B. Lehrpläne an neue Rahmenbedingungen angepasst wurden), liegen zu den Auswirkungen auf das Freizeitverhalten von Jugendlichen und zur Ausbildungsneigung Analysen auf Basis empirischer Daten vor (vgl. Kühn et al., 2013). Die Ergebnisse zum Freizeitverhalten sind zusammengefasst uneindeutig (vgl. Meyer & Thomsen, 2015), was auch daran liegt, dass die Umstellung von G9 auf G8 nicht in allen Bundesländern gleich verlief, sich die Erfahrungen der Schüler*innen daher unterschieden und die Analysen auch methodisch variieren. Es wurde z.B. häufig mit Selbstauskünften zu vorgegebenen Freizeittätigkeiten gearbeitet, die von Schüler*innen in G9- oder G8-Ausbildungsgängen beantwortet und teils parallel, teils nacheinander erhoben wurden. Daher können die Ergebnisse auch am ehesten differenziert nach Art der Freizeittätigkeit dargestellt werden.

Für Aktivitäten im Sport konnten dabei überwiegend keine bzw. kaum Unterschiede im zeitlichen Umfang für G9- und G8-Schüler*innen festgestellt werden (Laging et al., 2014; im Brahm et al., 2013). Ebenfalls keine Unterschiede zeigen sich bzgl. anderer Tätigkeiten z.B. musischer Hobbys wie Orchester, Unternehmungen mit der Familie, Computer (z.B. Spielen) (Hübner et al., 2017). Stabile signifikante Unterschiede mit eher mittlerem Effekt zeigen sich vor allem für das Ausüben eines Nebenjobs, was häufiger von G9-Schüler*innen getan wurde (z.B. Hübner et al., 2017; Meyer & Thomsen, 2015) und ein Rückgang bzgl. ehrenamtlicher Tätigkeiten (wobei Sport hier noch einmal gesondert erfasst wurde), allerdings ausgehend von einem generell niedrigen Niveau (für Hessen: Meyer & Thomsen, 2015). Eine interessante Erkenntnis im Zusammenhang mit diesen Analysen ist, dass die Schüler*innen innerhalb der G8-Bildungsgänge Freizeit teilweise anders bewerteten bzw. einschätzten, als in G9-Bildungsgängen (Blumentritt et al., 2014). „Folglich scheint die konzeptionelle Engführung von Freizeit als Nicht-Schulzeit aus den exemplarisch ausgewählten Beschreibungen der Schülerinnen und Schüler beider Bildungsgänge nicht vollständig tragfähig.“ (Blumentritt, 2015, 150).

Bezogen auf die These, dass die duale Berufsausbildung unter der Umstellung gelitten habe, liegen kaum empirische Erkenntnisse vor. Marcus & Zambre (2017) berichten, dass nach Einführung der G8-Abiturbildungsgängen weniger junge Menschen ein Studium aufnahmen, was man allerdings nicht direkt so interpretieren kann, dass diese stattdessen eine Berufsausbildung aufnahmen. Es zeigt sich zudem eine Art Pausenjahr vor der Studienaufnahme. Die Entscheidung für ein Studium oder eine Berufsausbildung scheint eher von Faktoren abzuhängen, die unabhängig von der Art des Abiturbildungsgangs sind (vgl. Flake et al., 2017). In seiner Dissertation berichtet Meyer (2016) für Sachsen-Anhalt Analysen, die eher darauf hindeuten, dass G8-Schüler*innen tendenziell sogar vermehrt eine Berufsausbildung an ihr Abitur anschlossen.

Was lässt sich hieraus nun bzgl. der Thesen aus dem Buch schließen? Die Annahme, dass die Umstellung von G9 zu G8 negative Nebenwirkungen hatte, ist vor dem Licht der empirischen Daten teilweise zutreffend, aber nicht bzgl. aller genannten Nebenwirkungen. Die Situation ist in repräsentativeren Stichproben nicht so eindeutig wie suggeriert. Allerdings liegen auch insgesamt wenig empirische Analysen vor. Die erste Todsünde wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er findet sich hier. Hintergründe zum Autor und zum Buch werden dort nicht noch einmal aufgeführt.

Literatur:

  • Blumentritt, L. (2015). Veränderte Schulzeit–veränderte Freizeit? Freizeit im Kontext der gymnasialen Schulzeitverkürzung. In R. Freericks, & D. Brinkmann (Hrsg.), Die Stadt als Kultur-und Erlebnisraum – Analysen – Perspektiven – Projekte. 3. Bremer Freizeit-Kongress (S. 141-153). Institut für Freizeitwissenschaft und Kulturarbeit e.V. (Online)
  • Blumentritt, L., Kühn, S. M., & van Ackeren, I. (2014). (Keine) Zeit für Freizeit? Freizeit im Kontext gymnasialer Schulzeitverkürzung aus Sicht von Schülerinnen und Schülern. Diskurs Kindheits-und Jugendforschung, 9(3), 15-16. (Online)
  • Flake, R., Malin, L., & Risius, P. (2017). Einflussfaktoren der Bildungsentscheidung von Abiturienten für Ausbildung oder Studium. IW-Trends-Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 44(3), 99-115. (Online)
  • Hübner, N., Wagner, W., Kramer, J., Nagengast, B., & Trautwein, U. (2017). Die G8-Reform in Baden-Württemberg: Kompetenzen, Wohlbefinden und Freizeitverhalten vor und nach der Reform. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20(4), 748-771. (Online)
  • im Brahm, G., Kühn, S. M., & Wixfort, J. (2013). Wie nehmen Schülerinnen und Schüler des doppelten Abiturjahrgangs die eigene Schulzeit wahr?: Eine geschlechtsspezifische Analyse der Schülerperspektive auf acht-und neunjährige Bildungsgänge am Gymnasium. Schulpädagogik heute, 4(8), 223-240.
  • Kühn, S. M., van Ackeren, I., Bellenberg, G., Reintjes, C., & im Brahm, G. (2013). Wie viele Schuljahre bis zum Abitur? – Eine multiperspektivische Standortbestimmung im Kontext der aktuellen Schulzeitdebatte . Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16(1), 115-136. (Online)
  • Laging, R., Böcker, P., & Dirks, F. (2014). Zum Einfluss der Schulzeitverkürzung (G8) auf Bewegungs-und Sportaktivitäten von Jugendlichen. Sportunterricht, 63(3), 66-72. (Online)
  • Marcus, J., & Zambre, V. (2017). Folge der G8-Schulreform: Weniger Abiturientinnen und Abiturienten nehmen ein Studium auf. DIW Wochenbericht, 84(21), 418-426. (Online)
  • Meidinger, H.-P. (2021). Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift. Claudius Verlag.
  • Meyer, T. (2016). An evaluation of the shortened high school duration in Germany and its impact on postsecondary education and labor market entry. Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. (Online)
  • Meyer, T., & Thomsen, S. L. (2015). Schneller fertig, aber weniger Freizeit?–Eine Evaluation der Wirkungen der verkürzten Gymnasialschulzeit auf die außerschulischen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler. Schmollers Jahrbuch, 135, 249-278. (Online)

