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Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 4/12 – Teil 4

Todsünde Nr. 3: Zu viele unausgereifte Reformen im Bildungssystem

In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Dabei wird betrachtet, wie Prämissen und Argumentationen im Buch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Grundsätzlich ist sollte man das entsprechende Buchkapitel zuvor gelesen haben, was ich ausdrücklich empfehlen möchte. Dies ist der vierte Teil eines Beitrags, der sich mit der dritten vom Autoren so bezeichneten Todsünde beschäftigt. Thesen aus dem Buch werden dabei im Konjunktiv wiedergegeben, was keine Zustimmung oder Ablehnung implizieren soll, sondern einfach den Regeln zur indirekten Rede folgt. Die Kernthese des zugehörigen Buchkapitels ist zusammengefasst, dass im Bildungssystem zu viele Veränderungen vorgenommen würden, ohne vorher ausreichend erprobt und/oder danach ausreichend evaluiert zu werden (siehe hierzu den ersten Teil). Heinz-Peter Meidinger begründet dies an drei Beispielen von Reformen genauer, die sich aus seiner Sicht besonders negativ ausgewirkt hätten (1. das Konzept „Lesen lernen durch Schreiben“, siehe den ersten Teil; 2. den frühen Fremdsprachenunterricht, siehe den zweiten Teil). Das dritte Beispiel ist die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen, die ich aufgrund des Umfangs, der von Heinz-Peter Meidinger angesprochenen Aspekte auf zwei eigene Teile aufgeteilt habe. Im dritten Teil wird der Hintergrund der Einführungen genauer beschrieben und die erste These, mit der Heinz-Peter Meidinger begründet, warum er diese Reform für nicht gelungen erachtet, vor dem Hintergrund von Ergebnissen empirischer Untersuchungen betrachtet: die Studienzeiten hätten sich durch die Einführung nicht verkürzt, auch aufgrund schlechter Berufsaussichten Absolvent*innen mit Bacherlorabschluss. In diesem letzten Teil zur Todsünde Nr. 3 geht es um die noch nicht betrachteten drei Gründe aus dem Buchkapitel.

  • Die Mobilität Studierender, einen Teil ihres Studiums im Ausland zu absolvieren (Auslandssemester) hätte nicht zugenommen.
  • In Bachelorstudiengängen würde ein größerer Anteil Studierender ihr Studium abbrechen, als in nicht-gestuften Studiengängen vor dem Bologna-Prozess.
  • Über die Qualität gestufter Studiengänge „gibt es vielfach Klagen“ (Meidinger, 2021, 59).

In die weite Welt hinein…

Die Erhöhung der internationalen Mobilität im Studium ist, anders als eine Veränderung der Studienzeiten (siehe den dritten Teil), explizit ein offizielles Ziel der Maßnahmen des Bologna-Prozesses (Deutscher Bundestag, 2021; Bologna-Erklärung, 1999), das für Deutschland genauer konkretisiert wurde. Gemäß Internationalisierungsstrategie der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK, 2013) werden zwei Mobilitätsziele unterschieden. Zum ersten sollten bis 2020 mindestens 50% aller Hochschulabsolvent*innen studienbezogene Auslandserfahrung gesammelt haben. Zum zweiten sollten bis 2020 mindestens ein Drittel aller Hochschulabsolvent*innen „einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt von mindestens drei Monaten und/oder 15 ECTS nachweisen können“ (DAAD, 2024). Bei beidem verbringen Studierende also einen Teil ihrer Studienzeit im Ausland (so genannte temporäre Mobilität oder Credit mobility, vgl. DAAD, 2023). Studierende können aber natürlich auch direkt ein Studium in einem anderen Land aufnehmen und es vollständig dort absolvieren (so genannte abschlussbezogene Mobilität oder Degree mobility, vgl. DAAD, 2023). Diese Ziele beziehen sich auf inländische Studierende aus Deutschland. Natürlich ist es aber auch Ziel des Bologna-Prozesses, dass Studierende aus dem Ausland vermehrt ein Studium oder zumindest Teile davon an deutschen Hochschulen absolvieren. Zur Frage, inwiefern diese Ziele erreicht wurden, können einige empirische Untersuchungen herangezogen werden, auf deren Basis man zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen kann. Zum ersten beruhen diese Unterschiede darauf, welche Daten in der jeweiligen Untersuchung herangezogen werden (z.B. Amtliche Statistiken auf Basis von Meldedaten der Hochschulen, Studierendenbefragungen des Deutschen Akademischen Auslands Dienstes (DAAD), Statistiken des ERASMUS-Programms der Europäischen Kommission, Sozialerhebung des DZHW, eine gute Übersicht bieten Hillmann & Karpenstein, 2018). Zum zweiten kommt es auch darauf, was alles als Auslandsaufenthalt in die oben genannten Zielkategorien einbezogen wird, da dabei beträchtliche Unterschiede bestehen können (z.B. ein zweiwöchiges Praktikum bei einer Firma bis hin zu ganzen Studienjahren an Hochschulen im Ausland). Zum dritten hängt es auch davon ab, welche Schwerpunkte in den vorliegenden Publikationen gesetzt wurden (z.B. wird nicht jeder Kennwert in jedem jährlichen Bericht veröffentlicht).

Nach dem letzten Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses (Bundestag, 2021) habe sich die Anzahl von deutschen Studierenden im Ausland seit dem Jahr 2000 verdoppelt und 34% der Studierenden im höheren Semester haben studienbezogene Auslandserfahrungen gemäß des ersten Mobilitätsziels sammeln können (temporäre Mobilität). Hierbei bezieht sich der Bericht auf die Mobilitätsstudie des DAAD und des DZHW aus dem Jahr 2017. Andere Quellen nennen für das Jahr 2017 einen Anteil von 38% Studierender mit Erfahrung temporärer Mobilität im Studium (DAAD, 2017), was einer Steigerung entspräche (von 32% im Jahr 2013 und 37% im Jahr 2015; DAAD, 2017). Woisch & Willige (2015) berichten hingegen von 26% für das Jahr 2013 und 30% für das Jahr 2015 (basierend auf anderen Panel-Daten). Für die Jahre zwischen 2000 und 2012 werden an anderer Stelle basierend auf unterschiedlichen Datenquellen temporäre Mobilitätsquoten zwischen 30% und 32% angegeben, für die Zeit vor der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge 20% für das Jahr 1991, 23% für das Jahr 1994 und 29% für das Jahr 1997 (DAAD, 2013). Jahr & Teichler (2007) berichten für Absolvent*innen der Jahrgänge 1994/1995 eine temporäre Mobilitätsquote von 13,6%. Diese Zahlen beziehen sich auf beide formulierte Zielklassen. Für das zweite Ziel (Aufenthalt mindestens drei Monate, 15 ECTS-Punkte) wurde basierend auf gemeldeten Daten der hochschulischen Prüfungsstatistik, die sich auf anerkannte ECTS-Leistungen aus anderen Ländern beziehen, für das Prüfungsjahr 2018 eine temporäre Mobilitätsquote von 7,5% berechnet (DeStatis, 2020), wobei auch hier Unsicherheiten in der Erfassung bestehen: „Offensichtlich sind die in der Statistik abgebildeten Mobilitätsquoten maßgeblich von den Bemühungen der Hochschulen geprägt, die Auslandsmobilität nach den Vorgaben des novellierten Hochschulstatistikgesetzes möglichst vollständig zu erfassen.“ (DeStatis, 2020, 14).

Reifenberg & Philipps (2023) berichten Ergebnisse einer Befragung des DAAD von N=115.100 Studierenden von 74 Hochschulen im Wintersemester 2020/2021 hinsichtlich ihres Mobilitätsverhaltens (Benchmark internationale Hochschule, BintHo). Dabei wurden Studierende in allen Abschnitten des Studienverlaufs befragt. Zum Befragungszeitpunkt gaben 19% der Studierenden an, schon einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt absolviert zu haben, 16% einen fest geplant zu haben und 13% wahrscheinlich einen absolvieren zu wollen. Dabei unterscheiden sich diese Mobilitätsangaben stark zwischen Hochschulart, angestrebter Abschlussart (Bachelor oder Master) und studierten Fächern. So gaben bspw. 21,5% der Studierenden an Universitäten einen Auslandsaufenthalt an, an HAWs 15,9%. Der Anteil mit Auslandserfahrung im Master (42,3% an Universitäten) ist höher als im Bachelor (13,7% an Universitäten). Nur bezogen auf die Universitäten reicht zwischen den Fächern der Anteil von 28,4% temporärer Mobilität in den Geisteswissenschaften an Universitäten bis zu 15,2% in Mathematik & Naturwissenschaften. Solche großen Unterschiede zwischen Fächern und angestrebter Abschlussart zeigen sich auch in anderen Untersuchungen (z.B. DAAD, 2023; DAAD, 2017; DeStatis, 2020), wobei Unterschiede zwischen Fächern auch davon abhängen, zu was für Gruppen Studiengänge genau zusammengefasst werden. In der BintHo-Untersuchung wurde auch erfragt, inwiefern die Auslandsaufenthalte als verpflichtender Teil eines Studiengangs absolviert werden mussten. Nur bezogen auf Universitäten betrug der Pflichtanteil der absolvierten Auslandsaufenthalte 16,5%. Der Verpflichtungsanteil ist dabei für Lehramtsstudiengänge am größten (39,5%). Im Bachelor werden temporäre Auslandsaufenthalte primär im fünften Semester absolviert, im Master im dritten Semester. Der Übergang zwischen Bachelor- und Masterstudium wurde nur von 4% der Studierenden als Zeitpunkt angegeben. Häufigste Art der Mobilität ist ein klassisches Auslandssemester (71,2% an Universitäten), gefolgt von Praktika (25,2% an Universitäten) und der Studienreise (8,9% an Universitäten). Die häufigste Dauer des temporären Aufenthalts liegt zwischen drei und sechs Monaten (46,9%). Auch bzgl. der Mobilitätsarten und Aufenthaltsdauern zeigen sich ähnliche Ergebnisse auch in anderen Untersuchungen (z.B. DAAD, 2023; DAAD, 2017).

Wie sieht es spezifisch bei Lehramtsstudiengängen aus, die wir hier im Blog ja besonders in den Fokus nehmen? Je nach Untersuchung werden auch Ergebnisse spezifisch für Lehramtsstudierende ausgewertet. Für den Jahrgang 2016 bspw. wird eine temporäre Mobilitätsquote von insgesamt 26% berichtet (DAAD, 2019), die sich stark zwischen Schularten und Fächergruppen unterscheidet. Studierende für das Lehramt an Gymnasien verfügen am häufigsten über studienbezogene Auslandserfahrung (33%), während Studierende für die anderen Schulformen etwas weniger angeben (18% bis 21%). Die Fachgruppe mit dem höchsten Mobilitätsanteil sind dabei die Sprach- und Kulturwissenschaften mit 35% mit den höchsten Anteilen für Romanistik (78%) und Anglistik (59%). Diese Studiengänge haben meist einen verpflichtenden Anteil von Auslandsaufenthalten. Lehramtsstudierende geben als relevante Schwierigkeit für Auslandsaufenthalte insbesondere den Zeitverlust im Studium an (54%), was im Vergleich zu anderen Studiengängen eher hoch ist (diese liegen bei 33%; DAAD, 2019; vgl. Reifenberg & Philipps, 2023; Woisch & Willige, 2015). Die komplexe Studienstruktur im Lehramt mit mindestens zwei Fächern könnte sich also auch in der etwas geringeren Mobilitätsquote als der Durchschnitt abbilden (vgl. Ahlgrimm et al., 2018).

Bildnachweis: DAAD, 2019, 95, lizensiert unter CC-BY-SA 4.0 DEED

Diese Ergebnisse beziehen sich auf temporäre Mobilität im Studium (Credit mobility). Welche Erkenntnisse liegen für Studierende aus Deutschland vor, die ihr gesamtes Studium im Ausland absolvieren (abschlussbezogene Mobilität, Degree mobility)? Auf Basis von Daten des statistischen Bundesamtes kann zunächst festgestellt werden, dass die Zahl deutscher Studierender im Ausland zwischen 1991 und 2010 kontinuierlich angestiegen ist, mit größerem Zuwachs ab den Jahren 2003 und 2004 (DAAD, 2013). Zwischen 2002 und 2010 stieg der Anteil der Studierenden im Ausland an allen inländischen Studierenden von 3,4% auf 6,0% (DAAD, 2023). Seit 2015 gibt es allerdings keine signifikanten Zuwächse mehr und der Anteil ist im Jahr 2021 sogar leicht gesunken auf 4,9% (was aber auch an der größeren Zahl Personen liegt, die ein Studium im Inland begonnen haben, DAAD, 2023, 9). Die Zahl ausländischer Studierender, die ein Studium in Deutschland absolvieren, ist zwischen 2011 und 2021 um 94% gestiegen. Zwischen 2003 und 2011 gab es hingegen wenig Veränderungen, zuvor stieg die Zahl aber auch zwischen 1997 und 2002 an (DAAD, 2013).

Welches Fazit lässt sich jetzt bzgl. des Einflusses der Einführung gestufter Bachelor- und Masterstudiengänge auf das Mobilitätsverhalten Studierender ziehen? Das hängt ein wenig von der Perspektive ab bzw. welche Art von Mobilität betrachtet wird. Bzgl. abschlussbezogener Mobilität sind im Zeitverlauf definitiv Zuwächse feststellbar, sowohl was die Mobilität von Deutschland ins Ausland und umgekehrt betrifft. Bzgl. temporärer Mobilität fasst der DAAD folgendermaßen zusammen:

„Zwischen 1991 und 2000 stieg der Anteil der Studierenden (in höheren Semestern) mit temporären Auslandsaufenthalten stark an (von 20% auf 32%) und stabilisierte sich bis 2006 auf diesem Niveau. Seitdem ist allerdings ein kontinuierlicher Rückgang zu beobachten, auf 19% bei der bislang letzten Erhebung im Jahr 2021. Anders als bei der abschlussbezogenen Mobilität war die Einführung des zweigliedrigen Studiensystems mit Bachelor- und Masterstudiengängen hier also nicht mit einem Anstieg der temporären studienbezogenen Mobilität verbunden.“

(DAAD, 2023, 9)

Für die Interpretation wichtig sind aus meiner Sicht allerdings die Details. So bestehen große Unterschiede bzgl. Hochschularten, Fächern und sogar teilweise zwischen einzelnen Hochschulen (vgl. z.B. DeStatis, 2020), so dass die reine Umstellung des Systems nicht die einzige ausschlaggebende Ursache zu sein scheint. Es liegt auch daran, wie Auslandsaufenthalte in konkreten Studiengängen an konkreten Hochschulen implementiert werden (z.B. die Pflichtaufenthalte in vielen Lehramtsstudiengängen). Für die Jahre 2020 und 2021 gibt es auch Auswirkungen der COVID-19 Pandemie (vgl. DAAD, 2023). Der teilweise Anstieg der Mobilität auch schon vor der Einführung gestufter Studiengänge in Deutschland ist auch ein Hinweis darauf, dass die Mobilität im Studium stärker mit den Möglichkeiten zur finanziellen Förderung für solche Aufenthalte zusammenhängt, als mit der „reinen“ Studienstruktur auf Systemebene. Schon vor Einführung gab es bspw. eine Ausweitung von Förderprogrammen der Europäischen Union (z.B. das Sokrates-Programm). Generell zeigt sich in empirischen Untersuchungen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Auslandsaufenthalts auch vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Studierenden abhängt (z.B. Finger, 2012; vgl. Banscherus, Himpele & Staack, 2011). Teilweise besteht auch eine große Unsicherheit bzw. Varianz der Ergebnisse nach unterschiedlichen Datenquellen (vgl. Lanzendorf, Schomburg & Teichler, 2012) und es sollte auch die Tatsache beachtet werden, dass erst mit Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen überhaupt vertiefte Bemühungen begonnen wurden, aussagekräftige statistische Daten zu erheben (vgl. DAAD; 2017). Insofern hat der Bolognaprozess auch dazu geführt, dass überhaupt analysierbare Daten vorliegen, was für die „alten“ einphasigen Studiengänge nicht im selben Maße gesagt werden kann. Unabhängig von diesen Unsicherheiten lässt sich aber festhalten, dass die konkret beschlossenen Ziele bzw. internationalen Mobilitätsquoten in Deutschland noch nicht erreicht sind (DAAD, 2023). Für diesen Aspekt gibt es aber zumindest eine solche Zieldefinition, die quantitativ prüfbar ist. Zur Frage, wie sich die Mobilität Studierender innerhalb Deutschlands seit der Einführung der gestuften Studiengänge verändert hat, gibt es interessanterweise weniger Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen (z.B. Gareis, Diller & Huchthausen, 2018).

Bei der Stange bleiben

Heinz-Peter Meidinger stellt ebenfalls die These auf, es würde ein größerer Anteil Studierender ihr Studium abbrechen, als in nicht-gestuften Studiengängen vor dem Bologna-Prozess. Je nach Quelle werden unter Studienabbruch verschiedene Phänomene zusammengefasst (Neugebauer et al., 2019). Im engeren Sinne ist ein Studienabbruch das vollständige Beenden eines Studiums bzw. das Verlassen des Hochschulsystems einer Person ohne Abschluss (Heublein & Schmelzer, 2020), unabhängig davon, ob es sich auf ein Diplom-, Bachelor- oder ein angeschlossenes Masterstudium bezieht. Davon zu unterscheiden sind Studienunterbrechungen, bei denen ein Studium für eine zeitlang pausiert und danach wieder aufgenommen wird, und Wechsel zwischen Studiengängen oder -fächern. Bei letzterem wird natürlich ein Studiengang ohne Abschluss verlassen, aber nicht das Hochschulsystem, da ja etwas Anderes weiter studiert wird. Daneben gibt es Phänomene wie das so genannte Parkstudium, bei dem sich Personen in einen Studiengang einschreiben, ohne irgendeine Studienaktivität aufzunehmen. Gründe hierfür können z.B. sein, dass notwendige Wartezeiten überbrückt werden sollen, bis man für einen Studiengang zugelassen wird, den man eigentlich studieren möchte, oder einfach Vorteile des Studierendenstatus nutzen möchte (z.B. Vergünstigungen). Dieses Phänomen tritt häufig in Studiengängen ohne Zulassungsbeschränkung (numerus clausus) wie Physik auf (Düchs & Ingold, 2016). Diese Unterscheidungen sind deshalb wichtig, da zur empirischen Bestimmung von Abbruchquoten meist statistische Daten herangezogen werden, in denen nicht immer klar zwischen diesen Phänomenen unterschieden werden kann, was zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann (Neugebauer et al., 2019). Beim einfachsten Verfahren zur Ermittlung von Abbruchquoten werden bspw. einfach die Anzahlen Studienanfänger*innen und Absolvent*innen mit einem gewissen zeitlichen Abstand zueinander in Beziehung gesetzt (so genanntes Kohortenvergleichsverfahren, Heublein, Richter & Schmelzer, 2020). Bei diesem Verfahren können Abbruchquoten überschätzt werden, weil eben Wechsel oder Unterbrechungen nicht vollständig berücksichtigt werden. Für eine genauere Abschätzung sind längsschnittliche Daten notwendig, die Studierverläufe von Personen individuell betrachten.

Je nach Datenquelle werden unterschiedliche Studienabbruchquoten berichtet. Auf Basis der Prüfungsstatistiken des Statistischen Bundesamts betrugen die Studienabbruchquoten für Studierende mit Ersteinschreibung zwischen 2009 und 2013 zwischen 21,3 und 24,8% (DeStatis, 2023). Betrachtet man nur Bachelorstudierende liegen sie zwischen 22,7% und 26,5%, nur für das Lehramt zwischen 17,4% und 22,4%. Für den Jahrgang 2007 liegt die Gesamtquote bei 21,4% (DeStatis, 2021). Das Statistische Bundesamt verwendet zur Berechnung einen Korrekturfaktor, bei dem versucht wird, Wechsel und Studierende, die noch nicht fertig studiert haben, angemessen zu berücksichtigen. Für die Jahrgänge 1997 bis 2001, die ihr Studium auf jeden Fall vor der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen begonnen haben, werden Abbruchquoten zwischen 24,5% und 28,7% berichtet. Nur für die einphasigen Diplomstudiengänge liegen sie zwischen 33,2% und 34,7%, nur für das Lehramt zwischen 24,5% und 28,7%. Das DZWH verwendet ein Kohortenvergleichsverfahren ebenfalls auf Basis der amtlichen Statistik (Neugebauer et al., 2019). Für die Studienanfänger*innen zwischen den Jahren 2012 und 2016 liegen die Abbruchquoten nach diesem Verfahren für Bachelorstudierende zwischen 27% und 31% (im Lehramt zwischen 10% und 21%) sowie für Masterstudierende zwischen 17% und 323% (im Lehramt zwischen 9% und 16%) (Heublein, Hutzsch & Schmelzer, 2022). Die Zahlen bewegen sich dabei auch für frühere Jahrgänge auf einem vergleichbaren Niveau (Heublein et al., 2020), wobei kaum Unterschiede zwischen „alten“ und „neuen“ Studiengängen festgestellt wurden (Heublein et al., 2012; Heublein et al., 2008).

Dabei bestehen in allen Jahrgängen und Untersuchungen mehr oder wenige große Unterschiede zwischen Studierenden verschiedener Fachgruppen, Hochschularten und angestrebten Abschlüssen. Diese Studien haben aber die schon angesprochenen Schwächen bzgl. möglicher Verzerrungen. Spezifisch für das Lehramt ermöglichen ein paar Untersuchungen solche Abschätzungen für spezifische Hochschulen bzw. Bundesländer. In der schon angesprochenen Untersuchung von Dietrich (2016) zum Vergleich des Staatsexamensmodells mit dem Bachelor-Master-Modell bei Lehramtsstudierenden an der Universität Leipzig werden auf Basis von Längsschnittdaten für beide Modelle eher niedrige Abschlussquoten von 47,4% (Staatsexamen) und 49,5% (Bachelor/Master) festgestellt. Dabei wurde beobachtet, dass ein möglicher Abbruch im Staatsexamensmodell später erfolgt (Median im vierten Semester) als im gestuften System (Median im zweiten Semester). Für das Land Mecklenburg-Vorpommern untersuchten Radisch et al. (2018) längsschnittliche Verlaufsdaten von Lehramtsstudierenden basierend auf Verwaltungsdaten der Universitäten Rostock und Greifswald. Einbezogen wurden dabei N=5781 Lehramtsstudierende, die zwischen den Wintersemestern 2012/2013 und 2017/2018 für ein Lehramtsstudium eingeschrieben waren. Dabei zeigt sich ein nach Schulformen unterschiedlicher Umfang von „Schwund“ im Studium: „Im Lehramt an Gymnasien sind die Kohorten nach zwei Semestern um etwa 30 Prozent geschrumpft , im Lehramt an Regionalen Schulen teilweise um bis zu 40 Prozent.“ (Güldener et al., 2020). Im Lehramt für die Grundschule und Sonderpädagogik ist der „Schwund“ geringer. Studienabbrüche im engeren Sinn machen allerdings nur einen Teil dieses „Schwunds“ aus (für das Lehramt an Gymnasien z.B. 41% des „Schwunds“). Die Studierenden benötigen tendenziell länger als die Regelstudienzeit bis zum Abschluss. Auf Basis einer längsschnittlichen Teilstichprobe der PaLea-Studie (n=787 Studierende) kann nach einer Bernholt, Zimmermann & Möller (2023) eine grobe Schwundquote von ca. 39,5% abgeschätzt werden, wobei im PaLea-Panel Abbrüche nicht gleichmäßig erfasst wurden. Sind diese Quoten nun höher oder niedriger als für Lehramtsstudiengänge vor der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen auch im Lehramt? Auf Basis von Kohortenvergleichsstudien berichtet bspw. Gesk (1999) für Lehramtsstudierende der pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg mit Studienbeginn Anfang der 1990er Jahre eine durchschnittliche Abbruchquote von ca. 40%. Ebenfalls für die pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg bestimmte Rauin (2007) eine Abbruchquote von ca. 30% für die ersten drei Semester für Studierende mit Studienbeginn 1995.

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse vorliegender Untersuchungen scheint sich durch die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wenig an Studienabbruchquoten verändert zu haben. Auch hier treten ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Ermittlung von Mobilitätsquoten auf, da die verfügbaren Datengrundlagen letztendlich eher Abschätzungen von Ober- und Untergrenzen ermöglichen. Auch hier bestehen große Unterschiede zwischen Studiengängen und Fächern. Die Veränderung der Studienstrukturen allein scheint keine direkte Ursache für Veränderungen bei Studienabbrüchen zu sein. Hier sind andere Gründe und Motive ausschlaggebend, die eher die konkrete Gestaltung von Studiengängen betreffen und weniger den Rahmen auf Systemebene (z.B. Theune, 2021; Neugebauer et al., 2019; Heublein & Wolter, 2011; Blüthmann, Lepa & Thiel, 2008).

Qualitätsurteile

Heinz-Peter Meidingers vierte These zur Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen bezieht sich darauf, dass über die Qualität gestufter Studiengänge „vielfach Klagen“ (Meidinger, 2021, 59) gäbe. Leider bleibt diese These unspezifisch darin, wer genau über was genau klagt. Grundsätzlich ist bzw. war der gesamte Bologna-Prozess und die damit verbundene Einführung der gestuften Studiengänge in Deutschland mit vielfältiger Kritik verbunden, die sich auf verschiedenste Aspekte bezieht bzw. bezog (z.B. Winter, 2018; Tegeler, 2010; Wernstedt & John-Ohnesorg, 2010; Hechler & Pasternak, 2009; Belz et al., 2005; Flegel, 2000). So wurde bspw. gerade zu Beginn der Einführungen eine „Verschulung“ des Studiums befürchtet (z.B. Moser, 2021; Kühl, 2018), wobei mit dem Begriff je nach Perspektive unterschiedliche Dinge assoziiert wurden. Häufig wird und wurde damit ein Gegensatz zwischen Lehren und Lernen in den Institutionen Schule und Hochschule ausgedrückt, der sich darauf bezieht, dass das Studieren „freier“ sei als Lernen in der Schule teilweise mit Bezug zum Humboldtschen Bildungsideal (vgl. Tenorth, 2013). „Mit dem Etikett der Verschulung wird dabei eine Vielzahl von Phänomenen erfasst: Fixe Stundenpläne, klassenorientierte Lehr- und Lernorganisation, Anleitung statt selbstorganisiertes Lernen, permanente Anwesenheitspflichten einhergehend mit einer hohen Kontrolldichte und Prüfungsinflation […]“ (Kühl, 2018). Allerdings können natürlich auch einphasige Studiengänge je nach Fach mehr oder weniger Wahlfreiheiten beinhalten (z.B. naturwissenschaftliche Studiengänge hierarchischer aufgebaut als viele Studiengänge der Geisteswissenschaften). Klagen und Kritik sind aber kein Spezifikum für Bachelor- und Masterstudiengänge. Auch vor der Bologna-Reform gab es vielfach Klagen über die Ausgestaltung des Studiums (ein sehr plakatives Beispiel ist die Studentenbewegung der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts). Gemeckert wurde also schon immer ;).

Inwiefern sind Klagen über Bachelor- und Masterstudiengänge vor dem Hintergrund von Ergebnissen empirischer Untersuchungen evtl. doch gerechtfertigt? Eine generelle Schwierigkeit bei der Einordnung von Kritik besteht darin, dass sie für die empirische Prüfung auf die konkrete Implementation von Studiengängen an konkreten Hochschulen bezogen sein muss. Aussagen über die Folgen auf Systemebene sind dadurch erschwert. Auf diese Ebene zielt allerdings die vierte These von Heinz-Peter Meidinger. Es wären also Untersuchungen erforderlich, die kontrolliert möglichst viele Studiengänge an unterschiedlichen Orten mit einbeziehen, und das natürlich vor und nach der Einführung „neuer“ Studiengänge. Solche aufwändigen Studien liegen aber kaum vor bzw. auch hier wurden umfangreichere Daten zur Studierqualität zeitlich erst im Zuge des Bologna-Prozesses erhoben, so dass weniger gute Vergleichsdaten zur Zeit davor vorliegen. Daneben muss natürlich für eine empirische Erhebung genauer definiert werden, welche Qualitätsaspekte des Studiums adressiert werden sollen bzw. was genau untersucht werden soll. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich eine Vielzahl von Untersuchungen, die auch verschiedene Perspektiven aufgreifen. Da Heinz-Peter Meidinger allerdings nicht spezifischer wurde, habe ich für diesen Beitrag einfach ein paar exemplarische Beispiele ausgewählt.

Bspw. wurde im Projekt ZEITLast (Schulmeister & Metzger, 2011) ausgehend von Kritik an der Einführung der Bachelor-Studiengänge untersucht, wie groß die Workload und damit auch die Belastung ist, die Studierende erfahren. Methodisch wurden so genannte Zeitbudget-Analysen genutzt. Hierbei mussten teilnehmende Studierende in einem digitalen Tool täglich in gegliederten Zeitintervallen abgeben (kleinste Einheit: 15 Minuten), welche Tätigkeiten sie durchgeführt haben (aus einer Liste von Tätigkeiten). Es wurde relativ strikt vorgegangen, bspw. musste eine Erfassung zeitnah (max. bis 17 Uhr des Folgetags) erfolgen. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich jeweils auf die sechs Monate eines vollen Semesters. Zum Ende des Projekts wurden Daten von N=681 Studierenden aus 29 verschiedenen Studiengängen unterschiedlicher Universitäten und Fächer (erhoben zwischen dem Wintersemester 2009 und 2018) ausgewertet (Schulmeister & Metzger, 2018). Das Vorwort des ersten Zwischenberichts gibt einen guten, aber natürlich durch die Interpretation der Autor*innen gefärbten Eindruck bzgl. der Ergebnisse.

„Selten hat es eine Studie […] gegeben, welche die vorgefassten Meinungen und die vor Beginn aufgestellten Hypothesen in so grundlegender Art und Weise widerlegt hat. Nach aller Kenntnis der kritischen Bologna-Faktoren und den vielen und anhaltenden Studierenden-Protesten waren wir davon ausgegangen, dass im Bachelor-Studium eine fürchterliche Belastung auf die Studierenden zukäme. […] Wir haben in den Zeitbudget-Analysen feststellen müssen, dass die Zeit, die die Studierenden in das Studium investieren, im Mittel viel geringer ist als von früheren Befragungen ermittelt und weit unter den von Bologna und den Modulhandbüchern geforderten Werten liegt.“

(Schulmeister & Metzger, 2011, 7)

Konkreter in Zahlen ausgedrückt, haben die Studierenden basierend auf ihren Zeitbudget-Angaben in einem Semester im Bachelorstudium im Durchschnitt 24 Stunden pro Woche für studienbezogene Tätigkeiten (Metzger & Schulmeister, 2020). Darin sind alle Arten von Tätigkeiten inkludiert (z.B. Veranstaltungsteilnahmen, Selbststudium, Prüfungsvorbereitung). Wichtig ist allerdings, dass eine unheimliche große Varianz zwischen Studierenden, Fächern, Hochschulen und auch Zeitraum besteht (z.B. wird unmittelbar vor Prüfungen sehr viel Zeit investiert, in der vorlesungsfreien Zeit sehr wenig). Es gibt also auch Studierende mit objektiv sehr hohem Workload, aber eben auch einige Studierende mit so gut wie gar keinem Workload. Zwischen Zeitaufwand und Noten bestand so gut wie keine Korrelation (Schulmeister & Metzger, 2018). Studierende in untersuchten Diplomstudien der Stichproben unterschieden sich im Studierverhalten nicht besonders stark von den Studierenden in Bachelor-Studiengängen. Andere Untersuchungen kamen zu ähnlichen Ergebnissen (Kuhlee, 2020). Allerdings kann auch mit der ZEITLast-Studie natürlich kein direkter Einfluss der Einführung der „neuen“ Studiengänge an sich untersucht werden, da leider derartige Analysen für die vorherigen Studiengänge nicht vorliegen.

In einer anderen Untersuchung befragten Sieverding et al. (2013) N=405 Studierende an verschiedenen Universitäten, die zwischen Sommersemester 2009 und 2010 einen klassischen Diplom- oder einen Bachelor-Studiengang im Fach Psychologie absolviert haben, nach ihrem Studieraufwand, empfundenen Anforderungen und Entscheidungsspielräumen im Studium, der subjektiv empfundenen Belastung und ihrer Lebens- und Studierzufriedenheit. In Regressionsanalysen ergaben sich Unterschiede zwischen den Studienformen dahingehend, dass Bachelor-Studierende eine höhere Belastung und etwas geringere Studienzufriedenheit berichteten, der aber allerdings im Wesentlichen über Anforderungen mediiert wird. Der Grund für die Unterschiede zwischen den Studiengängen lag also darin, dass Bachelor-Studierende im Vergleich höhere Anforderungen berichtet haben (die Autor*innen vermuten aufgrund eines größeren Notendrucks). Entscheidungsspielräume spielten für die Studienzufriedenheit, aber nicht für das Belastungserleben eine Rolle. Die Ergebnisse werden allerdings dadurch eingeschränkt, dass zum Studienzeitpunkt kaum Diplom-Studierende unterer Semester einbezogen werden konnten. In anderen Untersuchungen wurden ebenfalls die Einschätzungen von Bachelor- und Diplomstudierenden verglichen. In der Analyse der erziehungswissenschaftlichen Studiengänge der Universität Gießen von Kaufmann & Fraij (2013) ergab sich bspw., dass Studierende beider Studiengänge, die Studierqualität hinsichtlich Studierbarkeit, Wissenschaftlichkeit und Lehrqualität sehr ähnlich beurteilten. Signifikante Unterschiede ergaben sich nur darin, dass Diplom-Studierende die Betreuung durch Dozierende schlechter und den Praxisbezug besser bewertete. Eine Untersuchung an der Universität Bern ergab ebenfalls kaum Unterschiede in den Einschätzungen Studierender in gestuften oder einphasigen Studiengängen (Franzen & Poitner, 2013). Zlatkin-Troitschanskaia et al. (2012) untersuchten, inwiefern sich die Entwicklung des wirtschaftswissenschaftlichen Fachwissens bei Diplom- und Bachelor-Studierenden der Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftspädagogik an einer Universität und einer Fachhochschule (N=771-1198 Studierende, je nach Erhebungszeitpunkt) unterschied. Sie resümieren, „dass seitens des Studienmodells kein eindeutiger Effekt nachgewiesen werden kann.[…] Von allen im Projekt ILLEV erhobenen strukturellen Merkmalen erweisen sich die Faktoren aus der Mesoebene, insbesondere die Anzahl und Art der besuchten Lehrveranstaltungen, als bedeutende Prädiktoren.“ (Zlatkin-Troitschanskaia et al., 2012, 431). Süß, Siewek & Köllner (2011) analysierten sogar, ob sich durch die Bologna-Reform Veränderungen beim ehrenamtlichen Engagement von Studierenden ergaben, was nicht der Fall war.

Hat die Qualität von Studiengängen durch die Einführung des Bachelor- und Master-Systems abgenommen? Hat die Belastung der Studierenden zugenommen? An diesen exemplarischen Beispielen wird deutlich, dass sich dies pauschal nicht beantworten lässt. Es kommt eben auf die konkrete Implementation vor Ort an. An manchen Hochschulen trifft es zu, an manchen nicht. Das liegt aber nicht direkt an der Einführung auf der Systemebene, sondern eher an den agierenden Personen. Dadurch, dass in vielen Fällen das gleiche Lehrpersonal für alle Studienformen zuständig war, ist auch eigentlich erwartbar, dass sich studentische Qualitätseinschätzungen zwischen den Studiengängen eher weniger unterscheiden sollten.

Wie schlimm war denn nun die Reform?

Ist die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Zuge des Bologna-Prozess nun ein Beispiel für eine – nach Ansicht von Heinz-Peter Meidinger – „misslungene Reform“ (Meidinger, 2021, 58)? Vor dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse empirischer Bildungsforschung ist dies wie bei vielen Aspekten des Bildungssystems auf struktureller Ebene nicht eindeutig entscheidbar bzw. nur differenziert nach bestimmten Aspekten. Grundsätzlich sind die Vergleiche zwischen einphasigen und gestuften Studiengängen immer dadurch erschwert, dass sich Studiengänge einzelner Hochschulen zwischen Fachdisziplinen stark unterscheiden, was sich auch in den Untersuchungsergebnissen widerspiegelt. Zum zweiten besteht, ähnlich wie bei Untersuchungen zum Schulsystem, auch hier die Schwierigkeit der Eingangsselektivität (vgl. den zweiten Beitrag zu dieser Todsünde). Neben Änderungen an der formalen Struktur von Studiengängen veränderte sich bspw. auch die Zusammensetzung der Studierenden im Zeitverlauf. So nahmen im Jahr 2022 54,7% eines Altersjahrgangs ein Studium auf, im Jahr 2003 waren es 39,3% (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022). Im Zuge dessen haben sich auch die Voraussetzungen verändert, mit denen Studierende ihr Studium beginnen (z.B. die durchschnittliche Abiturnote, sozio-ökonomischer Hintergrund), was sich auch auf viele der in Heinz-Peter Meidingers Thesen angesprochenen Aspekte auswirken könnte (vgl. Finger, 2012; Banscherus et al., 2009). Daher sind Unterschiede zwischen „alten“ und „neuen“ Studiengängen nicht nur auf die Gestaltung der Studiengänge selbst zurückführbar. Zum dritten muss bei einem Vergleich auch beachtet werden, welche Zeiträume betrachtet werden. Die ersten entwickelten Studiengänge kurz nach der Jahrtausendwende unterscheiden sich natürlich von den Studiengängen, die im Jahr 2024 an Hochschulen angeboten werden.