Täuschen, Schummeln und Betrügen an der Hochschule im Licht der Bildungsforschung – 3/7 – COVID-19 Ergänzung

Ehrlichkeit in der digitalen Welt

Einbettung von: Deutschlandfunk, Campus & Karriere, Sendung vom 01. Dezember 2021
Bildnachweis: © Deutschlandfunk

Eigentlich wäre der vierte Teil zu unserer Artikelserie zum Täuschen und Betrügen bei Prüfungen im Studium an der Reihe. Angeregt über einen kurzen Bericht des Deutschlandfunks in der Sendung Campus & Karriere vom 01. Dezember 2021 (siehe auch die Einbettung oben) möchten wir allerdings noch einen kleinen Nachtrag zum dritten Artikel liefern, in dem wir von Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung zum Ausmaß von typischem Täuschungsverhalten berichtet haben. Durch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wurde auch an Hochschulen ein beträchtlicher Teil der Lehre und insbesondere auch von Prüfungen in virtueller Form durchgeführt (Sommer, 2020). Dabei stellen sich ein paar Fragen: Wie groß ist das Ausmaß von Täuschungen in digitalen Prüfungen? Ist es womöglich höher als bei klassischen Präsenzprüfungen, weil das „Schummeln“ technisch einfacher ist?

Eine Studie zur rechten Zeit…

Vor der Pandemie wurden diese Fragen erwartbarerweise kaum untersucht, da digitale Prüfungen ein eher untypischer Fall waren. Im November sind allerdings die Ergebnisse einer Untersuchung von Janke et al. (2021) veröffentlicht worden. Sie befragten hierzu N = 1608 Studierende unterschiedlicher Hochschulen und Studienfächer in Deutschland online, die im Sommersemester 2020 eine schriftliche Prüfung ablegen mussten. Davon hatten 82.5% ausschließlich Onlinekurse während des Semesters belegt. Die Studierenden wurden zum einen danach befragt, in welcher Form sie Prüfungen abgelegt haben (nur in Präsenz, nur digital, beides). Zudem sollten sie direkt auf einer siebenstufigen Skala zu einer Reihe von Täuschungshandlungen in Prüfungen, aber auch in Onlinekursen (bezeichent als academic dishonesty), angeben, wie häufig sie dieses in diesem Semester getan haben (von nie bis sehr oft).

Das Ausmaß der vier häufigsten Handlungen akademischer Unehrlichkeit in Kursen, die die Befragten im Sommestersemester 2020 mindestens einmal getätigt haben, waren in absteigender Reihenfolge (Janke et al., 2021, 5): Einloggen im Onlinekurs und nebenbei etwas Anderes tun (88.1%), Bearbeitung von Aufgaben mit Anderen, die als Einzelleistung gedacht waren (63.7%), Angabe von Quellen in Hausarbeiten, die man nicht gelesen hat (29.8%), Übernahme von Textteilen aus Onlinequellen ohne Quellenangabe (26.4%). Die Untersuchung enthält Ergebnisse zu weiteren Täuschungshandlungen, weshalb ich hier eine ausdrückliche Leseempfehlung abgeben möchte.

Digital vs. Analog?

Unterscheidet sich nun das Täuschungsverhalten in analogen und digitalen schriftlichen Prüfungen? In der Befragung können hierzu insbesondere zwei Items herangezogen werden, die sowohl für Präsenz-, als auch für Onlineprüfungen abgefragt wurden. Für eine bessere Vergleichbarkeit habe ich die Ergebnisse i.ön einer kleinen Tabelle dargestellt (Tab. 1).

TäuschungshandlungPräsenz-prüfungOnline-prüfung
Austausch von Lösungsideen für Aufgaben mit Anderen während der Prüfung.23.7%45.9%
Verwendung von unerlaubten Hilfsmitteln zur Lösung von Aufgaben.18.4%48.6%
Tab. 1 „Vergleich von Täschungshandlungen in Präsenz- und Onlineprüfungen (Janke et al., 2021, 5)

Es wird deutlich, dass das Ausmaß von Täuschungsverhalten in schriftlichen digitalen Prüfungen größer ausfällt als in Präsenzprüfungen. Zur Signifikanz des Unterschieds und möglicher Effektstärken, auch unter Kontrolle von Prüfungserfahrungen, sei an dieser Stelle noch einmal auf den Artikel verwiesen. Es lohnt sich etwas tiefer im Text zu schauen. Die Autor*innen fassen ihre Ergebnisse mit einem gewissen understatement folgendermaßen zusammen:

„Overall, our findings indicate that the sudden shifts from on-site to
online testing in German higher education institutions during the
COVID-19 pandemic in summer 2020 may have posed at least some
threat to academic integrity.“

(Janke et al., 2021, 6)

Dazu, inwiefern sich Lehramtsstudierende hierbei von Studierenden anderer Studiengänge unterscheiden, können wir auf Grundlage der Untersuchung keine Aussagen machen. Aber man kann ja nicht alles haben ;). Daher zuerst einmal vielen Dank an die Kolleg*innen aus Mannheim, Landau und Augsburg. Vielleicht kommen hierzu ja noch Analysen.