Generell ist es immer schwierig, eine Systemumstellung gut zu untersuchen, da eine solche Umstellung eben Veränderungen im System, also für alle Akteur*innen bedeutet. Empirische Untersuchungen sind daher zu einem gewissen Grad so etwas wie eine Operation am offenen Herzen. Auffällig ist bezogen auf den Bologna-Prozess, dass erst im Zuge dieser Neuausrichtungen überhaupt systematisch Daten zu Studienstrukturen, -qualität und -wirkungen erhoben wurden. Insofern ist ein Argument wie „Früher waren die Studiengänge besser!“ kaum prüfbar und auch etwas unfair, weil dadurch die „neuen“ Studiengänge einem stärkeren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt werden als die „älteren“. Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass die Bologna-Reform in vielen Aspekten keine bis wenige negative Auswirkungen hatte, sondern eher dazu beigetragen hat, auch negative Aspekte der einphasigen Studiengänge explizit zu machen. Wie bei vielem im Bildungssystem kommt es auch im Studium eher auf die Qualität der Tiefenstruktur (Fauth et al., 2020; vgl. Oppermann, 2020) von Lehr-Lern-Umgebungen an, als den formalen, organisatorischen Rahmen. Und diese hängt vom Handeln der lehrenden Personen ab, die auf dafür viele Freiheiten haben, egal, ob sie in einphasigen oder gestuften Studiengängen tätig sind. Und diese Freiheit ist an Hochschulen noch größer, als an Schulen. Generell lässt sich festhalten, das vieles an Kritik, die im Zuge des Bologna-Prozess geäußert wird bzw. wurde sehr normativ gefärbt ist und häufig die Ansichten und Erfahrungen einzelner Kritker*innen widergibt, die manchmal schon, aber auch häufig nicht mit den Ergebnissen systematischerer empirischer Untersuchungen übereinstimmen. Das ist aber auch erwartbar, schließlich betrifft gerade die Umstellung des Studiensystems die meisten Wissenschaftler*innen unmittelbar, weshalb sich häufig die Rolle der*des Forschenden mit der Rolle der*des Betroffenen vermischt.

Unausgereifte Reformen als Todsünde

Die dritte von Heinz-Peter Meidinger so genannte Todsünde der Schulpolitik bezieht sich darauf, dass zu viele unausgereifte Veränderungen des Bildungssystems vorgenommen und diese zugleich einen negativen Einfluss auf die Beteiligten haben würden. Für eine bessere Einschätzung, ob die für die drei genannten Beispiele für derartigen Reformen genannten Prämissen und Schlussfolgerungen auch im Einklang mit Ergebnissen empirischer Bildungsforschung stehen, haben wir uns mit ihnen in vier Beiträgen hier im Blog etwas ausführlicher beschäftigt. Anmerken möchte ich zum Ende dieser Beitragsreihe, dass das zugehöriger Kapitel zu dieser Todsünde im Buch neun DIN A6-Seiten umfasst. Aber gut, es ist ja auch als Streitschrift formuliert.

Zum Ende des Kapitels verweist Heinz-Peter Meidinger darauf, dass Olaf Köller auf die Frage, „was bei Schulleistungsvergleichen erfolgreiche Bundesländer […] anders machen als die Rankingschlusslichter“ (Meidinger, 2021, 60) gesagt hätte, dass es die Kontinuität in der Schulpolitik wäre (wahrscheinlich gemeint als Gegensatz zu zu vielen, schlechten Veränderungen, das ist aber meine Interpretation und wird nicht so explizit ausgeführt). Ich kann mir persönlich gut vorstellen, dass Olaf Köller so etwas oder zumindest etwas Ähnliches gesagt hat. Leider gibt es im Buch keine Quelleangabe zu dieser Aussage und auch meine (vielleicht auch nicht genügend tiefgehende Suche) hat kein entsprechendes Zitat gefunden. Grundsätzlich stimme ich zu, dass eine abgestimmte, systematische Strukturierung eines Bildungssystems mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für gute Lernleistungen einhergeht. Das kann aber auch Reformen umfassen, die natürlich gut umgesetzt sein sollten. Da stimme ich Heinz-Peter Meidinger explizit zu, aber ob eine spezifische Reform dieses Merkmal erfüllt, sollte durch systematische empirische Untersuchungen geprüft werden und nicht allein auf Einschätzungen individueller Akteur*innen. Die vierte Todsünde der Bildungspolitik wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er wird an dieser Stelle verlinkt, sobald er online zugänglich ist.

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11. GEBF-Tagung „Bildung verstehen • Partizipation erreichen • Transfer gestalten“

Bildungsforschung in Potsdam … again

Bildnachweis: © Hilke Schulz, Universität Potsdam, Tagungsteam der GEBF 2024 | https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/processed/f/6/csm_GEBF_Logo_Alternative_c3a682d778.png

Diesen März fand die jährliche Konferenz der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung in Potsdam statt. Dabei handelte es sich um einen Nachholtermin, da eigentlich schon 2020 in Potsdam getagt werden sollte, was aber aufgrund der COVID 19-Pandemie leider kurzfristig nicht möglich war. Insofern war es umso schöner, dass sich das Tagungsteam bereit erklärt hat, die Konferenz 2024 wieder auszurichten. Als Repräsentant unseres Teams war diesmal nur Christoph (also ich 😉 ) vor Ort. Der Tagungsort war derselbe wie schon auf der Tagung der AEPF 2023. Insofern war es auch gleichzeitig ein Wiedersehen mit dem schönen Campus Griebnitzsee (mit vielen Bäumen im Innenhof und es wurde auch wieder sonnig).

Unsere Beiträge

In diesem Jahr hatten wir die Gelegenheit, uns im Symposium Handlungsnahe Kompetenzmessung mit Simulationen in der Lehrkräftebildung: Potentiale und Herausforderungen zu beteiligen, das von Stephanie Kron und Prof. Dr. Stefan Ufer von der LMU München organisiert wurde. Christoph eröffnete das Symposium mit einem Vortrag über die Entwicklung und Ergebnisse aus der Validierung von Thomas‘ Performanztest für die rollenspielbasierte Prüfung von Feedbackkompetenz angehender Lehrkräfte im Fach Englisch. Dabei konnten wir auch aktuelle Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Performanz in der Simulation und dem Ausmaß von fachdidaktischen Wissen, Feedbackwissen und Sprachkompetenz berichten (Danke dir, Thomas, für die Auswertungen!). Danach berichtete Johannes Poser vom IPN in Kiel über die Erfassung der Diagnosekompetenz zum Experimentieren im Fach Biologie mit Hilfe eines virtuellen Klassenraums. In diesem virtuellen Klassenraum werden Gespräche mit einzelnen Schüler*innen simuliert, denen Fragen gestellt werden müssen (ausgewählt aus vorgegebenen Listen). Je nach Antwort, können weitere Fragen gestellt werden. Während dieses Prozesses müssen die Studierenden das Kompetenzniveau und das Wissen der simulierten Schüler*innen zum Experimentieren einschätzen und am Ende auch nochmals eine abschließende Einstufung der Kompetenz jedes*r Lernenden vornehmen. Daten aus einer Onlineuntersuchung mit N=86 Studierenden zeigte, dass diese die Niveaustufe in ca. 48% der Fälle korrekt diagnostizieren konnten. Im dritten Vortrag sprach Stephanie Kron über die Messung von und Beziehungen zwischen einzelnen Indikatoren der diagnostischen Kompetenz angehender Mathematiklehrkräfte. Zur Erfassung der Diagnosekompetenz wurde eine rollenspielbasierte Simulation genutzt, in der Lehramtsstudierende mit von trainierten Schauspieler*innen verkörperten Schüler*innen zwei diagnostische Einzelgespräche führen mussten. Zentrales Steuerungsinstrument dieser Simulationen ist dabei die Auswahl von Aufgaben, die sie den Schüler*innen im Verlauf verschiedene vorlegen müssen, die die Schüler*innen wiederum bearbeiten. Aus Ergebnis und der Beobachtung des Bearbeitungsprozesses wiederum sollte am Ende der Lernstand der Schüler*innen bzgl. neun Facetten der Dezimalbruchrechnung beurteilt werden. Als Indikator der Diagnosekompetenz wurde unter anderem der Anteil an Aufgaben berechnet, die ein hohes diagnostisches Potential innerhalb des Gesprächs aufweisen. Dabei zeigte sich in einer Untersuchung mit N=63 Studierenden, dass so gut wie keine Anpassung der Aufgabenauswahl anhand der Schüler*innenantworten stattfindet. Alle unsere Vorträge wurden aus einer medizindidaktischen Perspektive von Prof. Dr. med Harm Peters von der Charité Berlin diskutiert, was sehr bereichernd war und mir einige Anregungen für unsere weitere Arbeit im Projekt gegeben hat. Vielen Dank auch nochmal an dieser Stelle an Stephanie und Stefan für die Einladung und die Organisation! Daneben waren Jana und Christoph auch als Co-Autoren am Beitrag Pedagogical reasoning bei der Unterrichtsplanung – Eine netzwerkanalytische Untersuchung des Planungsentscheidens beteiligt, in dem Prof. Dr. Daniel Scholl unsere gemeinsamen Arbeiten zur Darstellung von Unterrichtsplanungen mit netzwerkanalytischen Methoden vorstellte. Danke auch dir Daniel!

Bildnachweis: © Christoph Vogelsang| Altehrwürdiger Eingang

Inspirationen

Daneben gab es auch dieses Jahr wieder viele interessante Vorträge und Poster zu unterschiedlichsten Aspekten der empirischen Bildungsforschung. Besonders interessant für uns war natürlich die (virtuelle) Keynote von Prof. Dr. Pam Grossman von der Penn GSE – University of Pennsylvania, die unter dem Titel Core Practices for Teaching: A Language for Developing and Improving Professional Practice einen Ansatz vorstellte, den auch wir für die Entwicklung unserer simulationsbasierten Prüfungen verwenden. Im Zentrum stehen so genannten Core Practices, also professionelle Praktiken, die prototypisch und fundamental für den Lehrkräfteberuf sind. Zum Erwerb von Kompetenzen bzgl. dieser Kernpraktiken entwickelte und erprobte sie zusammen mit Anderen auch spezifische Ansätze für die Lehre (vgl. Grossman, 2018). In einer weiteren Keynote sprach Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek zum Transfer sprachlicher Förderkonzepte. Nach einem Überblick über aktuelle Lernstandserhebungen zu Lesefähigkeiten deutscher Schüler*innen berichtete er unter anderem am Beispiel des Hamburger Lesebands, welche Bedingungen notwendig sind, damit empirisch abgesicherte, lernwirksame Intervention zur Förderung der Lesekompetenz auch in der Breite des Schulsystems implementiert werden können.

Auch neben den Keynotes gab es natürlich einige Highlights. Bspw. berichtete Madlena Kirchhoff über die Entwicklung und Evaluation eines Seminars zur Förderung der Core Practices „Ziele festlegen“ und „Unterrichtseinstiege erstellen“. Dabei orientierte sie sich mit ihren Kolleg*innen am oben schon erwähnten Ansatz zur Förderung von Core Practices (Grossman, 2018), wobei die Studierenden ihre geplanten Unterrichtseinstiege auch in Microteaching-Simulationen erprobt haben. Zur Evaluation entwickelten sie Instrumente zur Erfassung der Core Practices, die sich zumindest für das Festlegen von Zielen auch in der theoretisch erwarteten Struktur empirisch abbilden ließen. Holger Futterbleib präsentierte Ergebnisse experimenteller Studien zur Frage, inwiefern Personen der empirischen Bildungsforschung die Fähigkeit und Zuständigkeit zuschreiben, relevante Beiträge für gesellschaftliche Entscheidungen bzgl. Fragen der Bildung liefern. In quotenrepräsentierten Stichproben aus der deutschen Bevölkerung konnten dabei die Ergebnisse früherer Laboruntersuchungen bestätigt werden. Wurden Personen Ergebnisse der Bildungsforschung präsentiert, die ihren Vorüberzeugungen widersprach (hier: Wirksamkeit von Klassenwiederholungen), schrieben sie der Bildungsforschung geringere Fähigkeit und Zuständigkeit zu. Dieser Effekt bliebt aber auf den konkreten Kontext beschränkt und wurde nicht auf andere Themen generalisiert.

Insgesamt war es auch dieses Jahr eine gelungene Konferenz, die auch sehr nachhaltig geplant und durchgeführt wurde (z.B. mit Mehrwegbechern, vegetarisch/veganem Catering und vielen weiteren kleinen Ideen). Herzlichen Dank an das Tagungsteam! Wir freuen uns schon auf das nächste Jahr.

Vorträge:

  • Becker-Mrotzek, M. (2024, 20. März). Transfer sprachlicher Förderkonzepte gestalten. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Futterleib, H., Thomm, E., & Bauer, J. (2024, 18. März). Das kann man gar nicht untersuchen! Abwertung der Fähigkeit und Zuständigkeit von Bildungswissenschaft in der Öffentlichkeit. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Grossman, P. (Ed.). (2018). Teaching core practices in teacher education. Harvard Education Press.
  • Grossman, P. (2024, 18. März). Core Practices for Teaching: A Language for Developing and Improving Professional Practice. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Kirchhoff, M., Telgmann, L., & Müller, K. (2024, 19. März). Zur Messung der Core Practices „Ziele festlegen“ und „Unterrichtseinstiege erstellen“. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Kron, S., Sommerhoff, D., Stürmer, K., & Ufer, S. (2024, 18. März). Messung von und Beziehungen zwischen einzelnen Indikatoren der diagnostischen Kompetenz angehender Mathematiklehrkräfte. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Poser, J., Fiedler, D., Schönle, D., Reich, C., & Harms, U. (2024, 18. März). Messung der Diagnosekompetenz zum Experimentieren mit der Klassenraumsimulation SKRBio. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Scholl., D., Küth, S., Vogelsang, C. Meier, J., & Seifert, A. (2024, 19. März). Pedagogical reasoning bei der Unterrichtsplanung – Eine netzwerkanalytische Untersuchung des Planungsentscheidens. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.
  • Vogelsang, C., Janzen, T., Wotschel, P., & Grotegut, L. (2024, 18. März). Entwicklung und Validierung einer rollenspielbasierten Simulation als Prüfungsverfahren für das Lehramtsstudium im Fach Englisch. 11. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Potsdam.

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 4/12 – Teil 3

Todsünde Nr. 3: Zu viele unausgereifte Reformen im Bildungssystem

In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Dabei wird betrachtet, wie Prämissen und Argumentationen im Buch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Grundsätzlich ist daher hilfreich, das entsprechende Buchkapitel gelesen zu haben, was ich auch an dieser Stelle ausdrücklich empfehlen möchte. Dies ist der dritte Teil eines Beitrags, der sich mit der dritten vom Autoren so bezeichneten Todsünde beschäftigt. Thesen aus dem Buch werden im Konjunktiv wiedergegeben, was keine Zustimmung oder Ablehnung implizieren soll, sondern einfach den Regeln zur indirekten Rede folgt. Im ersten Teil wurde die Kernthese des zugehörigen Buchkapitels genauer beschrieben: zusammengefasst würden im Bildungssystem zu viele Veränderungen vorgenommen , ohne vorher ausreichend erprobt und/oder danach ausreichend evaluiert zu werden. Heinz-Peter Meidinger beschreibt hierfür drei Beispiele von Reformen näher, die sich aus seiner Sicht besonders negativ ausgewirkt hätten. Im ersten Teil ging es um das Konzept „Lesen lernen durch Schreiben“, im zweiten Teil um den frühen Fremdsprachenunterricht in der Grundschule. In diesem dritten und dem noch folgenden vierten Teil geht es um die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland im Zuge des so genannten Bologna-Prozesses. Die von Heinz-Peter Meidinger hierzu angesprochenen Aspekte sind so umfangreich, dass ich sie für eine bessere Lesbarkeit in zwei Blogbeiträge aufgeteilt habe.

Worum geht es eigentlich genau?

Bildnachweis: Bologna-Kommission, gemeinfrei

1997 schlossen der Europarat und die UNESCO einen ersten völkerrechtlichen Vertrag, in dem vereinbart wurde, Hochschulzugangsberechtigungen, Studienabschlüsse und Studienleistungen, die in den Unterzeichnerstaaten erworben wurden, prinzipiell gegenseitig anerkennen zu wollen (zusammenfassend als Lissabon-Konvention bezeichnet). Bei solchen Anerkennungen stecken aufgrund unterschiedlicher Bildungssysteme die Schwierigkeiten natürlich im Detail. Eine zentrale Einschränkung ist bspw., dass die zuständigen Behörden eines Landes sich vorbehalten dürfen, erbrachte Leistungen selbst zu bewerten und auch nur diese Bewertung anerkennen müssen. So kann z.B. entschieden werden, dass vor der Einschreibung in einen Studiengang in einem anderen Land erst noch weitere Zusatzqualifikationen erbracht werden müssen (z.B. vorbereitende Kurse, Aufnahmeprüfungen). Um die Vergleichbarkeit von Leistungen zu erleichtern, beschlossen 1999 29 europäische Länder, die Hochschulstrukturen in Europa zu harmonisieren bzw. besser aneinander anzupassen (zusammenfassend als Bologna-Prozess bezeichnet; Bologna-Erklärung, 1999). Das stieß eine ganze Reihe an Entwicklungen an, die sich natürlich je nach Ausgangslage zwischen den europäischen Ländern unterschieden.

Eine zentrale Veränderung ist, dass europaweit eine Studienstruktur umgesetzt wurde bzw. immer noch wird, die drei Zyklen der Hochschulbildung umfasst (KMK, 2016, 2003; HRK, 2004): im ersten Schritt den Erwerb einer Bachelor-Qualifikation, im zweiten eine Master-Qualifikation und im dritten Schritt ein Promotionsstudium. Jeder Zyklus endet mit einem definierten, eigenen Abschluss. Um den nötigen Umfang für die ersten beiden Abschnitte zu definieren, wurde das European Credit Transfer System entwickelt (dies ist der Ursprung der ECTS-Punkte an Hochschulen). Für deutsche Hochschulen bedeutete dies eine relativ große Umstellung, die nun – für die meisten Hochschulen erstmals – neue, zwei-stufige Studienprogramme entwickeln mussten, eben die besagten Bachelor- und Masterstudiengänge (Pietzonka, 2014; vgl. Klomfaß, 2011; Brändle, 2010). Zuvor existierten bspw. mit den Diplom-Studiengängen an vielen Universitäten Programme, in denen ein Abschluss erst am Ende eines längeren einphasigen Studienverlaufs erworben werden konnte (in diesem Sinne waren sie also nicht gestuft) und die auch nicht unbedingt kompatibel mit den beschlossenen Studienumfängen nach dem ECTS-System waren. Auch, wenn man sagen kann, dass der Großteil aktueller Studienprogramme in Deutschland diesem Zyklus-Modell entspricht (HRK, 2023), gibt es noch einige Bereiche, in denen bisher nur wenige Umstellungen erfolgt sind (vgl. Schütz & Röbken, 2019). Das gilt z.B. für Jura- und Medizin-Studiengänge, die immer noch weitestgehend dem Staatsexamensmodell folgen (HRK, 2023; vgl. Konzen, 2010). Hauptziel dieser Veränderungen auf formaler Ebene war natürlich, dass die Anerkennung von Hochschulqualifikationen vereinfacht wird. Damit verbunden waren und sind allerdings auch eine Reihe weiterer, damit zusammenhängender Ziele, wie die Erleichterung der Mobilität von Studierenden und Absolvent*innen (z.B. Wechsel des Studienorts in ein anderes Land, Auslandssemester), die europaweit gemeinsame Entwicklung und Arbeit an Qualitätsstandards für Studiengänge oder auch das Ziel, mehr Personen außerhalb Europas als Studierende zu gewinnen (vgl. Gehmlich, 2013; Brändle, 2010).