Literatur

  • Janke, S., Rudert, S. C., Petersen, Ä., Fritz, T., & Daumiller, M. (2021). Cheating in the wake of COVID-19: How dangerous is ad-hoc online testing for academic integrity?, Computers and Education Open, 2, 1-9. (Online)
  • Sommer, M. (2020). Eine respektable Notlösung. Ergebnisse einer Umfrage zum „Corona-Semester “. Forschung & Lehre, 20(8), 666. (Online)

Podcast: Wissenschaft und Schule

Aufbereitung empirischer Bildungsforschung für Lehrkräfte

Bildnachweis: © Staatliche Schulberatungsstelle für die Oberpfalz, Benedikt Wisniewski

Wir haben hier im Blog schon interessante Podcasts zur empirischen Bildungsforschung bzw. zu Themen der Lehrerbildungsforschung vorgestellt. Die staatliche Schulberatungsstelle für die Oberpfalz in Bayern hat im Podcast Wissenschaft und Schule Gespräche mit zahlreichen Bildungsforscher*innen geführt. Die ca. halbstündigen Folgen richten sich primär an Lehrkräfte, sind aber prinzipiell für alle interessant, die einen Überblick über Erkenntnisse der Bildungsforschung zu einem bestimmten Themenfeld erhalten möchten.

Im Kontext der Lehrerbildungsforschung diskutiert z.B. Prof. Dr. Frank Lipowsky mit Benedikt Wisniewski in Folge 16 über die professionelle Entwicklung von Lehrkräften. Dabei werden einige Themen gestreift: von Überlegungen zu dem, was Professionalisierung genau bedeutet, über wichtige Dispositionen, über die Lehrkräfte verfügen sollten, hauptsächlich aber zur Rolle von Lehrerfortbildungen.

Der Podcast kann auf der Website der Schulberatungsstelle gestreamt werden.

Literatur

  • Lipowsky, F. (2006). Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. In C. Allemann-Ghionda, & E. Terhart (Hrsg.), Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern (S. 47-70). Weinheim.: Beltz. (Online)

Täuschen, Schummeln und Betrügen an der Hochschule im Licht der Bildungsforschung – 1/7

Titel, Thesen, Temperamente

Bildnachweis: © Universität Duisburg-Essen

Anfang Oktober 2021 sorgte ein besonders plakativer Fall von Prüfungsbetrug bzw. Notenhandel an der Universität Duisburg-Essen für Schlagzeilen in der Medienlandschaft, aber auch für interessante Diskussionen innerhalb der akademischen Welt. Eine Mitarbeiterin des zentralen Prüfungsamtes soll gegen die Annahme von Geld die Noten von Studierenden in der zentralen Prüfungsdatenbank verändert haben, natürlich zum besseren. Der Spiegel berichtet vom „Markt der Möglichkeiten“ (Olbrisch, 2021) und listet Beispielpreise auf (z.B. 50 Euro für eine Erhöhung der Notenstufe). Möglich war dies alles, weil die Mitarbeiterin an der richtigen Stelle im System zuständig war: bei der Eingabe der Noten in die zentrale Datenbank, die von den Fakultäten an das Prüfungsamt übermittelt wurden. Manipulationen an dieser Stelle fallen von sich aus kaum auf und so ist es nicht verwunderlich, dass die Untersuchung erst auf einen anonymen Hinweis hin begonnen werden konnte.

Dieser Fall ist ein zugegebenermaßen drastisches Beispiel dafür, dass auch an Hochschulen, die aufgrund ihres wissenschaftlichen Selbstanspruchs auch öffentlich oft als Orte hoher Integrität und Redlichkeit betrachtet werden bzw. werden wollen, Betrug und Täuschungen vorkommen. Dies gilt insbesondere für Prüfungen. Von einem erfolgreichen Bestehen von Prüfungen im Studium hängt für Studierende schließlich viel ab: von der Möglichkeit ein Studium überhaupt beenden zu können bis hin zu besseren Einstellungschancen im Berufsleben. Der berichtete Fall an der Universität Duisburg Essen hat daher auch unangenehme Folgen für Studierende, die ihren Studienabschluss womöglich unrechtmäßig „erkauft“ haben und sich mit ihren Zeugnissen vielleicht schon erfolgreich beworben haben. Wichtig: Der Fall hätte sich auch an anderen Hochschulen ereignen können bzw. solche Fälle kommen weltweit immer wieder vor. Es ist also kein Problem, dass nur einzelne Universitäten betrifft. Uns liegt es fern, unseren Kolleg*innen in Duisburg bzw. Essen Vorwürfe zu machen.

Wir als Forschungsgruppe, die sich mit Prüfungen beschäftigt, haben den Fall in der Kaffeepause auch schon rege diskutiert: „Wie oft kommt so etwas vor? Was bringt Studierende darauf solch einen Handeln einzugehen?“ In einer Beitragsreihe in unserem Blog möchten wir diesen Fragen etwas genauer nachgehen und dabei insbesondere Ergebnissen der Bildungsforschung darstellen.

Worum geht es überhaupt?