Was wird kritisiert?

Heinz-Peter Meidinger bezieht sich in seiner so bezeichneten dritten Todsünde der Schulpolitik auf diesen Veränderungsprozess im Hochschulbildungssystem, auch wenn dies streng genommen keinen direkten Einfluss auf das Schulsystem in Deutschland hat (ob es einen indirekten Einfluss hat bzw. haben sollte, ist allerdings eine diskutierte Streitfrage, vgl. Klomfaß, 2013). Er nennt die Einführung als Beispiel für eine „weitgehend misslungene Reform“ (Meidinger, 2021, 58) und gibt hierfür folgende Gründe an:

  1. Die Studienzeiten von Studierenden hätten sich nicht verkürzt, weil die meisten Bachelorabsolvent*innen auch ein Masterstudium begönnen. Dies läge auch an schlechten Berufs- und Verdienstaussichten nur mit einem Bachelorabschluss.
  2. Die Mobilität Studierender, einen Teil ihres Studiums im Ausland zu absolvieren (Auslandssemester) hätte nicht zugenommen.
  3. In Bachelorstudiengängen würde ein größerer Anteil Studierender ihr Studium abbrechen, als in nicht-gestuften Studiengängen vor dem Bologna-Prozess.
  4. Über die Qualität gestufter Studiengänge „gibt es vielfach Klagen“ (Meidinger, 2021, 59).

Anzumerken ist, dass die Verkürzung der Studienzeiten (Grund 1) und die Verringerung von Studienabbrüchen (Grund 3) kein offizielles Ziel des Bologna-Prozesses sind, mit dem ja primär die verbesserte gegenseitige Anerkennung und Harmonisierung von Hochschulqualifikationen angestrebt wird. Sie finden sich zumindest nicht als Zielformulierungen in der Bologna-Erklärung selbst (Bologna-Erklärung, 1999) und auch nicht in den selbst formulierten Zielen der (jeweiligen) Bundesregierungen, die die Umsetzung jeweils fortgeführt haben (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Das hat auch mich zunächst überrascht, da in Presseberichten über den Bologna-Prozess zu verschiedenen Zeiten insbesondere die Verkürzung der Studienzeit wie selbstverständlich als Ziel genannt wird (vgl. Winter, 2018; Zeit Online, 2014). Diese Diskrepanz lässt sich wahrscheinlich durch zwei Aspekte erklären, wie die Einführung der gestuften Studiengänge in Deutschland ausgestaltet wurde (HRK, 2008; 2004). Der erste Aspekt ist die vereinbarte Rahmenkonzeption der für Deutschland damals neuen Bachelor-Studiengänge. Bspw. wurde in einem Beschluss der KMK (2003) (bezeichnet als „10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland“) formuliert:

„Als Regelabschluss eines Hochschulstudiums setzt der Bachelor ein eigenständiges
berufsqualifizierendes Profil voraus, das durch die innerhalb der Regelstudienzeit zu
vermittelnden Inhalte deutlich werden muss.“

KMK (2003, 2)

Ein Bachelor wurde also konzeptuell als Abschluss für ein eigenständig qualifizierendes Studienprogramm gedacht. Kombiniert mit den europäisch beschlossenen ECTS-Vorgaben zum Umfang, die einer Regelstudienzeit von drei bis maximal vier Jahren entsprechen, wurde dies im Vergleich zu den vorher an den Universitäten verbreiteten Abschlüssen, die erst nach längeren Regelstudienzeiten erworben werden sollten, als Verkürzungsziel interpretiert (z.B. Banscherus et al., 2009). Dabei wird aber implizit angenommen, dass ein Bachelorstudium genau die gleichen Qualifikationen ermöglichen müsste, wir z.B. ein Diplomstudiengang. Der zweite Aspekt könnte darin liegen, dass in Deutschland schon vor dem Bologna-Beschluss die Einrichtung konsekutiver, also gestufter Studiengänge vorgeschlagen wurde, und die Verkürzung der Studienzeit und damit verbunden, die frühere Verfügbarkeit von Absolvent*innen auf dem Arbeitsmarkt, dabei als potentieller Vorteil benannt wurde (vgl. Brändle, 2010; Terbuyken, 2002). An diese Argumentationen schloss sich bspw. auch die KMK (2003) an, indem formuliert wurde, dass gestufte Studiengänge „zu kürzeren Studienzeiten, deutlich höheren Erfolgsquoten sowie zu einer nachhaltigen Verbesserung der Berufsqualifizierung und der Arbeitsmarktfähigkeit der Absolventen bei[tragen]“ (KMK, 2003, 2) würden. Direkt als Ziel oder Gestaltungsbedingung formuliert wird aber einer Verkürzung nicht. Auch eine Verringerung von Abbruchquoten als Ziel wird nur indirekt angedeutet. Generell gilt aber, dass – wie es für komplexe Veränderungsprozesse auf Systemebene typisch ist – Ziele generell eher weit und diffus formuliert werden (vgl. Klomfaß, 2011; Brändle, 2010). Der ökonomische Fokus auf den Erwerb von Berufsfähigkeit und schnelleren Abschlüssen ist an sich kein primäres Ziel des Bologna-Prozesses, sondern wurde eher in konkreten der Ausgestaltung in Deutschland zum Thema (vgl. Teichler, 2011). Da mit der Entwicklung von Bachelorstudiengängen, auch eine große inhaltliche Neu-Konzeption angestrebt wurde, ist aber zumindest diskutierbar, inwiefern ein Vergleich von Studienzeiten und Abbruchquoten ein geeignetes Maß für den Erfolg von Veränderungen im Hochschulsystem ist.

Die Erhöhung der Mobilität im (und nach) dem Hochschulstudium (Grund 3) ist hingegen auch ein offizielles Ziel des Bologna-Prozess (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Dass über die Qualität von Studiengängen geklagt würde (Grund 4), ist aus meiner Sicht kein besonderes Merkmal für gestufte Studiengänge. Klagen über die Qualität von Studiengängen treten unabhängig von der Struktur auf Systemebene so gut wie immer auf und Klagen können sich auf die unterschiedlichsten Aspekte beziehen. Sind es die z.B. Breite des Veranstaltungsangebots, die Prüfungs-Belastung oder die Studienbedingungen (vgl. Schulmeister & Metzger, 2011)? Trotz dieser Unklarheiten bzgl. der vier genannten Gründe, lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die von Heinz-Peter Meidinger genannten Kritikpunkte im Zuge des Bologna-Prozesses auch schon vielfach genannt wurden bzw. an verschiedenen Stellen in ähnlicher Form aufgetreten sind (z.B. Winter, 2018; Kühl, 2018; Banscherus et al., 2009). Im Folgenden werden wir daher einen Blick darauf werfen, welche Erkenntnisse aus der empirischen Bildungsforschung die genannten Vermutungen stützen oder nicht. Dabei konzentrieren wir uns auf Forschungen für den deutschen Hochschulkontext, auf den sich auch Heinz-Peter Meidinger bezieht. Anzumerken ist zunächst, dass die Forschungs- und Quellenlage zum Bologna-Prozess eher unübersichtlich und diffus ist. Im Folgenden kann daher auch nur ein kurzer Überblick gegeben werden. Dabei orientiere ich mich in der Reihenfolge an den Thesen von Heinz-Peter Meidinger. Sollten Untersuchungen nicht dabei sein, die aber zur Beurteilung der angesprochenen Kritikpunkte zentral sein, freue ich mich über eine kurze Benachrichtigung per E-Mail..

Gut Ding will Weile haben

Welchen Einfluss hatte die Einführung gestufter Studiengänge auf die Zeit, die Studierende bis zum Studienabschluss aufwenden? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst festgelegt werden, was genau mit Studienzeit gemeint ist. Zum einen kann damit der Zeitraum betrachtet werden, die Studierende in einem Studiengang verbringen, bspw. wie lange sie von Beginn eines Studiums bis zum Erwerb des Abschlusses benötigen. Aus dieser Perspektive wird Studienzeit innerhalb eines Studiengangs betrachtet (z.B. ob Studierende einen Bachelorabschluss in kürzerer oder längerer Zeit als die Regelstudienzeit erwerben). Zum anderen kann damit der Zeitraum gemeint sein, den eine Person insgesamt benötigt, bis sie die gesamte, individuelle Hochschulausbildung abgeschlossen hat. Nach dieser Perspektive könnte die Studienzeit bspw. die gesamte benötigte Zeit für ein Bachelor- und ein zusätzliches nachfolgendes Masterstudium bis zum Abschluss umfassen. Personen, die nach dem Bachelorstudium kein Masterstudium anschließen, hätten in dieser Perspektive also eine kürzere Studienzeit. Je nach Perspektive, würde ein Vergleich der „neuen“ gestuften Studiengänge mit den „alten“ einphasigen Studiengängen ein etwas anderes Vorgehen erfordern. Bzgl. der ersten Perspektive könnte man für einen Vergleich prüfen, wie stark die Studierenden im Durchschnitt von der jeweils vorgesehenen Studienzeit abweichen. Bzgl. der zweiten Perspektive könnte man die durchschnittliche Gesamtzeit der individuellen Hochschulausbildung betrachten und prüfen, inwiefern sie sich zwischen den Strukturen unterscheiden.

Welche Erkenntnisse zur Studienzeit bzgl. der Veränderungen der Studienstrukturen liegen vor? Laut dem aktuellsten nationalen Bildungsbericht von 2022, der sich auf Daten der amtlichen Statistik bezieht, schließt ein Drittel der Studierenden ein Studium in Regelstudienzeit ab (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022). Die meisten Bachelorstudiengänge an Universitäten haben eine Regelstudienzeit von sechs Semestern (vgl. HRK, 2023), der Abschluss wird allerdings nach durchschnittlich 7,9 Semestern erreicht. Dabei hat sich die durchschnittliche Studiendauer bis zum Bachelorabschluss hin zu längeren Zeiten entwickelt. Von im Jahr 2006 im Durschnitt 6,9 Semestern, über 6,5 Semester in 2010, 7,2 im Jahr 2014 und 7,8 Semester im Jahr 2014 (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022; 2020; 2018; 2016). An Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) erwerben Studierende nach durchschnittlich 7,5 Semestern einen Bachelorabschluss, dort beträgt die Regelstudienzeit aber meist zwischen sieben und acht Semestern (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022; vgl. HRK, 2023). Dabei bestehen große Unterschiede zwischen den Studierenden unterschiedlicher Fächergruppen. So ist bspw. der Anteil an Studierenden in Regelstudienzeit in den Fächergruppen Medizin und Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften höher (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022; Online-Anhang). Bspw. untersuchte Dietrich (2016) bspw. den längsschnittlichen Studienverlauf von Lehramtsstudierenden an der Universität Leipzig mit Studienbeginn ab Wintersemester 2006/2007 (n=342, Staatsexamen) und 2007/2008 (n=208, Bachelor- und Masterstudiengänge). Dabei ergab sich, dass 46,6% der Studierenden der Bachelor- und Masterstudiengänge ihr Studium in Regelstudienzeit absolvierten, im Vergleich zu 1,2% der Studierenden in den Staatsexamensstudiengängen. Die durchschnittliche Überschreitung betrug im Staatsexamen 3,3 Semester, im Bachelor-Master-System 1,1 Semester.

Hat sich durch die Einführung von gestuften Bachelor- und Masterstudiengängen nun die Zahl von Studierenden erhöht, die länger als die geplante Regelstudienzeit brauchen? Grundsätzlich war es auch vor der Bologna-Reform so, dass ein hoher Anteil Studierender für die einphasigen Studiengänge eine längere Zeit benötigte, als in den Studienplänen vorgesehen. In einer Untersuchung des Wissenschaftsrates zur Entwicklung der Fachstudiendauer an Universitäten von 1990 bis 1998 wird bspw. konstatiert, „daß unter den 132 Diplom- (U), Diplom- (KH) und
Magisterstudiengängen […], nur 11 Studiengänge einen Absolventenanteil innerhalb der Höchstförderungsdauer des BAföG von über 50 % erreichen. In 74 Studiengängen hat auch 2 Semester später noch nicht die Hälfte der Absolventen ihr Studium beendet. In 76 Studiengängen liegt der Median der Fachstudiendauer um mehr als 2 Semester über der Höchstförderdauer.“
(Wissenschaftsrat, 2001, 10f.). Anzumerken ist, dass als Höchstförderungsdauer gemäß BAföG (Bundesausbildungsförderungsgesetz) zum damaligen Zeitpunkt meist die Regelstudienzeit inklusive einem weiteren Semester angenommen wurde. Bzgl. der Studiendauer bezogen auf die Regelstudienzeit hat sich also durch die Einführung der „neuen“ Studiengänge grundsätzlich eher wenig verändert. Dass Studiengänge nicht in der formal geplanten Zeit beendet werden, ist also ein Phänomen, dass auch vor der Bolognareform schon verbreitet war.

Wie hat sich durch die Einführung der gestuften Studiengänge aber auf die Gesamtstudierdauer ausgewirkt? Generell gilt: an Universitäten nehmen gut zwei Drittel der Studierenden nach dem Bachelorabschluss ein Masterstudium auf (eine so genannte Übergangsquote von ca. 66% für den Prüfungsjahrgang 2018; Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022). Auf Basis von Daten der amtlichen Statistik haben Studierende an Universitäten im Jahr 2000 ein Diplomstudium nach durchschnittlich 12,7 Semestern abgeschlossen (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2016), für den Abschluss eines Masters betrug die gesamte durchschnittliche Studiendauer bspw. 11,2 Semester im Jahr 2012, 12,1 Semester im Jahr 2016 und 13,3 Semester im Jahr 2020 (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2016; 2020; 2022). Für noch bestehende Diplomstudiengänge betrug die Studiendauer im Jahr 2018 im Durchschnitt übrigens 12,7 Semester (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2020). Ähnliches gilt auch spezifisch nur für Lehramtsstudiengänge. Im Jahr 2000 machten Lehramtsstudiengänge im Durchschnitt nach 11,4 Semestern einen Abschluss, im Jahr 2014 nach 11,2 Semestern (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2016) und 11,6 Semester im Jahr 2018 (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2020), wobei hier natürlich Lehramtsstudiengänge für alle Zielschulformen zusammengefasst sind (z.B. Grundschule und berufliche Schulen). Auch ältere Untersuchungen zeigen schon ähnliche Studienzeiten für die einphasigen Studiengänge (z.B. Wissenschaftsrat, 2001).

Bildnachweis: Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, 212; lizenziert unter CC-BY-SA 3.0 DE

Generell ist es also so, dass sich nach der Einführung der „neuen“ Studiengänge, die Gesamtstudiendauern kaum verändert haben, mit einer Tendenz zu längeren Zeiten in den letzten sechs Jahren. Die Unterschiede zwischen Studiengängen und Fächern innerhalb der einzelnen Studienformen sind meist größer, als die Unterschiede zwischen der Studienzeit verschiedener Abschlussarten. Wie man diesen Umstand bewertet, ist eine Frage der Erwartung. Die Studiendauer bis zum Bachelorabschluss ist kürzer als z.B. zum Diplom. Heinz-Peter Meidinger stimme ich insofern zu, als dass zumindest an Universitäten die meisten Studierenden auch einen Masterabschluss zusätzlich anstreben und sich kombiniert keine Veränderung der mittleren Studienzeit ergeben hat. Das war aber auch zumindest kein offizielles Ziel des Bologna-Prozesses.

Was bringt der Bachelor?

Liegen die Gründe dafür, dass die meisten Studierenden mit einem Bachelorabschluss auch ein Master-Studium beginnen an schlechten Berufs- und Verdienstaussichten? Auch zu dieser Frage liegen einige Ergebnisse empirischer Untersuchungen vor. Auch hier können zunächst Analysen auf Basis amtlicher statistischer Daten herangezogen werden. Grundsätzlich ist es so, dass Personen mit einem Hochschulabschluss (egal welcher), im Durchschnitt höhere Einkommen erzielen, seltener von Arbeitslosigkeit betroffen sind und häufiger Führungspositionen ausüben als Personen mit einem anderen beruflichen Qualifikationsnachweis (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). Um Unterschiede im beruflichen Verbleib nach Abschlussart abzubilden, wird bspw. im Bildungsbericht 2022 unterschieden, welches Anforderungsniveau ausgeübte Berufe erfordert. Dabei wird zwischen Expert*in, Spezialist*in, Fachkraft und Helfer*in differenziert. Das Anforderungsniveau Expert*in und Spezialist*in werden dabei als ausbildungsadäquate Berufsplatzierung für Personen mit Hochschulabschluss betrachtet. Dabei zeigt sich, dass 85% der Absolvent*innen in einem Beruf arbeiten, die dem ausbildungsadäquaten Anforderungsniveau entspricht, mit Masterabschluss sind es 89%, mit „nur“ Bachelorabschluss sind es 80% (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, 217). Es gibt also bzgl. dieses Maßstabs einen, allerdings kleinen, Unterschied.

Unterschiede zeigen sich auch bzgl. des von Absolvent*innen mit verschiedenen Studienabschlüssen erzielten Einkommens. Bspw. nutzten Neugebauer & Weiss (2017) Daten des Mikrozensus 2010 und 2013 und betrachteten insbesondere Berufseinsteiger*innen, also Hochschulabsolvent*innen, deren Abschluss maximal sechs Jahre zurücklag. Diese Gruppen wurden auch mit Personen verglichen, die anderweitig Qualifikationen erworben haben (z.B. Ausbildung, Meister). Je nach Analyseschwerpunkt ergab sich eine Stichprobe zwischen von N =30.137 bis 34.940 Personen. In Regressionsanalysen zeigte sich, dass Masterabsolvent*innen unter Kontrolle der Fachdomäne ein signifikante höheres monatliches Einkommen angaben als Bachelorabsolvent*innen (ca. 14%). Diese gaben aber ein höheres Einkommen als Personen mit Ausbildungsabschlüssen an, mit Meisterabschluss war das Einkommen ähnlich hoch. Abschlüsse von HAWs gingen mit etwas höheren Einkommen einher als die Äquivalente von Universitäten. Ein ähnliches Muster ergab sich bzgl. des empfundenen Berufsprestiges mit etwas geringeren Unterschieden. Bachelorabsolvent*innen von Universitäten hatten aber die größte Wahrscheinlichkeit, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein und befristete Arbeitsverträge zu erhalten.