Generell werden Täuschungen und Betrug bei Prüfungen in der internationalen Forschung häufig unter den Begriffen academic misconduct, academic malpractice oder academic dishonesty zusammengefasst (z.B. Krou et al., 2021; Ali et al., 2021; Awasthi, 2019), im Deutschen häufig als akademisches Fehlverhalten übersetzt (z.B. Kroher, 2020). Im Glossary for Academic Integrity definieren Tauginienė et al. (2018) academic misconduct als:

„Any action or attempted action that undermines academic integrity and may result in an unfair academic advantage or disadvantage for any member of the academic community or wider society.“

(Tauginiené et al., 2018, S. 8)

Akademisches Fehlverhalten bezieht sich also auf Handlungen, die gegen eine Norm des integren Verhaltens in der akademischen Gemeinschaft verstoßen, verbunden mit dem Ziel, sich unfaire Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Diese Definition ist sehr breit und hat Ähnlichkeiten zu weiteren Begriffen (z.B. academic fraud). Die Handlungen müssen dabei nicht erfolgreich sein, um als Fehlverhalten zu gelten. Neben Fehlverhalten als Wissenschaftler*in (wobei hier der Begriff scientific misconduct präziser ist; Gross, 2016) kann dies auch Fehlverhalten im Studium bezeichnen, also z.B. Versuche, sich bei Prüfungen mit unfairen Mitteln Vorteile gegenüber Mitstudierenden zu erlangen. Da es um Normen der Institution Hochschule geht, lässt sich nur schwer vollständig angeben, welche denkbaren Handlungen alle unter solches Fehlverhalten fallen. Häufig werden sie beschrieben in Dokumenten, die von Universitäten selbst herausgegeben werden, um die akademische Norm zu kommunizieren. Die ehrwürdige University of California in Berkeley nennt Fehlverhalten in folgenden Kategorien (UC, 2021):

  • Cheating (z.B. Abschreiben in Klausuren, Prüfungen für jemand anderen ablegen)
  • Plagiarism (z.B. Kopieren von Passagen anderer Werke in Hausarbeiten)
  • Course Materials (z.B. Verstecken von Büchern in der Bibliothek vor Mitstudierenden)
  • False Information and Representation, Fabrication or Alteration of Information (z.B. Fälschen von Attesten)
  • Theft or Damage of Intellectual Property (z.B. Zerstören von Arbeitsergebnissen Mitstudierender)
  • Alteration of University Documents (z.B. Fälschen von Zeugnissen bei Bewerbungen)
  • Disturbances in the Classroom (z.B. fälschlicherweises Aktivieren des Feueralarms)

Die FAIRUSE-Studie, die an der Universität Bielefeld durchgeführt wurde und in dieser Artikelreihe noch häufiger auftauchen wird, untersuchte bspw. folgende Arten akademischen Fehlverhaltens (Sattler & Diewald, 2013, S. 18):

  • Plagiieren
  • unerlaubte Hilfsmittel in Klausuren verwenden
  • unerlaubte Hilfsmittel in Klausuren mitnehmen
  • Abschreiben in Klausuren
  • Attest und Ausreden zur Verschiebung von Prüfungen oder Abgabefristen
  • Abschreiben von Arbeitsaufgaben (z.B. Protokolle, Übungszettel)
  • Daten fälschen/verändern

Der oben beschriebene Fall an der Universität Duisburg-Essen würde in diesem Sinne eher nicht als akademisches Fehlverhalten bezeichnet bzw. wird in der Forschung eher unter einem anderen Stichwort betrachtet. Es ist ein Beispiel für academic corruption. Dabei wird eine Position der Autorität bzw. mit einer bestimmten Macht oder Kompetenz ausgenutzt, um persönliche – meist finanzielle – Vorteile zu erlangen (vgl. Rumyantseva, 2005).

In dieser Reihe möchten wir genauer beleuchten, wie groß das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens von Studierenden – insbesondere im Lehramtsstudium – eigentlich ist. Zunächst sollte aber der Frage nachgegangen werden, wie man das überhaupt feststellen kann. Schließlich handelt es sich um Handlungen, die die wenigsten Menschen bereitwillig zugeben. Im nächsten Beitrag werden daher Ansätze beschrieben, wie in der Bildungsforschung akademisches Fehlverhalten erfasst werden kann. Er befindet sich hier.

Literatur

  • Ali, I., Sultan, P., & Aboelmaged, M. (2021). A bibliometric analysis of academic misconduct research in higher education: Current status and future research opportunities. Accountability in research, 28(6), 372-393. (Online)
  • Awasthi, S. (2019). Plagiarism and Academic Misconduct: A Systematic Review. DESIDOC Journal of Library & Information Technology39(2), 94-100. (Online)
  • Gross, C. (2016). Scientific misconduct. Annual Review of Psychology67, 693-711. (Online)
  • Kroher, M. (2020). Akademisches Fehlverhalten: Wie ehrlich berichten Studierende über Täuschungen?. In I. Krumpal, & R. Berger (Hrsg.), Devianz und Subkulturen – Theorien, Methoden und empirische Befunde (S. 207-240). Springer VS. (Online)
  • Krou, M. R., Fong, C. J., & Hoff, M. A. (2021). Achievement motivation and academic dishonesty: A meta-analytic investigation. 33, 427–458. (Online)
  • Olbrisch, M. (2021, 06. Oktober). Notenmanipulation an der Uni Duisburg-Essen – Markt der Möglichkeiten. spiegel.de (Online)
  • Rumyantseva, N. L. (2005). Taxonomy of corruption in higher education. Peabody Journal of Education80(1), 81-92. (Online)
  • Sattler, S., & Diewald, M. (2013). FAIRUSE – Fehlverhalten und Betrug bei der Erbringung von Studienleistungen: Individuelle und organisatorisch-strukturelle Bedingungen – Schlussbericht zum Projekt. Universität Bielefeld. (Online)
  • Stiles, B. L., Wong, N. C. W., & LaBeff, E. E. (2018). College cheating thirty years later: The role of academic entitlement. Deviant Behavior39(7), 823-834. (Online)
  • Tauginienė, L., I. Gaižauskaitė, I. Glendinning, J. Kravjar, M. Ojsteršek, L. Ribeiro, T. Odiņeca, F. Marino, M. Cosentino, & S. Sivasubramaniam (2018). Glossary for Academic Integrity – ENAI Report 3G. European Network for Academic Integrity. (Online)
  • University of California (Hrsg.) (2021, 04. November). Definitions & Examples of Academic Misconduct. University of California, Division of Student Affairs. (Online)

Podcast: Klasse(n)arbeit

Ergänzungen zur aktuellen Debatten der Lehramtsausbildung

Einbettung von: Spotify, Podcast „Klasse(n)arbeit“ der Gießener Offensive Lehrerbildung

Die Gießener Offensive Lehrerbildung (GOL), die innerhalb der Qualitätsoffensive Lehrerbildung des BMBF gefördert wird, behandelt in mehreren Podcastfolgen unterschiedliche Fragen und Themen der Lehramtsausbildung. Der Podcast trägt den schönen Titel Klasse(n)arbeit und er kann auf den Seiten der GOL auch heruntergeladen werden (je nach Einstellungen des Browsers). Man findet ihn aber auch bei Spotify (eingebunden oben)

Eine erste Hörempfehlung, insbesondere für Personen, die an wissenschaftlichen Perspektiven interessiert sind, möchte ich Folge 2 mit dem Titel Reflexion reflektieren: Was ist das? Und wenn ja, wie viele?, in der unter Anderem Claudia von Aufschnaiter (Liebe Grüße!) und Christian Hofmann verschiedene Definitionen, Positionen und Perspektiven auf Reflexionsprozesse, – fähigkeiten und -möglichkeiten diskutieren.

Dabei wird deutlich, dass gerade der Umgang mit Reflexion und die Förderung von Reflexivität bei Studierenden ein in der Lehrerbildungsforschung stark diskutiertes Thema ist (vgl. von Aufschnaiter, Fraij & Kost, 2019). Reflexive Anteile in der Lehramtsausbildung werden dabei auch immer wieder kritisch diskutiert, wie es bspw. Tobias Leonard in seiner Keynote auf der Jahrestagung 2021 der DGfE-Sektion Schulpädagogik mit dem Titel Reflexion und Reflexivität in Unterricht, Schule und Lehrer*innen­bildung getan hat, in der er ebenfalls die Beliebigkeit der Verwendung des Reflexionsbegriffs kritisiert und sich gegen überzogene Reflexionsansprüche in der Lehramtsprofessionalisierung in Schule und Hochschule wendet. Es bleibt also ein weiterhin ein heißes Thema der Lehramtsausbildung.

Literatur

  • Leornard, T. (2021). Von der Wiege bis zur Bahre? Rekonstruktionen (all)gegenwärtiger Reflexionsansprüche und ihre Bedeutung für Schule und Lehrer*innenbildung (Konferenzbeitrag). Jahrestagung der DGfE-Sektion Schulpädagogik, Universität Osnabrück (online), 22.09.2021.
  • von Aufschnaiter, C., Fraij, A., & Kost, D. (2019). Reflexion und Reflexivität in der Lehrerbildung. Herausforderung Lehrer* innenbildung-Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion2(1), 144-159. (Online)

Performanztests im Radio

Simulationen als Elemente der Ausbildung

Bildnachweis: © Bayrischer Rundfunk, BR 2

In einem Radiobeitrag in der Sendung IQ – Wissenschaft und Forschung des Bayrischen Rundfunkts ist ein aktueller Beitrag ( ca. 25 Minuten) erschienen, in demperformanzorientierte Trainings- und Prüfverfahren in der Ausbildung von Mediziner*innen und Pflegekräften beschrieben werden. Dabei handelt es sich um Simulationen typischer, beruflicher Situationen, bei denen angehenden Ärzt*innen oder Pflegekräfte in einer Rollenspielsituation mit hierfür trainierten Schauspieler*innen agieren müssen. Im Beitrag werden verschiedene Beispiele solcher performanzorientierter Lehrverfahren hinsichtlich ihrer Ziele und Struktur vorgestellt. Dabei wir häufig mit so genannten Seminarschauspieler*innen gearbeitet, die für ihre Rollen in Simulationen speziell vorbereitet werden und die insbesondere auch Feedback aus der Sicht der simulierten Patienten oder Kolleg*innen geben. Man spricht auch von standardisierten Patient*innen. Im Fokus stehen häufig, wie im Beitrag, Situationen, in denen mit Anderen kommuniziert und interagiert werden muss.

Einbettung von: Bayrischer Rundfunk, BR 2, IQ Wissenschaft und Forschung, Sendung vom 07. Oktober 2021

Solche Konzepte gibt es in der Mediziner*innenausbildung schon vergleichsweise lang und neben ihrer hohen Bedeutung für die Ausbildung, werden sie auch immer mehr als Prüfungsformat verwendet: so genannten Objective Structured Clinical Examinations (OSCE) (Harden, 1988). Mittlerweile gibt es solche Simulationen für eine Vielzahl verschiedener medizinischer Anforderungsbereiche. Zunehmend werden solche Simulationen auch für die Erfassung der Fähigkeiten von medizinischen Ausbilder*innen entwickelt, dann als Objective Structured Teaching Examinations (OSTE) (siehe z.B. Fakhouri & Nunes, 2019).

Simulationen für das Lehramt

Zentrales Ziel unserer Nachwuchsforschungsgruppe ist es, derartige Verfahren auch für die Lehramtsausbildung zu entwickeln und zu erproben (vgl. Vogelsang et al., 2019). Kommunikation und Interaktion sind Bestandteil der meisten (nicht alle) Anforderungen bzw. Aufgaben im Lehrer*innenberuf. Dabei konzentrieren wir uns auf die Entwicklung von Simulationsprototypen für Lehramtsstudierende im Fach Englisch und für bildungswissenschaftliche Anforderungen. Zusätzlich werden bestehende Arbeiten für das Lehramt mit Fach Physik hin zu einem (hoffentlich) funktionierenden OSTE-Prototypen weitergeführt. Dies erfordert natürlich einiges an Entwicklungsarbeit und begleitende Forschung zur Validierung, aus der wir hier auch immer mal wieder berichten werden.