Trennt (2019) untersuchte anhand von Daten der ersten Befragungswelle des Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), inwiefern sich Unterschiede im nach Angaben der Absolvent*innen (N=2043) im weiteren Berufsverlauf erzielten Einkommen durch die Art ihres Studienabschlusses (Bachelor- oder Masterabschluss) erklären lassen. Im Nullmodell der Regressionsanalysen ergab sich, dass die Art des Abschlusses ein signifikanter Prädiktor ist (MA-Absolvent*innen verdienten nach Eigenangabe ca. 14% mehr), aber allein nur 2,8% der Varianz aufklärt. Werden weitere Variablen kontrolliert, die das erzielte Einkommen ebenfalls erklären können (z.B. Arbeitsort, Branche, vorherige Ausbildung, BA- bzw- MA-Note, Arbeitsmarktstruktur, Ausbildungsadäquanz, Fach u.v.a.), vergrößert sich der Unterschied zwischen den Absolvent*innengruppen sogar noch etwas (ca. 16% Einkommensunterschied). Insgesamt werden durch alle einbezogenen Variablen 36,7% der Unterschiede erklärt. Dabei wird deutlich, dass Einkommensunterschied durch ein komplexes Zusammenwirken vieler Faktoren erklärt werden kann. „Demnach verdienen Bachelorabsolventinnen und -absolventen auch deswegen weniger, weil sie häufiger Tätigkeiten ausüben, für die sie überqualifiziert sind.“ (Trennt, 2019, 391; vgl. auch Grotheer, 2019). Ob dies aber z.B. daran liegt, dass BA-Absolvent*innen ihre Tätigkeiten eher zur Überbrückung zum Masterstudium ausüben, konnte durch die Daten nicht geklärt werden.

Ähnliche Unterschiede zwischen beiden Absolvent*innengruppen werden auch in anderen Untersuchungen berichtet (Hall, 2021; Fabian et al., 2016; Spangenberg & Quast, 2016; Konegen-Grenier, Placke & Schröder-Kralemann, 2015). Auch Analysen, in denen Studierenge mit „alten“, einphasigen Diplomabschlüssen einbezogen wurden, zeigen, dass Bachelorabsolvent*innen im Vergleich geringere Einkommen erzielen (Rehn et al., 2011), wobei die Größe des Unterschieds stark von den studierten Fächern abhing (Müller & Reimer, 2015). Zu beachten ist bei diesen Ergebnissen allerdings auch, dass im Zeitverlauf zum anderen der Anteil von Berufsanfänger*innen, die einen Hochschulabschluss erworben hat, insgesamt gestiegen ist (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, 77f.), also insgesamt mehr Personen mit einem solchen Abschluss auf dem Arbeitsmarkt nach Stellen suchen. Dementsprechend werden nun auch vermehrt Personen mit „neuen“ Abschlüssen eingestellt (Briedis et al., 2011). Daher können sich Ergebnisse auch im Zeitverlauf ändern bzw. Erkenntnisse zum „Wert“ von Abschlüssen hängen natürlich auch davon ab, in welchen Jahren der Abschluss erworben wurde. Basierend auf den vorliegenden Untersuchungen sind die Verdienst- und Beschäftigungsaussichten von reinen Bachelorabsolvent*innen aber tatsächlich etwas schlechter als von Absolvent*innen mit anderen Hochschulabschlüssen, wie auch Heinz-Peter Meidinger impliziert.

Ist dieser Unterschied aber auch ein Grund für Studierende, nach dem Bachelorabschluss eher ein Masterstudium aufzunehmen (vgl. Johnson, 2013)? Zur Frage, aus welchen Motiven heraus Studierende ein Studium aufnehmen, liegen auch einige empirische Erkenntnisse vor. Lörz et al. (2019) untersuchten mit Hilfe von Daten des DHZW-Studienberechtigtenpanels (N=2667 Personen, die 2010 die Studienberichtigung erworben haben), wie bestimmte motivationale Orientierungen, Zielvorstellungen und die Entscheidung, nach einem Bachelorabschluss ein Masterstudium aufzunehmen zusammenhängen. Dabei wurde zu verschiedenen Zeitpunkten eine Reihe von Variablen erfasst (z.B. Schul- und Studienleistungen, eingeschätzte Kosten, erwartete immaterielle und materielle Erträge, Merkmale der Bildungsbiografie, familiäre Rahmenbedingungen etc.). In logistischen Regressionsanalysen ergab sich, dass viele dieser Merkmale signifikante Prädiktoren für die Entscheidung für ein Masterstudium bilden, allerdings meist mit einem ähnlich kleinen Effekt. Die größten Effekte hatten das studierte Fach (Lehramt, Natur- und Ingenieurswisseschaften) und ob der Bachelor an einer Universität erworben wurde. Erwartete Opportunitätskosten hatten nur einen eher kleinen Effekt auf die Entscheidung gegen ein Masterstudium im Anschluss (β=-0,02). Diese komplexe Motivlage für das Aufnehmen eines Masterstudiums wird auch in anderen Untersuchungen herausgestellt (z.B. Köck & Zach, 2022; Kretschmann et al., 2017; Lörz et al., 2015; Auspurg & Hinz, 2011). Die geringen Verdienstaussichten allein sind für die meisten Studierenden daher anscheinend nicht der ausschlaggebendste Grund bzw. es hängt sehr stark vom studierten Fach ab, wie sehr dieses Motiv ein Grund ist.

Für das Lehramtsstudium, mit dem wir uns hier im Blog hauptsächlich beschäftigen, ist es relativ klar, warum sich die meisten Studierenden mit einem Bachelorabschluss auch für ein Masterstudium entscheiden (ca. 90%; Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). In allen Bundesländern berechtigt schlicht nur ein Masterabschluss zur Aufnahme des Vorbereitungsdiensts bzw. des Referendariats (vgl. Möller, Bauer & Zimmermann, 2023). Aufgrund dieses Umstands wurde und wird auch für das Lehramtsstudium weiterhin diskutiert, wie eine gestufte Studienstruktur am besten ausgestaltet werden, wie diese verändert werden sollte (vgl. Schmees, 2020; Helsper & Kolbe, 2002; Herrmann, 2001). Übrigens nehmen auch nach erfolgreichem Masterstudium nicht alle Lehramtsstudierenden den Vorbereitungsdienst auf. Bei Analysen auf Basis des Nationalen Bildungspanels konnten Gülen, Müller & Schmid-Kühn (2023) feststellen, dass nach dem Masterabschluss 16% der Lehramtsabsolvent*innen einen Beruf außerhalb des Lehramtes ausüben oder ein Promotionsstudium aufnehmen.

So weit, so gut…

In diesem Beitrag haben wir uns mit der ersten Begründung Heinz-Peter Meidingers, warum er die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen als eine nicht gelungene Reform nennt, aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung beschäftigt. Aus Gründen des Umfangs und für eine bessere Lesbarkeit werden die übrigen drei Gründe bzw. Thesen (keine Erhöhung der internationalen Mobilität im Studium, höhere Abbruchquoten, Klagen über Qualität) im vierten und letzten Teil zu seiner Todsünde der Schulpolitik Nr. 3 betrachtet. Er findet sich hier.

Literatur:

  • Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2016). Bildung in Deutschland 2016 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. wbv. (Online)
  • Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2018). Bildung in Deutschland 2018 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. wbv. (Online)
  • Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2020). Bildung in Deutschland 2020 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. wbv. (Online)
  • Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2022). Bildung in Deutschland 2022 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. wbv. (Online)
  • Auspurg, K., & Hinz, T. (2011). Master für alle? Der Einfluss sozialer Herkunft auf den Studienverlauf und das Übertrittsverhalten von Bachelorstudierenden. Soziale Welt, 62(1), 75-99. (Online)
  • Banscherus, U., Gulbins, A., Himpele, K., & Staack, S. (2009). Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland – Eine Expertise im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung. GEW. (Online)
  • Bologna-Erklärung (1999). Der Europäische Hochschulraum – Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister Juni 1999. Bologna. (Online)
  • Brändle, T. (2010). 10 Jahre Bologna-Prozess. Springer VS. (Online)
  • Briedis, K., Heine, C. Konegen-Grenier, & Schröder A-K. (2011). Mit dem Bachelor in den Beruf – Arbeitsmarktbefähigung und -akzeptanz von Bachelorstudierenden und -absolventen. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. (Online)
  • Briedis, K., Klüver, S., & Trommer, M. (2016). Zwischen Etablierung, Stabilisierung und Aufstieg: Berufliche Entwicklung der Hochschulabsolvent(inn)en 2009. Forum Hochschule 4|2016. DZHW. (Online)
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  • Dietrich, S. (2016). Lehrerbildung in Sachsen–modularisiert zum Erfolg? Effektivität der Bachelor/Master-Lehrerausbildung am Beispiel der Universität Leipzig. DDS–Die Deutsche Schule108(1), 93-106. (Online)
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  • Grotheer, M. (2019). Berufseinstieg und Berufsverlauf mit Bachelorabschluss. Wie erfolgreich etablieren sich Graduierte verschiedener Abschlussarten am Arbeitsmarkt?. In M. Lörz, & H. Quast (Hrsg.), Bildungs-und Berufsverläufe mit Bachelor und Master: Determinanten, Herausforderungen und Konsequenzen (S. 437-479). Springer. (Online)
  • Gülen, Ș., Müller, K., & Schmid-Kühn, S. M. (2023). Lehramtsstudium–Vorbereitungsdienst–Lehrkräfteberuf, oder? Empirische Analysen aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS). ZeHf–Zeitschrift für empirische Hochschulforschung6(2), 149-168. (Online)
  • Hall, A. (2021). Alles beim Alten? Bildungserträge höherer beruflicher und akademischer Abschlüsse vor und nach Bologna. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 73(4), 527-553. (Online)
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  • HRK (Hrsg.) (2008). Bologna-Reader III – FAQs – Häufig gestellte Fragen zum Bologna-Prozess an deutschen Hochschulen. HRK-Bologna Zentrum. (Online)
  • HRK (Hrsg.) (2023). Statistische Daten zu Studienangeboten an Hochschulen in Deutschland -Studiengänge, Studierende, Absolventinnen und Absolventen – Wintersemester 2023/2024. HRK. (Online)
  • Johnson, M. T. (2013). The impact of business cycle fluctuations on graduate school enrollment. Economics of Education Review34, 122-134. (Online)
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  • KMK (2016). Europäische Studienreform – Gemeinsame Erklärung von Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz (Beschluss der Hochschulrektorenkonferenz vom 10.11.2015 sowie der Kultusministerkonferenz vom 08.07.2016). (Online)
  • Köck, V., & Zach, A. (2022). Wohin geht es nach dem Bachelorabschluss? Einblicke in die Ergebnisse einer Studienabschlussbefragung an der Universität Graz. In A. Eder, K. Deman, & S. Aldrian (Hrsg.), Bildungs-und Berufsvorstellungen von Bachelorabsolventen und-absolventinnen: Empirische Analysen anhand von Befragungs-und Registerdaten (S. 13-34). Springer. (Online)
  • Konegen-Grenier, C., Placke, B., & Schröder-Kralemann, A. K. (2015). Karrierewege für Bachelorabsolventen: Ergebnisbericht zur Unternehmensbefragung 2014. Stifterverband. (Online)
  • Konzen, H. (2010). Bologna-Prozess und Juristenausbildung. Juristenzeitung65(5), 241-245. (Online)
  • Kretschmann, J., Gronostaj, A., Schulze, A., & Vock, M. (2017). Wenn sich die Masterfrage stellt: Soziale Herkunftseffekte auf die Übergangsintention nach dem Bachelorstudium. ZeHf–Zeitschrift für empirische Hochschulforschung1(1), 13-14. (Online)
  • Kühl, S. (2018). Verschulung wider Willen. Die ungewollten Nebenfolgen einer Hochschulreform. In N. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform: Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 295-309). Springer. (Online)
  • Lörz, M., Quast, H., & Roloff, J. (2015). Konsequenzen der Bologna-Reform: Warum bestehen auch am Übergang vom Bachelor-ins Masterstudium soziale Ungleichheiten?. Zeitschrift für Soziologie44(2), 137-155. (Online)
  • Lörz, M., Quast, H., Roloff, J., & Trennt, F. (2019). Determinanten des Übergangs ins Masterstudium. Theoretische Modellierung und empirische Überprüfung. Bn M. Lörz, & H. Quast (Hrsg.), Bildungs-und Berufsverläufe mit Bachelor und Master: Determinanten, Herausforderungen und Konsequenzen (S. 53-93). Springer. (Online)
  • Meidinger, H.-P. (2021). Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift. Claudius Verlag.
  • Möller, J., Bauer, J., & Zimmermann, F. (2023). Das Lehramtsstudium – Angebot, Nutzung, Lernergebnisse. In T. Kauper, A. Bernholt, J. Möller, & O. Köller (Hrsg.), PaLea: Professionelle Kompetenzen und Studienstrukturen im Lehramtsstudium (S. 149-178). Waxmann.
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  • Neugebauer, M., & Weiss, F. (2017). Does a Bachelor’s Degree pay off?: Labor Market Outcomes of Academic versus Vocational Education after Bologna. School of Business & Economics Discussion Paper 2017/11. FU Berlin. (Online)
  • Pietzonka, M. (2014). Gestaltung von Studiengängen im Zeichen von Bologna. Springer. (Online)
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  • Terbuyken, G. (2002). Bedingungen und Chancen für konsekutive Studiengänge – Zur Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen in der Sozialarbeit, Evangelische Jugend, 79(2), 81-94. (Online)
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  • Winter, M. (2018). Bologna–die ungeliebte Reform und ihre Folgen. In N. Hericks (Hrsg.), Hochschulen im Spannungsfeld der Bologna-Reform: Erfolge und ungewollte Nebenfolgen aus interdisziplinärer Perspektive (S. 279-293). Springer. (Online)
  • Wissenschaftsrat (Hrsg.) (2001). Entwicklung der Fachstudiendauer an Universitäten von 1990 bis 1998. Wissenschaftsrat. (Online)
  • Zeit Online (Hrsg.) (2014). Bachelor-Abschlüsse dauern länger als geplant, Zeit Online, 27. Juli 2014. (Online)

„Prüfung – bitte nicht stören!“ – Pilotierung des OSTE für das Unterrichtsfach Physik

Das PERFORM-LA-Team ist gut in das neue Jahr gestartet und konnte sich mittlerweile auch vom Reisemarathon des vergangenen Jahres erholen. Das heißt natürlich nicht, dass es bei uns keine interessanten Entwicklungen gäbe, von denen wir berichten möchten – im Gegenteil:

Ein neuer Performanztest! – Nein, eigentlich sieben…

Nachdem im Sommer 2023 bereits die Haupterhebungen für Thomas’ Performanztest für das Unterrichtsfach Englisch und Philipps Performanztest für den bildungswissenschaftlichen Bereich stattfanden, konnten wir in dieser Woche nun auch endlich den OSTE (Objective Structured Teaching Examination) für das Unterrichtsfach Physik pilotieren. Der OSTE besteht Im Gegensatz zu den Performanztests in den Fächern Englisch und Bildungswissenschaften aus insgesamt sieben einzelnen Prüfungsstationen, die innerhalb eines ca. 2,5-stündigen Prüfungsparcours durchlaufen werden – ganz ähnlich einem OSCE in der medizinischen Ausbildung, den wir uns bereits in Aktion am KISS in Köln ansehen durften. Einige der Prüfungsstationen haben Jana und Lea für den OSTE komplett neu entwickelt, andere wurden basierend auf Vorarbeiten aus dem Projekt ProfileP+ (Kulgemeyer et al., 2021; Schröder et al., 2020; Vogelsang et al., 2019; Kulgemeyer & Tomczyszyn, 2015) und der Dissertation von Markus Feser (Feser, 2019) sowie auch Philipps Test zur Beratungskompetenz weiterentwickelt. Die Prüfungsstationen richten sich an Lehramtsstudierende mit dem Unterrichtsfach Physik und orientieren sich an den vier Kompetenzbereichen Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren der Standards für die Lehrkräftebildung (KMK, 2022). Dabei sind einige der Stationen eher fachspezifisch (Unterrichtsplanung, Erklären physikalischer Phänomene, Reflexion von Physikunterricht, Beurteilen von Schüler*innentexten) und einige eher fächerübergreifend (Beratung, Konfliktlösung, Unterrichtsentwicklung). Im Gegensatz zu Thomas‘ und Philipps Performanztests dauern die einzelnen Stationen des OSTE nur etwa 15-20 Minuten, um die Gesamtzeit des Prüfungsparcours im Rahmen zu halten. Neu beim OSTE ist außerdem, dass nicht alle der Stationen rollenspielbasiert sind, sondern auch ausschließlich schriftliche Materialien beinhalten oder aus simulierten Videokonferenzen bestehen.

Schauspieltraining & logistische Herausforderungen

Dennoch sind auch im OSTE drei rollenspielbasierte Stationen enthalten, in denen unsere studentischen Hilfskräfte wieder mit ihrem schauspielerischen Talent glänzen konnten. Glücklicherweise bekamen wir im Dezember Unterstützung von Ella, Eike und Carlo, die nun mit Jasmin und Elena das Hilfskraft-Team im Forschungsbereich des PLAZ bilden. So startete vor Weihnachten das Schauspieltraining für die rollenspielbasierten OSTE-Stationen. Für unsere Hilfskräfte hieß das: Rollenbeschreibungen lernen, Verbal Trigger verinnerlichen und natürlich: Viel üben! In unterschiedlichsten Konstellationen und mit Unterstützung des gesamten Teams wurden die Gesprächssimulationen geprobt, bis sich alle bereit gefühlt haben für die Pilotierung mit Lehramtsstudierenden. Neben der Entwicklung der Prüfungsstationen und dem Schauspieltraining spielte auch die Logistik eine wesentliche Rolle bei den Vorbereitungen der Pilotierung: die Lehramtsstudierenden sollten parallel und möglichst ohne Leerlauf die sieben Stationen durchlaufen. Geeignete Räumlichkeiten wurden organisiert, Ablaufpläne erstellt und eine Menge Material zur Bearbeitung und Evaluation der Stationen vorbereitet. Am 29. Januar war es dann endlich so weit, und erst einmal vier Lehramtsstudierende des Unterrichtsfachs Physik stellten sich den sieben OSTE-Stationen. Wie schon bei den bereits entwickelten Performanztests haben wir auch bei der Pilotierung des OSTE Kameras an den rollenspielbasierten Stationen aufgestellt, um die simulierten Gespräche zu videografieren. An den anderen Stationen haben wir den Arbeitsprozess der Lehramtsstudierenden per Bildschirmaufzeichnung dokumentiert und ihre schriftlichen Notizen und Ergebnisse festgehalten.

Die erste Hürde ist geschafft!