Insgesamt sehen wir in performanzorientierten Lehr- und Prüfungsverfahren ein großes Potential für die Weiterentwicklung der Lehramtsausbildung, Auch an anderen Stellen bietet die Medizinausbildung weitere Anregungen für das Lehramt. Das werden wir ebenfalls in zukünftigen Blogbeiträgen immer mal wieder thematisieren. An dieser Stelle bleibt allerdings nur noch, eine absolute Hörempfehlung für den Beitrag auszusprechen.

Literatur:

  • Fakhouri, S. A., & Nunes, M. D. P. T. (2019). Objective structured teaching examination (OSTE): an underused tool developed to assess clinical teaching skills. A narrative review of the literature. Sao Paulo Medical Journal137, 193-200. (Online)
  • Harden, M. (1988) What is an OSCE?, Medical Teacher, 10:1, 19-22, (Online)
  • Vogelsang, C., Borowski, A., Kulgemeyer, C., Riese, J., Reinhold, P., Schecker, H., Buschhüter, D., Enkrott, P., Kempin, M. & Schröder (2019). Performance-Oriented  Testing  and  Training  in  Teacher  Education.  In C. Lautenbach, J. Fischer, O. Zlatkin-Troitschanskaia, H.A. Pant, & M. Toepper (Hrsg.), Student Learning Outcomes Assessment in Higher Education – Perspectives, Concepts and Approaches for Research, Transfer and Implementation (KoKoHs Working Papers, 12) (S. 40-43). Berlin & Mainz: Humboldt Universität & Johannes Guttenberg Universität. (Online)

Podcast: Lehrkräftebildung neu gedacht

Innovative Lehr-Lern-Konzepte für das Lehramtsstudium

Ähnlich wie auch wir entwickeln und erproben bundesweit viele Kolleg*innen neue . Lehr-Lern-Formate für die Ausbildung angehender Lehrkräfte. Marcus Kubsch und Stefan Sorge, beides geschätzte Kollegen aus der Physikdidaktik am IPN, dem Leibnizinstitut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel, haben sich schon länger Gedanken darüber gemacht, wie Innovationen in die Lehramtsausbildung transferiert werden können (Sorge et al., 2021) und nun zusammen mit Julia Arnold (Biologiedidaktik, Fachhochschule Nordwestschweiz) und Nicole Graulich (Chemiedidaktik, Justus-Liebig-Universität Gießen) das Buch Lehrkräftebildung neu gedacht – Ein Praxishandbuch für die Lehre in den Naturwissenschaften und ihren Didaktiken herausgebracht, das im Waxmann-Verlag als Open-Access-Publikation erhältlich ist.

Einbettung von: Spotify, Podcast „Lehrkräftebildung neu gedacht“ von Marcus Kubsch, Stefan Sorge, Julia Arnold & Nicole Graulich

In insgesamt 35 Beiträgen aus 32 Hochschulstandorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden neue und innovative Konzepte, Methoden und Ideen zur Lehramtsausbildung in den Naturwissenschaften vorgestellt. Die vier Herausgeber*innen möchten „einen Impuls zum Austausch und zum Diskurs geben“ (Kubsch, Sorge, Arnold & Graulich, 2021, 9). Es richtet sich daher an alle Interessierten, die in der Lehramtsausbildung tätig sind. Es gliedert sich in drei thematische Abschnitte: in einem ersten Teil werden in 14 Beiträgen Konzepte zur Förderung spezifischer Aspekte professioneller Handlungskompetenz vorgestellt. Inka Haak, Jens Klinghammer, Olaf Krey und Thorid Rabe (liebe Grüße an dieser Stelle nach Halle) entwickelte bspw. eine Lerneinheit, in der Lehramtsstudierenden anhand der Kopernikanischen Wende ihre professionelle Kompetenzen im Bereich nature of science weiterentwickeln können. Der zweite Abschnitt enthält 11 Beiträge, die sich auf die Förderung der Planung und Reflexion von Unterricht konzentrieren. Von der Universität Paderborn stellen hier z.B. Pascal Pollmeier und Sabine Fechner (auch hier liebe Grüße) eine Seminarkonzeption vor, in der angehende Lehrkräfte dazu befähigt werden können, mit Evidenzen im naturwissenschaftlichen Unterricht adäquat umzugehen. Der dritte und letzte Abschnitt des Buches wiederum konzentriert sich in zehn Beiträgen auf den zielführenden Einsatz digitaler Medien in der Lehramtsausbildung, z.B. den Einsatz von Augmented Reality oder auch digitale Medien zur Unterstützung der Klimabildung.

Bildnachweis:
© Waxmann Verlag

Auch, wenn es sich fachlich auf die Naturwissenschaften bezieht, bieten die Beiträge eine Vielzahl an Anregungen auch für die Lehramtsausbildung in anderen Fächern und den Bildungswissenschaften. Die Beiträge sind zudem kurz und prägnant, so dass sie sich gut zwischendurch nacheinander lesen lassen. Als weiteres Highlight produzieren die Herausgeber*innen zudem einen Podcast, in dem die einzelnen Autor*innen ihre jeweiligen Konzepte noch einmal in ca. zehnminütigen Folgen vorstellen. Neben Spotify (eingebettet oben) ist er auch über die meisten gängigen Portale und Dienste kostenfrei erhältlich. Insgesamt eine klare Lese – und Hörempfehlung.

Vielen Dank an euch vier Herausgeber*innen für eure Mühe und Initiative. Wir werden in Zukunft auch auf weitere interessante Podcast aus der Lehrerbildungsforschung bzw. der empirischen Bildungsforschung hinweisen.

Literatur

  • Kubsch, M., Sorge, S., Arnold, J., & Graulich, N. (Hrsg.) (2021). Lehrkräftebildung neu gedacht. Ein Praxishandbuch für die Lehre in den Naturwissenschaften und deren Didaktiken Münster: Waxmann. (Online)
  • Sorge, S., Kubsch, M., Breuer, J., Syskowski, S., & Wöhlke, C. (2021). Lehrkräftebildung neu gedacht. Ergebnisse des GDCP Hackathon 2020. In S. Habig (Hrsg.) Naturwissenschaftlicher Unterricht und Lehrerbildung im Umbruch? – Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik online Jahrestagung 2020 (S. 45-47). Universität Duisburg-Essen. (Online)

Quereinstieg ins Lehramt im Licht der Bildungsforschung – 1/4

Notwendiges Übel oder Rettung der Unterrichtsversorgung?

Einbettung von: Deutschlandfunk, Campus & Karriere, Sendung vom 15.09.2021

Die Lehramtsausbildung war Thema in der Sendung Campus & Karriere beim Deutschlandfunk, genauer gesagt ging es um das Thema Quereinstieg ins Lehramt (Sendung vom 15.09.2021). Am Fall einer promovierten Kollegin aus der Germanistik werden verschiedene Schwierigkeiten verdeutlicht, die auftreten können, wenn man quer in den Lehrer*innenberuf einsteigen möchte. Hierbei wird insbesondere auf die fehlende Anerkennung von Qualifizierungen eingegangen und die Intransparenz der Prüfungsverfahren kritisiert. Dabei wird im Beitrag angesichts des hohen Bedarfs an Lehrkräften deutlich gemacht, dass zumindest für den diskutierten Fall nicht nachvollziehbar ist, warum die Studien- und auch weiterbildenden Leistungen der Kollegin nicht anerkannt werden und sie als Aushilfslehrkraft eingestellt wird. Zumal diese an der Universität selbst Lehramtsstudierende in Praxisphasen betreut hat.

Insgesamt wird das Thema Quereinstieg auch an anderer Stelle immer wieder kontrovers und auch emotional diskutiert. Dabei steht der Radiobeitrag exemplarisch für einige Fragen oder Thesen, die bei diesem Themenkomplex immer wieder angesprochen werden. Unbestritten ist meist, dass der Bedarf an Lehrkräften nicht vollständig durch Absolvent*innen von Lehramtsstudiengängen gedeckt werden kann bzw. wird. Was allerdings strittig diskutiert wird, ist, ob Quereinsteigende ins Lehramt ausreichend für den Beruf qualifiziert sind und auch einen vergleichbar guten Unterricht gestalten können. Oder anders gefragt: Welche Voraussetzungen sollen und müssen Personen mitbringen, die in den Lehrer*innenberuf quer einsteigen wollen? Viele wissenschaftliche Fachgesellschaften haben hierzu Positionspapiere verabschiedet, wie z.B. die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) im Positionspapier Ergänzende Wege der Professionalisierung von Lehrkräften, in dem als erste Leitlinie gefordert wird: „Die Standards einer akademischen Profession sind nicht verhandelbar. Sie gelten daher für
alle Professionalisierungswege.“ (GFD, 2018, S. 1). Gemein sind nicht nur akademische Standards, also ein Studium eines Faches an sich, sondern die akademischen Standards der Profession Lehrer*in.

Wie bei allen bildungspolitischen Fragen argumentieren alle Beteiligten ausgehend von bestimmten Annahmen oder normativen Setzungen. Ob diese Annahmen, wie bspw. die genannte, dass Quereinsteigende weniger qualifiziert seien, zutreffen, kann mit Methoden der empirischen Bildungsforschung untersucht werden. Hierbei muss zunächst differenziert werden. In den meisten Bundesländern wird zwischen zwei alternativen Wegen unterschieden, ohne grundständiges Lehramtsstudium in den Beruf einzusteigen. Zum einen den eigentlichen Quereinstieg, bei dem Personen ein nicht lehramtsbezogenes Studium absolviert haben und anschließend im typischen Modus den Vorbereitungsdienst bzw. das Referendariat absolvieren. Sie haben also die erste Phase der Lehramtsausbildung nicht durchlaufen, absolvieren aber die zweite Phase. Je nach Bundesland noch verbunden mit weiteren Qualifizierungsmaßnahmen (weil Lehrkräfte bspw. zwei Fächer unterrichten müssen und nicht nur eines). Zum anderen existiert aber auch das Modell des Seiteneinstiegs, bei dem Personen ohne lehramtsbezogenes Studium direkt im Schuldienst eingestellt werden und meist berufsbegleitend weitere Qualifizierungen erwerben. In Diskussionen ist es meist der Seiteneinstieg, der kontroverser diskutiert wird, da dort Einsteigende direkt (auch mit relativ hohen Stundendeputaten) unterrichten. Im Radiobeitrag wird z.B. nicht klar, um welchen Weg es sich handelt, wobei es sich so anhört, als ginge es eigentlich um einen Seiteneinstieg, also die direkte Einstellung in den Beruf. Und grundsätzlich stellt sich die Frage: Ist das Ganze eher ein Einzelfall oder handelt es sich um eine größere Gruppe von Lehrkräften?

Um wie viele Personen geht es überhaupt?