Die Studierenden füllten außerdem nach der Bearbeitung jeder einzelnen Station einen Kurzfragebogen aus, in dem sie die Authentizität und Immersion der Stationen bewerteten. So sind zahlreiche Aufzeichnungen und Beurteilungen des Prüfungsparcours entstanden, die in einem nächsten Schritt gesichtet und ausgewertet werden, um den OSTE für unseren nächsten geplanten Testdurchlauf im Sommersemester 2024 auf dieser Grundlage weiterzuentwickeln. Obwohl wir im Vorhinein noch etwas skeptisch waren, was den reibungslosen Ablauf der Pilotierung angeht, können wir nun ein positives Fazit ziehen: Die Studierenden konnten alle Stationen im Zeitrahmen bearbeiten, und unsere Hilfskräfte haben nicht nur schauspielerische Höchstleistungen erbracht, sondern durch ihre Unterstützung auch für einen reibungslosen Ablauf am Pilotierungstag gesorgt. Wir sind gespannt, was die Auswertung der Dokumente und Aufzeichnungen ergibt und wie sich der OSTE bis zum nächsten Testlauf weiterentwickeln wird.

Literatur:

  • Feser, M. S. (2019). Physiklehrkräfte korrigieren Schülertexte. Eine Explorationsstudie zur fachlich-konzeptuellen und sprachlichen Leistungsfeststellung und -beurteilung im Physikunterricht. Logos Verlag.
  • KMK (2022). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i. d. F. vom 07.10.2022). (Online)
  • Kulgemeyer, C., & Tomczyszyn, E. (2015). Physik erklären – Messung der Erklärensfähigkeit angehender Physiklehrkräfte in einer simulierten Unterrichtssituation. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften1(21), 111-126. (Online)
  • Kulgemeyer, C., Kempin, M., Weißbach, A., Borowski, A., Buschhüter, D., Enkrott, P., … & Vogelsang, C. (2021). Exploring the impact of pre-service science teachers’ reflection skills on the development of professional knowledge during a field experience. International Journal of Science Education43(18), 3035-3057. (Online)
  • Schröder, J., Riese, J., Vogelsang, C., Borowski, A., Buschhüter, D., Enkrott, P., … & Schecker, H. (2020). Die Messung der Fähigkeit zur Unterrichtsplanung im Fach Physik mit Hilfe eines standardisierten Performanztests. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften26(1), 103-122. (Online)
  • Vogelsang, C., Borowski, A., Buschhüter, D., Enkrott, P., Kempin, M., Kulgemeyer, C., … & Schröder, J. (2019). Entwicklung von Professionswissen und Unterrichtsperformanz im Lehramtsstudium Physik. Analysen zu valider Testwertinterpretation. Zeitschrift für Pädagogik65(4), 473-491. (Online)

5. BMBF-Statusgruppenseminar

… schon wieder unterwegs!

Das Programm bot über anderthalb Tage eine bunte Mischung aus Workshops, Keynotes und Raum für den gemeinsamen Austausch. So hatten wir die Gelegenheit, uns an beiden Tagen innerhalb der verschiedenen Statusgruppen einen Überblick über die Entwicklungen seit dem letzten Treffen zu verschaffen und intensiv Fragen und Themen aus den Projekten MuHiK, Gender 3.0, RP SKM und FORMAT zu diskutieren.

Für hochinteressanten Input sorgte an diesem ersten Tag des Treffens darüber hinaus eine Keynote von Prof. Dr. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut. Er nahm den weiten Weg aus München auf sich, um über den Stand der Forschung zu sexualisierter Gewalt an Schulen zu sprechen, und thematisierte in seinem Vortrag viele nationale und internationale Perspektiven aus diesem hochrelevanten Forschungsgebiet. Am Donnerstagnachmittag wurden wir dann wieder selbst aktiv und haben uns im Rahmen eines Workshops, geleitet von Dr. Katharina Lehmann, intensiv mit Fragen rund um das Thema Work-Life-Balance auseinandergesetzt, bevor das gemeinsame Abendessen den Abschluss dieses ersten Tages unseres Treffens bildete.

Eine Besonderheit dieses Statusgruppentreffens bestand darin, dass dieses Mal gleich zwei Gruppen den Hut für die Organisation und Gestaltung trugen. Aus diesem Grund kamen wir an Tag 2 in den Genuss einer weiteren spannenden Keynote von Olivier Berton von der Université Paris-Est Créteil, in der es um die Implementierung und Gestaltung LGBTI-inklusiver Curricula in internationalen Schulsystemen ging. Nach diesem abschließenden „food for thought“ war dann am Freitagmittag auch schon wieder die Heimreise nach Paderborn angesagt.

Wir bedanken uns herzlich für die tolle Organisation und zwei interessante und ereignisreiche Tage in Flensburg! Im nächsten Jahr freuen wir uns dann darauf, die anderen Nachwuchsforschungsgruppen im Herbst zum nächsten Präsenztreffen in Paderborn zu begrüßen.

Vorträge:

  • Berton, O. (2023, 06. Oktober). The International Reference Framework on LGBTI-Inclusive Curricula [Vortrag]. 5. Statusseminar der BMBF-Nachwuchsforschungsgruppen „Empirische Bildungsforschung“, Europa-Universität Flensburg.
  • Kindler, H. (2023, 05. Oktober). Stand und Perspektiven der Forschung zu sexualisierter Gewalt an Schulen [Vortrag]. 5. Statusseminar der BMBF-Nachwuchsforschungsgruppen „Empirische Bildungsforschung“, Europa-Universität Flensburg.

Bildquelle Logo: Europa-Universität Flensburg, https://www.uni-flensburg.de/zebuss/veranstaltungen/aktuelle-veranstaltungen/forschungsfoerderung/statusseminar-bmbf-nachwuchsforschungsgruppen

30. DGFF-Kongress 2023 – Die Fremdsprachenforschung zu Gast in Freiburg

Bildnachweis: © PH Freiburg

Vom 26.09 bis 29.09 fand im wunderschönen Freiburg im Breisgau der 30. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung statt – und Thomas und Christoph waren auch mit dabei. Für Christoph war es dabei eine besondere Erfahrung, da er ja eher aus der Physikdidaktik kommt und in diesem Feld weniger zu Hause ist (wobei er vor 2 Jahren auf dem digitalen Format schonmal erste Sprachdidaktikluft schnuppern konnte). Er wurde zwar als Exot wahr- aber sehr herzlich aufgenommen ;).

Anders als vor zwei Jahren, als das Projekt noch am Anfang stand, konnte Thomas dieses Mal auch schon einige Fortschritte präsentieren. Auf seinem Poster „Show, don’t tell – Rollenspielbasierte Simulationsprüfungen für zukünftige Englischlehrkräfte“ hat Thomas den Test sowie erste Ergebnisse der Validierungsuntersuchungen vorgestellt. In den knapp 2 Stunden wurde in vielen Gesprächen über das Potential von rollenspielbasierten Simulationsprüfungen gesprochen und die (vorläufigen) Ergebnisse der noch laufenden Validierung diskutiert. Es war eine allgemein sehr ergiebige und gutbesuchte Postersession – danke hier an die Organisator*innen für diese schöne Möglichkeit!

Bildnachweis: © Christoph Vogelsang

Es gab, wie immer auf Konferenzen, viele andere spannende Vorträge. Hervorheben wollen wir natürlich auch die Vorträge von unseren Kolleg*innen aus Paderborn: Maike Bauer stellte Ergebnisse ihres Dissertationsprojekts zum Einsatz von Diaspora-Kurzgeschichten im Englischunterricht vor. Dominik Rumlich war an einem Symposium zum Fremdsprachenfrühbeginn und am Nachwuchscafé beteiligt. Dagmar Keatinge und Katharina von Elbwart präsentierten Ergebnisse aus dem Deutsch-Kanadischen Kollaborationskurs Teaching Language Internationally und fokussierten sich dabei auf Identitätskonstruktionen von angehenden Fremdsprachenlehrkräften. Katharina prästierte zudem noch Ergebnisse zu perceptual dialectology in Florida. Unser Standort war daher ziemlich gut vertreten, wie wir finden 🙂

Ein weiteres Vortragshighlight war der Beitrag von Dr. Malgorzata Barras von der Universität Freiburg aus der Schweiz. In einem aufwändigen Verfahren hat sie fremdsprachliche Testitems evaluiert und dazu neben quantitativen Daten auch die introspektiven Verfahren des Lauten Denkens und Stimulated Recalls eingesetzt. Untersucht wurde, welche Strategien die Testpersonen nutzen, um die Aufgaben zu lösen. Spannend war hierbei, dass durch die verschiedenen introspektiven Verfahren auch verschiedene Teststrategien aufgezeigt werden konnten – so lassen sich manche Strategien nur durch eines der beiden Verfahren aufzeigen. Beeindruckend war auch der Vortrag von Prof. Dr. David Gerlach und Dr. Kristin Weise-Zurmühlen dazu, wie (Fremd-)Sprachenlehrkräfte mit Verschwörungstheorien umgehen und sich im Unterricht positionieren (müssen), eine Herausforderung vor der Lehrkräfte spätestens seit der Coronapandemie häufig stehen.

Neben dem inhaltlichen Gesichtspunkten, war es auch schön viele bekannte Gesichter wiederzusehen und sich auszutauschen – sowohl beim Schlange stehen auf dem Conference Dinner, als auch bei einem Kaffee in den vielen sonnigen Pausen. Hoffentlich sieht man sich 2025 in Kassel wieder.

Wir bedanken uns bei dem Team um Prof. Dr. Olivier Mentz und natürlich allen Helfer*innen für die wunderbare Organisation dieser Tagung!

Vorträge:

  • Barras, M. (2023, 27.09.). Forschungsmethodologische Grenzen mittels Triangulation überwinden: Zum Einsatz von Lautem Denken, Stimulated Recall und quantitativen Daten in einer Studie zur Testvalidierung. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • Bauer, M. (2023, 29.09.). Diaspora-Kurzgeschichten im fremdsprachlichen Unterricht Englisch: Ein neuer didaktischer Impuls? 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • Brunsmeier, S., Frisch, S. & Reckermann, J. (2023, 27.09.). Symposium: Fremdsprachenfrühbeginn. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • Gerlach, D. & Weiser-Zurmühlen, K. (2023, 28.09.). Language Teacher Identity und Verschwörungstheorien: Wie Lehrkräfte gezwungen werden, sich bei kritischen Themen im Unterricht zu positionieren. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • Janzen, T., Meier, J., Rumlich, D., Vogelsang, C. & Wotschel, P. (2023, 28.09). Poster: Show, don’t tell – Rollenspielbasierte Simulationsprüfungen für zukünftige Englischlehrkräfte. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • Matz, F. & Rumlich, D. (2023, 28.09.). Nachwuchs-Café: Symposium zur interdisziplinären Vernetzung von Doktorand*innen und Postdocs. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • von Elbwart, K. & Keatinge, D. (2023, 28.09.). Language teacher identity über Grenzen hinweg? Identitätskonstruktion in internationalen Lernumgebungen in der LehrerInnenausbildung. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.
  • von Elbwart, K. (2023, 28.09.). Sprachliche Grenzräume visualisieren: Perceptual dialectology im (Fremd)Sprachenunterricht. 30. DGFF Kongress 2023, Pädagogische Hochschule Freiburg.

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 4/12 – Teil 2

Todsünde Nr. 3: Zu viele unausgereifte Reformen im Bildungssystem

In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Dabei betrachten wir, wie Prämissen und Argumentationen im Buch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Grundsätzlich ist daher hilfreich, das entsprechende Buchkapitel gelesen zu haben, was ich auch an dieser Stelle ausdrücklich empfehlen möchte. Dies ist der zweite Teil eines Beitrags, der sich mit der dritten vom Autoren so bezeichneten „Todsünde“ beschäftigt. Thesen aus dem Buch werden im Konjunktiv wiedergegeben, was keine Zustimmung oder Ablehnung implizieren soll, sondern einfach den Regeln indirekter Rede folgt. Im ersten Teil wurde die Kernthese des zugehörigen Buchkapitels genauer beschrieben: Zusammengefasst würden im Bildungssystem zu viele Veränderungen vorgenommen, ohne vorher ausreichend erprobt und/oder danach ausreichend evaluiert zu werden. Heinz-Peter Meidinger beschreibt insbesondere drei Beispiele von Reformen, die sich aus seiner Sicht besonders negativ ausgewirkt hätten. Meidingers erstes Beispiel, das Konzept „Lesen durch Schreiben“, haben wir im ersten Teil genauer betrachtet. In diesem Beitrag geht es nun um das zweite Beispiel: den (frühen) Fremdsprachenunterricht in der Grundschule.

Fremdsprachen in der Grundschule?

Noch in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Lehrerverbandes hat Heinz-Peter Meidinger im Sommer 2023 in verschiedenen Medien die Abschaffung des Englischunterrichts an Grundschulen vorgeschlagen, um stattdessen mehr Zeit für die Leseförderung bzw. den Deutschunterricht aufzuwenden (z.B. Votja, 2023; BR24, 2023). Den frühen Fremdsprachenunterricht hat der Autor auch schon im vorliegenden Buchkapitel negativ betrachtet und dazu ähnliche Argumente angeführt wie in den aktuelleren Interviews. Heinz-Peter Meidinger kritisiert am Fremdsprachenunterricht in der Grundschule verschiedene Aspekte. Zum Ersten den (eventuell) fehlenden Lernerfolg: Bis heute gibt es keine Evaluation, die belegt, dass durch den frühen Fremdsprachenbeginn die fremdsprachliche Kompetenz von Schulabsolventen gestiegen sei“ (Meidinger, 2021, 57). Stattdessen seien Kompetenzen in der Muttersprache geschwächt worden, weil für den Fremdsprachenunterricht der Zeitrahmen für den Deutschunterricht gekürzt worden sei. Zum Zweiten das Fehlen von Bildungsstandards für das frühe Fremdsprachenlernen, auf denen der Unterricht ein weiterführenden Schulen aufbauen könnte. Nach Aussage von Heinz-Peter Meidinger fingen […] die Fremdsprachenlehrkräfte an Gymnasien deshalb nochmals von vorne an“ (Meidinger, 2021, 58), wobei ich vermute, dass auch Lehrkräfte an anderen weiterführenden Schulformen gemeint sind. Zum Dritten sieht er die Annahme kritisch, dass Kinder Fremdsprachen besonders leicht lernen würden, was wie folgt begründet wird:

Der Lernfortschritt ist bei gleichem Zeiteinsatz bei Zehnjährigen höher als bei Sechs- oder Achtjährigen, weil letztere zu systematischem Lernen noch nicht in der Lage sind“

(Meidinger, 2021, 58).

Ich muss zugeben, dass ich dieses Argument nicht ganz verstehe bzw. nachvollziehen kann. Ich vermute, dass sich Heinz-Peter Meidinger hier auf empirische Untersuchungen bezieht, zu denen leider keine Quellenangaben gemacht werden. Wenn Sechs- bis Achtjährige grundsätzlich nicht zu systematischem Lernen in der Lage wären, spräche das dann nicht generell dafür, die Grundschule erst ab einem Alter von neun Jahren zu beginnen? Ich vermute, dass das nicht der Aussageintention des Autors entspricht, es ließe sich aber allein auf Grundlage seines Textes so interpretieren. Zum Vierten wird von Heinz-Peter Meidinger auch kritisiert, dass zu wenige für den Fremdsprachenunterricht ausgebildete Lehrkräfte vorhanden seien.

Englisch auf Kosten der Erstsprache?

Seit 2004 ist die Teilnahme am fremdsprachlichen Unterricht in allen Bundesländern für alle Kinder in der Grundschule verpflichtend, wobei sich die konkrete Ausgestaltung (z.B. Klassenstufe, Umfang) zwischen den Bundesländern unterscheidet und zudem im Laufe der Zeit auch verändert (vgl. KMK, 2013). In Nordrhein-Westfalen wurde verpflichtender Englischunterricht an allen Grundschulen beispielsweise ab dem Jahr 2003 eingeführt (MSB NRW, 2003), konkret mit jeweils zwei Unterrichtsstunden pro Woche in den Klassenstufen 3 und 4 (MSB NRW, 2005). Ging dies zu Lasten anderer Fächer, […] weil die Zusatzstunden auch aus dem Bereich des Deutschunterrichts herausgebrochen wurden“ (Meidinger, 2021, 57)? In der Stundentafel für die Grundschule vor der Einführung waren für die dritte Klasse 23-24 Stunden pro Woche vorgesehen, von denen 14-15 Stunden auf die Fächer Sprache, Sachunterricht, Mathematik sowie Förderunterricht entfallen sollten (MSB NRW, 1996). Für die vierte Klasse waren es insgesamt 24-25 Wochenstunden, davon 15-16 für die genannten Bereiche, also auch das Fach Deutsch. In der Stundentafel nach Einführung des Englischunterrichts waren für die dritte Klasse 25-26 Stunden pro Woche, davon 14-15 Stunden für die Fächer Deutsch, Sachunterricht, Mathematik, Förderunterricht vorgesehen (MSB NRW, 2005). Der Anteil für das Fach Deutsch änderte sich also nicht. Stattdessen wurde das Fach Englisch mit einer zusätzlichen Erhöhung der Gesamtstundenzahl eingeführt (was auch für Klassenstufe 4 zutrifft). Auch als der Beginn des Englischunterrichts in die Klassenstufe 1 vorverlegt wurde (MSB NRW, 2009), geschah dies im Zuge einer Erhöhung des gesamten Stundenvolumens und ohne Abzüge im Fach Deutsch. In der aktuellen Fassung wurde der Unterrichtsbeginn wieder in Klassenstufe 3 verlegt (MSB NRW, 2021), allerdings mit wöchentlich drei Stunden Englischunterricht verbunden mit einer Erhöhung des gesamten Stundenvolumens (das Gesamtvolumen für Klasse 1 und 2 blieb übrigens unverändert und die nun freien Stunden wurden den Basisfächern zugewiesen). Zumindest für Nordrhein-Westfalen ist die Aussage zur Kürzung auf Kosten des Deutschunterrichts also nicht zutreffend.

Empirische Erkenntnisse zum frühen Fremdsprachenunterricht

Welche Erkenntnisse empirischer Forschung liegen zu den kritisierten Aspekten vor? Wie schon im ersten Teil zu diesem Beitrag möchte ich auch hier zuvor anmerken, dass ich kein Experte für Fremdsprachendidaktik oder Elementarpädagogik bin. Nichtsdestotrotz werden wir die genannten Prämissen und Argumentationen vor dem Hintergrund empirischer Forschungen betrachten. Dabei wird der Fokus auf das Fach Englisch gelegt, da sich die meisten vorliegenden Untersuchungen auf dieses Fach beziehen. Es existieren aber auch Untersuchungen zu anderen Fremdsprachen in der Grundschule (z.B. Peyer et al., 2016; Jung, 2015; Schlemminger, 2011). Modellversuche zum Englischunterricht in der Grundschule wurden in Deutschland schon seit den 60er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts durchgeführt (z.B. Doyé & Lüttge, 1977; Kraifl, 1972; vgl. Gompf, 1986) und auch im Zuge der flächendeckenden Einführung deutschlandweit wurden eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt (vgl. Hempel et al., 2017), teilweise mit dem expliziten Ziel einer Evaluation des frühen Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule (z.B. Groot-Wilken & Husfeldt, 2013). In Anlehnung an die Darstellung von Baumert et al. (2020) lassen sich diese Untersuchungen grob danach unterscheiden, ob sie eher die Sprachkompetenzen von Kindern am Ende der Grundschulzeit oder eher die Sprachkompetenzen von Schüler*innen in der Sekundarstufe I (oder sogar Studierenden) untersuchen. Natürlich bestehen zwischen den Untersuchungen Unterschiede, beispielsweise im Studiendesign (z.B. Anzahl der Messzeitpunkte, Stichproben) oder darin, welche Facetten fremdsprachlicher Kompetenzen in den Fokus genommen wurden (z.B. Hörverstehen, Leseverstehen, mündliche Sprachkompetenz, Wortschatz etc.).

Wie gut können“ Schüler*innen am Ende der Grundschule Englisch?

Es liegen mehrere Untersuchungen vor, die längsschnittlich untersucht haben, wie sich die Kompetenzen von Schüler*innen im Fach Englisch im Verlauf der Grundschule verändern bzw. querschnittlich erhoben haben, welche Kompetenzniveaus von Kindern am Ende der Grundschulzeit erreicht werden (vgl. Summer & Böttger, 2022). Bei den meisten Untersuchungen hatte der Englischunterricht dabei einen Umfang von zwei Unterrichtsstunden pro Woche für zwei bzw. drei Schuljahre. So wurden im Projekt EVENING (Evaluation Englisch in der Grundschule) in den Jahren 2006 bis 2007 mit Schüler*innen aus zwei Kohorten aus Nordrhein-Westfalen (N = 1748 und N = 1344) standardisierte Sprachstandstests durchgeführt (Hör- und Leseverstehenstests, mit einer Teilstichprobe auch Sprechfertigkeitstests) (vgl. Groot-Wilken & Husfeldt, 2013). Im Bereich Hörverstehen befanden sich dabei 73% der Schüler*innen in den oberen zwei Quartilen der maximal erreichbaren Punktzahl, im Bereich Leseverstehen befanden sich 74,2% in den oberen zwei Quartilen (Paulick & Groot-Wilken, 2009). „Die festgestellten Leistungen […] liegen für den weitaus überwiegenden Anteil der Schülerschaft auf bzw. oberhalb der fachlichen Anforderungsniveaus, das der zum Testzeitpunkt geltende Lehrplan vorgibt“ (Paulick & Groot-Wilken, 2009, 194f.). Ebenfalls zeigte sich, „[…] dass viele Sprecher über […] eine basale produktive Fertigkeit des Sprechens in der Fremdsprache am Ende des 4. Schuljahres verfügen“ (Keßler, 2009, 175). Ähnliche Ergebnisse bzgl. des Hörverstehens wurden auch im Rahmen der KESS-Studie (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern) im Bundesland Hamburg berichtet (May, 2006). In der BIG-Studie (BIG-Kreis, 2015) wurden verschiedene sprachliche Kompetenzen von N = 2148 Schüler*innen der Klassenstufe 4 aus 15 Bundesländern untersucht. Dabei ergaben sich ähnliche bzw. etwas positivere Ergebnisse im Vergleich zur EVENING-Studie. Insgesamt lässt sich das erreichte Sprachniveau in diesen Studien im Durchschnitt äquivalent zum Niveau A1 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (CEFR) (Council of Europe, 2001; 2018) einordnen (vgl. Fleckenstein, 2020). Auch in weiteren Untersuchungen (in Deutschland und in anderen Ländern) zum Englischunterricht in Grund- bzw. Elementarschulen konnte beobachtet werden, dass Grundschüler*innen substanziell sprachliche Kompetenzen aufbauen (z.B. Goorhuis-Brouwer & de Bot, 2010; Heinzmann et al., 2009; vgl. Schwandtke, 2023).

Wann ist der ideale Startzeitpunkt?

Auf Basis der empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass Grundschüler*innen im Englischunterricht etwas dazu lernen. Der Unterricht ist also in diesem Sinne wirksam. Offen bleibt dabei allerdings die Frage, wann mit dem Unterricht optimal begonnen werden sollte. In Klasse 1 oder eher in Klasse 3? Oder zu einem anderen Zeitpunkt? Personen, die für einen möglichst frühen Beginn von Fremdsprachenunterricht argumentieren, beziehen sich häufig auf die Hypothese, dass für den Erwerb einer Zweitsprache eine so genannte kritische Periode existiere (vgl. DeKeyser & Larson-Hall, 2005; Lenneberg, 1967). Damit ist ein Zeitfenster in der Entwicklung von Kindern gemeint, in dem diese bestimmte Fähigkeiten im Umgang mit einer zweiten Sprache (Grammatik, Phonologie) besonders gut bzw. einfach erlernen könnten, was später nur mit größerem Lernaufwand möglich sei. Hinweise für die Plausibilität dieser These zeigen Forschungen zu bilingual aufwachsenden Kindern oder zu sogenannten Sprachimmersionsprogrammen (z.B. Böttger & Müller, 2023; Gebauer et al., 2013). Es wird jedoch innerhalb der Spracherwerbsforschung diskutiert, ob dieser Ansatz überhaupt auf den Unterricht in der Grundschule mit einer relativ geringen Zahl an Lerngelegenheiten übertragen werden kann (vgl. Sopata, 2018; Larson-Hall, 2008). Abgesehen von dieser Hypothese wird aber grundsätzlich erwartet, dass ein früherer Beginn generell mit mehr Lerngelegenheiten für das Englischlernen einhergeht.

In Zusammenfassungen internationaler empirischer Studien zeigt sich meist, dass ältere Kinder (über 10 Jahre) einen etwas schnelleren Zuwachs in sprachlichen Kompetenzen aufweisen als jüngere Kinder (5 bis 8 Jahre) und sich eine Art Aufholeffekt der später startenden Schüler*innen ergibt (Huang, 2016). Eventuell sind es derartige Untersuchungen, auf die sich Heinz-Peter Meidinger im oben genannten Zitat bezieht. Das ist allerdings nur eine Vermutung meinerseits. Allerdings besteht in Bezug auf derartige Studien immer eine Schwierigkeit darin, dass für einen sinnvollen Vergleich zwischen den beiden Gruppen auch die Anzahl an Lerngelegenheiten vergleichbar sein muss. Studien mit einer besseren Kontrolle der Bedingungen (wie die Anzahl an Lerngelegenheiten) lassen z.B. vermuten, dass ein früherer Start sich auf verschiedene Aspekte sprachlicher Kompetenz unterschiedlich auswirkt (vgl. Muñoz, 2006). Für den Kontext des Englischunterrichts in der Grundschule in Nordrhein-Westfalen berichten Wilden et al. (2013) auf Basis einer Analyse von Sprachtest von ca. N = 6500 Schüler*innen einen kleinen statistisch signifikanten Vorteil für Schüler*innen, deren Englischunterricht schon in der ersten Klasse begonnen hat, im Vergleich zu Schüler*innen, die in der dritten Klasse begonnen haben (Effektstärken: Hörverstehen d = 0.21, Leseverstehen d = 0.17). Aber auch hier waren in beiden Gruppen jeweils unterschiedlich viele Lerngelegenheiten verfügbar. Insgesamt sind die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Frage nach dem Effekt des frühen Beginns des Englischlernens auf den Kompetenzerwerb in der Grundschule nicht eindeutig.

Was bringt früher Fremdsprachenunterricht langfristig?

Unabhängig davon, ob sie in der ersten oder dritten Klasse begonnen haben, erwerben Schüler*innen im Englischunterricht der Grundschule fremdsprachliche Kompetenzen. Heinz-Peter Meidinger bezieht sich in seiner Kritik allerdings auf die „fremdsprachliche Kompetenz von Schulabsolventen“ (Meidinger, 2021, 57) und damit auf den Zeithorizont der gesamten Schullaufbahn. Zur Frage, wie sich früher Fremdsprachenunterricht in der Grundschule mittelfristig (z.B. in weiterführenden Schulen) oder langfristig (z.B. bei Absolvent*innen) auswirkt, liegen ebenfalls schon einige Untersuchungen vor (vgl. Fleckenstein et al., 2020; vgl. Huang, 2016). Methodisch werden in derartigen Untersuchungen meist bestimmte Aspekte von fremdsprachlichen Kompetenzen in einer größeren Stichprobe von Schüler*innen untersucht (sowohl querschnittlich zu einem Zeitpunkt oder auch die längsschnittliche Entwicklung zu mehreren Zeitpunkten) und anschließend verschiedene Subgruppen von Schüler*innen verglichen, die sich darin unterscheiden, wann diese zum ersten Mal Fremdsprachenunterricht erhalten haben.

Insgesamt sind die Ergebnisse heterogen (Fleckenstein et al., 2020) und es finden sich sowohl Untersuchungen, in denen Lernende mit einem früheren Start in höheren Klassen höhere Kompetenzen aufweisen (z.B. Mihaljevic Djigunovic et al., 2008), als auch Untersuchungen, in denen in höheren Klassen keine Unterschiede zwischen Schüler*innen mit früherem oder späteren Beginn des Fremdsprachenunterrichts gefunden wurden (z.B. Pfenniger & Singleton, 2017). Jaekel et al. (2017) berichteten basierend auf einem Vergleich von N = 5130 Schüler*innen in Nordrhein-Westfalen, dass Schüler*innen mit einem Beginn ab der ersten Klasse in Klasse 5 zwar höhere, in Klasse 7 jedoch schlechtere sprachliche Kompetenzen aufwiesen als Schüler*innen mit einem Beginn ab der dritten Klasse. Die Stichprobe war allerdings besonders selektiert (alle Teilnehmenden stammten aus 31 Gymnasien) und es ist unklar, ob der Umfang an Lerngelegenheiten ausreichend kontrolliert wurde (vgl. Baumert et al., 2020). In einer Replikationsstudie (Jaekel et al., 2022a) wurde zusätzlich eine dritte Kohorte (N = 804 Schüler*innen) betrachtet, die ihre Grundschullaufbahn sechs Jahre später im Vergleich zur ersten Studie begonnen hatten. Dabei ergab sich für Klasse 5 ein analoges Ergebnis, für Klasse 7 ein Aufholeffekt für die später startenden Schüler*innen und in Klasse 9 wieder ein Vorteil für früh startende Schüler*innen (Jaekel et al., 2022b). Insgesamt ist die Zusammenfassung der Ergebnisse einzelner Untersuchungen aber schwierig, da sie sich in Untersuchungsdesign, verwendeten Instrumenten und insbesondere den betrachteten Stichproben stark unterscheiden. Im Kern besteht dabei immer die Frage, ob die verglichenen Schüler*innengruppen über vergleichbare Eingangsvoraussetzungen verfügen (siehe hierzu auch unseren Beitrag zur Todsünde Nr. 2). Für den Englischunterricht in Deutschland überwiegen dabei bisher Untersuchungen, die keinen Vorteil eines früher beginnenden Englischunterrichts zeigen. Ist also ein früher Beginn des Englischunterrichts nicht sinnvoll?

Gelingt der Übergang in die weiterführende Schule?

Für eine Interpretation dieser Ergebnisse sollte die für die meisten Untersuchungen geltende Anmerkung von Fleckenstein et al. (2020) beachtet werden: „Keine der Untersuchungen prüfte aber die Anschlussfähigkeit des Sekundarschulunterrichts an die in der Grundschulzeit erworbenen Kenntnisse – eine Voraussetzung, die erfüllt sein muss, bevor Rückschlüsse auf mangelhafte Qualifikationsleistungen der Grundschule gezogen werden können“ (Fleckenstein et al., 2020, 143). Um diese Schwierigkeit in empirischen Analysen berücksichtigen zu können, nutzten Baumert et al. (2020) die Daten der nationalen Überprüfung des Erreichens von Bildungsstandards (BISTA) des IQB für Schüler*innen der Klasse 9. Genauer betrachteten sie die Kohorte des Schuljahres 2008/2009, in dem noch nicht für alle befragten Schüler*innen früher Englischunterricht in der Grundschule stattgefunden hat. Es handelt sich um eine stratifiziert gezogene, repräsentative Stichprobe. Um eine höhere Vergleichbarkeit herzustellen, wurden Schüler*innen mit bestimmten Merkmalen ausgeschlossen (z.B. zu Hause wird Englisch gesprochen, Teilnahme an bilingualen Schulprogrammen). Die für die Analysen genutzte Stichprobe besteht aus N = 19.653 Schüler*innen aus allen Bundesländern. Dabei wurden die fremdsprachlichen Kompetenzen (Lesen, Hörverstehen) von drei Gruppen verglichen: Frühstarter*innen (Beginn Klasse 1 oder 2), Mittelstarter*innen (Beginn Klasse 3 bis 4) und Spätstarter*innen (Beginn Klasse 5). Zudem wurden umfangreiche Einflussvariablen kontrolliert (z.B. die sprachlichen Kompetenzen im Deutschen). Es ergab sich kein signifikanter Unterschied im Ausmaß der fremdsprachlichen Kompetenz zwischen den drei Gruppen, wobei allerdings ein starker Einfluss der Schulform deutlich wird. So wird bezogen auf den Übergang von Grundschule in die weiterführende Schule berichtet: „The finding that none of the specified interactions between AO [age of onset] and school type were significant […] is a strong indicator that secondary-level English instruction failed to respond adaptively to students’ different proficiency levels at entry to the school. These problems seem to be most pronounced in Gymnasium schools […]“ (Baumert et al., 2020, 1092).

Auf Basis dieser Analysen lässt sich begründet vermuten, woran es liegt, dass im Schulsystem (bisher) kein langfristig positiver Effekt eines früheren Fremdsprachenunterrichts beobachtet wurde. Der Unterricht an weiterführenden Schulen wird eventuell nicht ausreichend an die (für viele erfahrenere Lehrkräfte nun auch neuen) Lernvoraussetzungen von Schüler*innen angepasst. Dies ist konsistent zur Formulierung von Heinz-Peter Meidinger, dass viele Lehrkräfte am Gymnasium „nochmals von vorne an[fangen]“ (Meidinger, 2021, 58) und quasi einen einheitlichen Unterricht für alle Klassen unabhängig von den tatsächlichen Voraussetzungen der Schüler*innen anbieten (vgl. Böttger, 2009). Die Untersuchung von Jaekel et al. (2022c) deutet zudem darauf hin, dass insbesondere Schüler*innen mit schwächeren fremdsprachlichen Kompetenzen den Übergang in die weiterführende Schule eher als „Bruch“ im Englischunterricht empfinden. Welchen Schluss man daraus nun zieht ist eine Frage der (normativen) Perspektive. Man könnte sagen, dass Englischunterricht in der Grundschule grundsätzlich nicht mehr erteilt werden sollte (vgl. Votja, 2023), um unterschiedliche Lernvoraussetzungen beim Eintritt in Klasse 5 zu vermeiden. Oder man könnte sagen, dass der Unterricht in Klasse 5 stärker an die individuellen Voraussetzungen der Schüler*innen angepasst werden sollte.

Fazit

Ob zur Beurteilung der Wirksamkeit des frühen Fremdsprachenunterrichts die gesamte Schullaufbahn von Schüler*innen (die je nach weiterführender Schulform zwischen neun und dreizehn Jahren liegen kann) den geeigneten Zeitmaßstab bildet, ist ebenfalls eher eine normative und keine rein empirische Frage. Die Frage, wann der optimale Beginn für den Unterricht ist, wird für andere Fächer der Grundschule auch selten diskutiert. Ist es besser mit Mathematik schon in Klasse 1 zu beginnen und nicht erst ab Klasse 3? Diese Frage wirkt auf den ersten Blick etwas unsinnig, was auch daran liegt, dass die Existenz eines Faches in der Grundschule nicht allein aufgrund empirischer Erkenntnisse zur Effizienz des Lernens in diesem Fach oder aufgrund von Erfordernissen für Unterricht in den weiterführenden Schule legitimiert wird, sondern aus bildungstheoretischen Gründen. Mathematik wird auch aus dem Grund schon früh unterrichtet, weil mathematische Kenntnisse als wichtiges Element der Lebenswelt und Grundlage zu gleichberechtigter Teilhabe für Kinder an der Gesellschaft betrachtet werden. Man kann argumentieren, dass dies in einer stärker globalisierten Welt auch für das Erlernen basaler sprachlicher Kompetenzen im Englischen gilt (vgl. KMK, 2013). Auch der überwiegende Teil von Eltern sieht in repräsentativen Umfragen aktuell Englisch als sehr wichtiges Schulfach (Körber-Stiftung, 2023).

Generell gilt aber für alle Veränderungen im Schulsystem, dass die reine Einführung an einer spezifischen Stelle meist nicht ausreicht, um langfristige Effekte zu erzielen. Veränderungen in der Grundschule sollten bzw. müssen immer auch in weiterführenden Schulen zu Anpassungen führen und dafür wäre es sinnvoll, wenn es bundesweit einheitliche Bildungsstandards für den frühen fremdsprachlichen Unterricht gäbe. Hier möchte ich Heinz-Peter Meidinger also explizit zustimmen, wobei die länderspezifischen Curricula durchaus auch jetzt schon Orientierungspunkte für Lehrkräfte an weiterführenden Schulen bieten (für Nordrhein-Westfalen siehe z.B. hier). Und natürlich kommt es auch darauf an, dass Unterricht, wenn er denn stattfindet, mit einer ausreichenden Qualität erteilt wird. Daher ist es auch notwendig, dass es ausreichend gut ausgebildete Englischlehrkräfte für die Grundschule gibt. Und an dieser Stelle steht auch empirisch fest, dass der Bedarf noch nicht ausreichend gedeckt wird (z.B. Ziegler et al., 2019; vgl. Bartosch et al., 2020).

Das dritte Beispiel für die so genannte Todsünde Nr. 3, die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen in Deutschland, ist Gegenstand des dritten Teils dieses Beitrags sein. Er findet sich hier.

Literatur:

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AEPF 2023: Willkommen in Potsdam

Bildnachweis: © Universität Potsdam

Vom 13.- 15. September 2023 fand an der Universität Potsdam unter dem Motto „Schule und Lehrkräfte. Bildung neu denken“ die Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF) sowie der Kommission Bildungsplanung, Bildungsorganisation und Bildungsrecht (KBBB) statt. Wir waren mit einigen Beiträgen auf der Tagung vertreten und möchten euch an unseren Eindrücken teilhaben lassen.

Bildnachweis: © Jana Meier

Unsere Beiträge

Während am Mittwoch und Freitag eine spannende Vielzahl an Sessions angeboten wurden, stand der Donnerstag für uns ganz im Zeichen unserer Beiträge. Tatsächlich waren diese hintereinander über den Tag verteilt platziert, weshalb sie in drei Akten beschrieben werden können.