Empirisch ist es dabei zunächst einmal nicht so einfach, Informationen über die Gruppe der Quer- und Seiteneinsteiger*innen zu erhalten. Die Kultusministerkonferenz veröffentlicht regelmäßig Statistiken zur Einstellung von Personen in den Lehrer*innenberuf, die eine grobe Übersicht über den Umfang von Einstellungen von Lehrkräften über alternative Zugangswege ins Lehramt bieten . In den Tabellen zur Einstellung im Jahr 2020 wird deutlich, dass der Anteil an Seiteneinsteiger*innen je nach Bundesland und auch Unterrichtsfächern stark variiert (KMK, 2021, S. 37ff.). Die KMK selbst spricht nicht mehr von Seiteneinsteiger*innen, sondern von sonstigen (unbefristeten) Lehrkräften. Bundesweit betrug der Anteil an Seiteneinsteiger*innen im Jahr 2020 bspw. 10,2%, einem Wert, der ungefähr dem Mittel über die letzten vier Jahre entspricht. Der Anteil variiert dabei zwischen den Bundesländern von 0,4% in Hessen bis zu 47,6% in Sachsen-Anhalt (unsere Heimat NRW liegt bei 9,6%). Die Anteile in den Fächern werden leider nicht direkt ausgewiesen, aber die größten Zahlen liegen in den beruflichen Fächern für berufsbildende Schulen und den Naturwissenschaften. Die Zahlen für den Quereinstieg finden sich im Bericht an anderer Stelle (KMK, 2021, S. 61ff.) unter dem Stichwort der Einstellungen in den Vorbereitungsdienst mit nicht-lehramtsbezogenem Studienabschluss. Auch hierbei schwanken die Anteile an Quereinsteigenden von 0,0% in NRW und im Saarland bis 20,5% in Schleswig-Holstein. Hier werden allerdings nicht die Fächer aufgeschlüsselt, sondern die Zielschulformen, wobei auch hier das Lehramt für Primarstufe mit 18,0% den größten Anteil stellt. Dabei handelt es sich allerdings um Neueinstellungen und es fällt auf, dass die Zahl der Seiteneinsteiger*innen absolut weit größer ist als die Zahl der Quereinsteiger*innen.

Den Anteil an Lehrkräften im Schuldienst mit alternativem Zugangsweg festzustellen, ist insgesamt schwieriger. Für das Fach Physik (mein Hintergrund in der Lehrer*innenbildung) wurden Daten aus einer bundesweiten Befragung der Kultusministerien in der Quereinsteigerstudie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammengetragen (Korneck et al., 2010). Fasst man die Jahre 2002 bis 2008 zusammen, dann haben in 12 von 16 Bundesländern ca. 45% der neu eingestellten Lehrkräfte im Fach Physik einen Quer- oder Seiteneinstieg absolviert und sind wahrscheinlich noch tätig. Im repräsentativen Bildungstrend des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungssystem (IQB) aus dem Jahr 2018 (Stanat el al., 2019, S. 394), war der Anteil an tätigen (!) Lehrkräften mit Quer- oder Seiteneinstieg bundesweit 17,0% im Fach Physik . In Mathematik betrug er bspw. 8,7%, in Chemie 14,5%. Wie man hier schon feststellen kann, liegen insbesondere zu MINT-Lehrkräften detailliertere Daten vor.

Und was bringen sie so mit?

In Befragungen an Studienseminaren (basierend auf N = 223 Referendar*innen im Jahr 2009) konnten Lamprecht, Oettinghaus & Korneck (2011) weitere Informationen zu den Hintergründen von Quereinsteiger*innen erhalten. Sie haben z.B. ein leicht besseres Abitur im Vergleich zu Lehramtsstudierenden (Durchschnittsnote: 1,7 im Vergleich zu 1,9), waren (erwartungsgemäß) älter und haben meist schon eigene Kinder. Sie verfügen (auch erwartungsgemäß) über mehr Berufserfahrungen, wobei der Anteil von 26% an Personen ohne jegliche Berufserfahrung relativ hoch ausfiel. Haben Sie vorher an Hochschulen gearbeitet, weisen sie auch meist Lehrerfahrungen an der Hochschule auf. Im Prinzip also ein sehr ähnlicher Fall wie im Radiobeitrag. Ähnliche Studien für andere Fächer sind mir nicht bekannt und ich bin für Hinweise auf solche sehr dankbar.

Es lässt sich feststellen, dass die Betrachtung von alternativen Wegen ins Lehramt aus Sicht der Bildungsforschung schon auf Ebene der Demografie von Quer- und Seiteneinsteiger*innen schwer zu beantworten ist. Der Frage, ob sie sich auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen (z.B. ihres professionellen Wissens) oder ihrer Einstellungen zum Unterricht von grundständig ausgebildeten Lehrkräften unterscheiden bzw. welche Erkenntnisse aus der Bildungsforschung hierzu vorliegen, wird im zweiten Beitrag zu diesem Thema aufgegriffen.

P.S. Liebe Grüße an die Kolleg*innen aus der Physikdidaktik in Frankfurt, auf deren Arbeit viele Ergebnisse zu Quer- und Seiteneinsteiger*innen basieren. Ich werde euch auch im nächsten Beitrag noch zitieren ;).

Literatur

  • GFD (2018). Ergänzende Wege der Professionalisierung von Lehrkräften. Positionspapier der GFD zur Problematik des Quer- und Seiteneinstiegs. (Online)
  • Korneck, F., Lamprecht, J., Wodzinski, R., & Schecker, H. (2010). Quereinsteiger in das Lehramt Physik – Lage und Perspektiven der Physiklehrerausbildung in Deutschland. Eine Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Deutsche Physikalische Gesellschaft. (Online)
  • KMK (2021). Einstellung von Lehrkräften 2020. (Online)
  • Oettinghaus, L., Lamprecht, J., & Korneck, F. (2011). Quereinsteiger und Lehramtsabsolventen im Fach Physik – Vergleich der Ausbildungswege und Berufsbiografien. In D. Höttecke (Hrsg.). Naturwissenschaftliche Bildung als Beitrag zur Gestaltung partizipativer Demokratie – Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik – Jahrestagung 2010 in Potsdam (S. 75-78). Münster: LIT.
  • Stanat, P., Schipolowski, S., Mahler, N., Weirich, S., & Henschel, S. (2019). IQB-Bildungstrend 2018. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann. (Online)