Donnerstag Vormittag – Unter dem Titel „‘Die Prüfungen werden mich sicherlich nicht zu einer besseren Lehrkraft machen.‘ Wie beurteilen Studierende Prüfungen und Feedback im Lehramtsstudium?“ präsentierte Christoph einen Beitrag zu den Fragen, wie Lehramtsstudierende ihre Prüfungserfahrungen bewerten, verschiedene Prüfungsformate wahrnehmen und welche Erfahrungen sie mit Feedback auf ihre Prüfungsergebnisse gemacht haben. Die Ergebnisse zweier unserer Befragungen zeigen, dass Lehramtsstudierende eine negative Feedbackkultur erleben und dass die im Lehramtsstudium stark wahrgenommene Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sich auch in ihren Prüfungserfahrungen widerspiegelt.

Bildnachweis: © Jana Meier

Donnerstag Mittag – Im direkten Anschluss stellte Jana ihren Beitrag vor. Dieser trug den Titel „Welche Rolle spielt eine reflexive Haltung für eine qualitätsvolle Unterrichtsreflexion? – Zusammenhänge zwischen einer quasi-experimentellen Einstellung und der Reflexionsperformanz von Lehramtsstudierenden“. In diesem Zusammenhang wurden Ergebnisse einer quantitativen Studie mit N = 460 Lehramtsstudierenden von zwei deutschen Universitäten vorgestellt, in der der Zusammenhang einer quasi-experimentellen Einstellung zur Reflexion (QEE) gemachter Unterrichtserfahrungen und der Reflexionsperformanz mit den Dimensionen ihrer inhaltlichen Breite, der Reflexionstiefe und ihres Bezugs zu Theorien untersucht wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass die befragten Studierenden eine eher ausgeprägte Einstellung zur akribischen Unterrichtsplanung und zur evidenzbasierten Unterrichtsanalyse haben. Das Vertrauen in die Vorhersehbarkeit von Unterrichtsabläufen und die Offenheit für fundierte Theorie fallen dagegen gering aus. Die Reflexionsperformanz der Studierenden ist begrenzt und sie gehen meistens nicht über eine Bewertung, ohne Theoriebezüge, hinaus. Zudem zeigte sich ein kleiner positiver Zusammenhang zwischen den Einstellungen und der Reflexionsbreite und dem Theoriebezug.

Bildnachweis: © Philipp Wotschel

Donnerstag Nachmittag – Darauffolgend präsentierte Philipp seinen Beitrag, „Als Lehrkraft gut beraten? Entwicklung und Erprobung eines handlungsnahen Prüfungsformates zur Erfassung von Beratungskompetenz von Lehramtsstudierenden“, der im Symposium „Beratungskompetenz in der Lehrkräftebildung – Wie können angehende Lehrkräfte Beratung erlernen?“, eingebettet war. In diesem Rahmen wurden die Pilotierungsergebnisse und unser Prototyp einer standardisierten, handlungsnahen Prüfung mit dem zugehörigen Bewertungsmodell, zur Erfassung und Beurteilung beratungsbezogenen Verhaltens Lehramtsstudierender, ausführlich vorgestellt.

Bildnachweis: © Jana Meier

Inspirationen

Philipps persönliche Höhepunkte auf der AEPF 2023 waren ebenso in diesem Symposium verortet. So gewährte Dr. Frank Behr mit seinem Beitrag, „Professionelle Wahrnehmung schulischer Beratungssituationen. Effekte einer videobasierten Lernumgebung zur Förderung beratungsrelevanter Kompetenzen von angehenden Lehrkräften“, einen Einblick in eine Studie, mit der der Einfluss fremder und eigener Beratungsvideos in einer digitalen Lernumgebung zur Elternberatung auf die Entwicklung der professionellen Wahrnehmung schulischer Beratungssituationen von Lehramtsstudierenden untersucht wurde. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Analyse von fremden und eigenen Beratungsvideos in dieser Lernumgebung die kognitiven Prozesse der professionellen Wahrnehmung von Lehramtsstudierenden aktivieren kann. Im Vergleich zu Kontrollgruppe hat sich in beiden Interventionsgruppen die professionelle Wahrnehmung im Seminarverlauf verändert.

Daneben ging Dr. Scarlett Kobs in Ihrem Beitrag, „Rollenspiele als wirksames Mittel zur Steigerung der Beratungskompetenz bei angehenden Lehrkräften?“, der Frage nach, welchen Effekt Rollenspiele im Vergleich zu schriftlichen Reflexionen auf die Entwicklung der Beratungskompetenz von Lehramts- und Rehabilitationspädagogikstudierenden haben. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Intervention einen positiven Effekt auf die selbsteingeschätzte Kompetenz der Studierenden im Explorieren von Gefühlen und Gedanken hatte und, dass das praktische Erproben beraterischer Fertigkeiten zu einem Kompetenzanstieg im Erleben der Studierenden führte.

An dieser Stelle nochmal vielen herzlichen Dank an Dr. Scarlett Kobs für die Organisation des Symposium und an Dr. Charlott Rubach für die wertwolle Diskussion der Einzelbeiträge.

Neben diesen Beiträgen, die auch sehr dicht an unseren eigenen Arbeiten in der Nachwuchsforschungsgruppe liegen, hat Christoph noch zwei weitere Highlights von der Konferenz mit nach Paderborn genommen. In ihrem Vortrag „Optimierung von Lernprozessen in der Hochschulbildung: Eine Untersuchung der Qualität von KI-gestütztem Feedback“ berichteten Lucas Jasper Jacobsen und Dr. Kira Elena Weber von der Leuphana in Lüneburg von einer experimentellen Studie, in dem sie Feedback generiert von einer KI (hier: ChatGPT) mit dem Feedback generiert durch menschliche Expert*innen (hier: Hochschullehrende) und Noviz*innen (hier: Studierende im BA) verglichen. Hierzu ließen sie diese drei Gruppen feedback provider ein bzw. mehrere schriftliche Feedbacks auf ein (fehlerhaft) formuliertes Lernziel für eine Unterrichtsplanung generieren und analysierten diese nach Kriterien für gutes Feedback. Dabei gaben die Expert*innen erwartbar qualitativ höherwertiges Feedback als Noviz*innen (bzgl. Angemessenheit, Fragen & dem Anbieten von Alternativen). Die Ki gab allerdings sogar teilweise besseres Feedback als Expert*innen (bzgl. der Erklärung des Feedbacks & der Spezifität). Dies hing aber jeweils sehr von den genutzten Prompts ab, so dass es in der Diskussion auch primär darum ging, wie diese formuliert sein müssen und evtl. in einer Art Archiv für die Hochschullehre gesammelt werden könnten.

Einen weiteren interessanten Beitrag hielt Dr. Susi Klaß von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Unter dem Titel „Lernen, Unterrichtsgespräche wirksam zu führen: Quasi-experimentelle Ergebnisse zum Modellieren einer Core Practice im Praxissemester“ berichtete sie von einem Lehrkonzept zur Förderung der Kernpraktik Unterrichtsgespräche zu führen bei Lehramtsstudierenden, das im Learning to Teach-Lab Science (LTL:S) durchgeführt wurde, in dem auch mit Simulationen von Gesprächssituationen gearbeitet wurde. Die Ergebnisse zeigten differentielle Befunden (bspw. ergaben sich Unterschiede in der Wirksamkeit verschiedener Lernelemente je nach Methode), aber verdeutlichten nochmals das Potential simulationsbasierten Lernens in der Lehrkräftebildung. Ebenfalls interessant war die Keynote „Empirische Bildungsforschung, evidenzbasierte Bildungspolitik, wissensbasierte Bildungspraxis – Voraussetzungen einer erfolgreichen Wissenstranslation“ von Prof. Dr. Felicitas Thiel von der Freien Universität Berlin, in der sie einen historischen Überblick über die Entwicklung empirischer Bildungsforschung bzw. evidenzbasierter Bildungspraxis in Deutschland gab. Christoph hatte sich bisher bspw. nicht sehr mit der schon um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts entwickelten experimentellen Pädagogik beschäfigt (z.B. Meyerhardt, 1910).

Wir haben uns gefreut, auf der AEPF 23 zu Gast sein zu dürfen, waren sehr angetan von der Conference-Dinner-Location und nehmen viele Ideen aus den vielfältigen Beiträgen und Diskussionen mit!

Direkt an der Havel – Das Conference Dinner. Bildnachweis: © Philipp Wotschel

Vorträge:

  • Behr, F. (2023, 14.09.). Professionelle Wahrnehmung schulischer Beratungssituationen. Effekte einer videobasierten Lernumgebung zur Förderung beratungsrelevanter Kompetenzen von angehenden Lehrkräften. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Jacobsen, L., & Weber, K. (2023, 14.09.). Optimierung von Lernprozessen in der Hochschulbildung: Eine Untersuchung der Qualität von KI-gestütztem Feedback. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Klaß, S., Hauk. D., Hickethier, F., Dehne, M., Calcagni, E., & Gröscher, A. (2023, 15.09.). Lernen, Unterrichtsgespräche wirksam zu führen: Quasi-experimentelle Ergebnisse zum Modellieren einer Core Practice im Praxissemester. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Kobs, S., Ay-Bryson, D.S., Kühne, F., & Knigge, M. (2023, 14.09.). Rollenspiele als wirksames Mittel zur Steigerung der Beratungskompetenz bei angehenden Lehrkräften? Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Meier, J., Vogelsang, C., Küth, S., Scholl, D., Watson, C., & Seifert, A. (2023, 14.09.). Welche Rolle spielt eine reflexive Haltung für eine qualitätsvolle Unterrichtsreflexion? – Zusammenhänge zwischen einer quasi-experimentellen Einstellung und der Reflexionsperformanz von Lehramtsstudierenden. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Meyerhardt, M.W. (1910). Experimentelle Pädagogik. Monatshefte für deutsche Sprache und Pädagogik, 11(1), 1-11. (Online)
  • Thiel, F. (2023, 14.09.). Empirische Bildungsforschung, evidenzbasierte Bildungspolitik, wissensbasierte Bildungspraxis – Voraussetzungen einer erfolgreichen Wissenstranslation (Keynote). Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Vogelsang, C, Janzen, T., Meier, J., & Wotschel, P. (2023, 14.09.). „Die Prüfungen werden mich sicherlich nicht zu einer besseren Lehrkraft machen.“ Wie beurteilen Studierende Prüfungen und Feedback im Lehramtsstudium? Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.
  • Wotschel, P., Vogelsang C.,  Janzen, T., & Meier, J. (2023, 14.09.). Als Lehrkraft gut beraten? Entwicklung und Erprobung eines handlungsnahen Prüfungsformates zur Erfassung von Beratungskompetenz von Lehramtsstudierenden. Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF 2023), Universität Potsdam.

20. EARLI-Konferenz – „Education as a Hope in Uncertain Times“

Bildnachweis: © European Association for Research on Learning and Instruction

Im Jahr 2019 fand die biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI) zuletzt in Präsenz statt, damals quasi „nebenan“ in Aachen. Nach einer pandemiebedingten Online-Ausgabe 2021 hießen uns und mehr als 2.500 weitere Teilnehmer*innen in diesem Sommer nun die Aristoteles Universität und die Universität von Makedonien in Thessaloniki zur bisher größten EARLI-Konferenz willkommen. Unter dem Motto „Education as a Hope in Uncertain Times“ wurde vom 22.-26. August 2023 in der griechischen Sommerhitze intensiv diskutiert, präsentiert und Networking betrieben. Wir waren als Projektteam auch dabei und möchten einige Einblicke in unsere Erlebnisse schildern.

Mit zwei Vorträgen von Thomas und Christoph und einem Posterbeitrag von Philipp war das PERFORM-LA-Team gut auf der Konferenz vertreten. Am frühen Mittwochmorgen berichtete Christoph über die Akzeptanz simulationsbasierter Prüfungsformate durch Lehramtsstudierende auf Basis von Befragungs- und Interviewdaten, bevor Thomas direkt im Anschluss die Pilotstudie seines Performanztests für das Unterrichtsfach Englisch (zur Erfassung von Feedbackkompetenz) vorstellte. Im Rahmen einer Postersession präsentierte Philipp am darauffolgenden Tag die Ergebnisse seiner Pilotstudie eines Performanztests für das bildungswissenschaftliche Studium (zur Erfassung von Beratungskompetenz).

Eine Frage der Validität

Bei insgesamt 2065 Beiträgen in 21 Panels fiel es oft nicht leicht, sich für einzelne (und damit gegen viele andere) Sessions zu entscheiden – geschweige, die Highlights dieser intensiven Woche herauszufiltern. Ein Thema, dass uns jedoch in ganz unterschiedlichen Beiträgen immer wieder begegnete und das auch für unser Projekt eine wichtige Rolle spielt, war die Frage nach der Validität von Test- und Prüfungsinstrumenten. Insbesondere das Symposium „Examining the Validity of Standardized Approaches to Measuring Teaching Quality“ und die Diskussion der vier Beiträge durch Anna-Katharina Praetorius blieben Lea dabei in Erinnerung. Unterschiedliche Perspektiven auf die Validität der Erfassung von Unterrichtsqualität standen in den Beiträgen im Vordergrund: Der Vergleich zwischen Präsenz- und Online-Unterricht (Jaekel et al., 2023), die Validität von Schüler*inneneinschätzungen als Indikator von Unterrichtsqualität (Gisladottir et al., 2023), die Förderung der Beobachtungskompetenz von Lehrkräften bei der Beurteilung von Unterrichtsqualität in Unterrichtsbesuchen sowie Urteilsfehler und -tendenzen in Beobachtungsstudien zur Unterrichtsqualität. Anna-Katharina Praetorius von der Universität Zürich griff in ihrer Diskussion grundsätzliche Fragen zum Thema des Symposiums auf, zum Beispiel nach der Validität von master scorings (= Expert*innenurteilen), und gab uns damit noch etwas „food for thought“ für die restlichen Konferenztage auf den Weg.

Core Practices

Ein weiteres Highlight-Symposium für Thomas war das zu „The Development of Core Practices from a Cross-National Perspective.“ Die Thematik um Core Practices spielt ja auch in unserem Projekt eine große Rolle, und in diesem Symposium war Pam Grossman, die Mitbegründerin dieses Konzepts (vgl. Grossman, 2021), Co-Chair und hat in ein paar einleitenden Worten das Konzept kurz dargestellt. Sie nannte auch gleich mehrere Gründe, warum wir uns auf Core Practices fokussieren sollten: Fehlende Vision für das was wir als „guten Unterricht“ bezeichnen würden, das „Technologiedefizit“ in der Lehrkräftebildung sowie die fehlenden reliablen Messmöglichkeiten. Der letzte Punkt wurde auch von der Diskutantin Tina Seidel aufgeworfen – hoffentlich können wir mit unserem Projekt hier einen Beitrag leisten, Core Practices handlungsnah und möglichst valide messen und prüfen zu können. Es gab vier spannende Vorträge aus verschiedenen Nationen. Im ersten Vortrag von Hannah Westbroek et al. (2023) von der Vrije Universiteit Amsterdam ging es um eine motivationale Perspektive auf Core Practices und wie Lehramtsstudierende zwei verschiedene Kurse bewerten, in denen sie ihren eigenen Lernbedürfnisse nachgehen konnten. Im Beitrag von Kirsti Klette et al. (2023) der Universität Oslo ging es um die Theorie-Praxis-Verzahnung mit Core Practices. Sie haben untersucht, wie der Fokus auf Core Practices im Lernprozess Studierende dabei unterstützen kann z.B. ihren analytischen Blick zu schärfen. Im dritten Teil stellten Kjersti Waege et al. (2023) von der Norwegian University of Science and Technology eine Studie vor, in der es darum ging, inwieweit der Erwerb von Core Practices durch Team Teaching-Komponenten unterstützt werden kann. Der letzte Beitrag war eine deutsch-deutsche Koproduktion der Universitäten Freiburg und Lüneburg von Hadmut Hipp et al. (2023). Sie stellten unter anderem eine Studie vor in der sie untersucht haben, ob eine Reflektion über oder Ausüben einer Core Practice (am Beispiel des Ansatzes des Reciprocal Reading, Palinscar & Brown, 1984) in halbstandardisierten Rollenspielen gewinnbringender für Studierende sind.

Bildnachweis: © Philipp Wotschel | Das PERFORM-LA Team am ersten Konferenztag (v. l. Philipp, Christoph, Lea, Thomas)

Simulationen in der Lehrkräftebildung in Israel

Philipps Highlights standen ganz im Zeichen von Untersuchungen aus dem HaLev – The Center for Simulation in Education der Bar llan Universität in Israel. Das Zentrum entwickelte das erste simulationsbasierte Lernprogramm für die Lehrkräfteausbildung in Israel und bietet umfassende Kurse und Workshops an. Zudem unterstreicht die Finanzierung durch das Israelische Bildungsministerium, dass die Institutionalisierung eines solchen Zentrums möglich ist und zeigt somit auch für unser eigenes Projekt weitere Perspektiven auf. Vor diesem Hintergrund präsentierte Ronen Kasperski unter dem Titel „The differential effect of simulations on SEL among preservice, beginner, and experienced educators“ eine Studie, zur Untersuchung der Wirkung von klinischen Simulationen auf die Entwicklung sozial-emotionaler Lernkompetenzen bei Lehrkräften. Die Ergebnisse deuten auf einen Kompetenzzuwachs bei allen Gruppen hin, während sich Unterschiede bezüglich der einzelnen Berufsphasen abzeichnen. Lehramtsstudierende profitierten am meisten, gefolgt von Berufseinsteigern und erfahrenen Lehrkräften. Ähnliches konnte auch Shira Iluz mit ihrer Posterpräsenation unter dem Titel, „Simulation based learning for facilitating understanding of others’ emotions in preservice teachers“, zeigen. Sie betonte, dass die Verwendung von simulationsbasiertem Lernen, zur Förderung sozial-emotionaler Fähigkeiten von Lehrkräften, einen vielversprechenden Bestandteil der Lehrkräftebildung darstellt, bisher jedoch nur wenige Forschungsarbeiten existierten, die eine entsprechende Wirksamkeit nachwiesen. In diesem Zusammenhang stellte sie mit ihrer Studie ein validiertes Testinstrument vor, das als Proof-of-Concept-Nachweis belegt, dass schon ein einziger Tag Simulationstraining bei Lehramtsstudierenden helfen kann, ihr emotionales Wissen im Sinne einer Perspektivübernahme zu erweitern.

Und sonst so?

Neben Beiträgen, die Themen adressieren, mit denen wir uns auch in unserer eigenen Forschungsarbeit beschäftigen, bot die EARLI auch viele Vorträge in andere Bereiche der empirischen Bildungsforschung. Christoph ist bspw. der Vortrag von Christian Kraler et al. (2023) von der Universität Innsbruck im Gedächtnis geblieben, der von Sabrina Bacher präsentiert wurde. Darin berichtete sie von einer Befragung von N=133 angehender Lehrkräfte im Masterstudium, in denen diese nach ihren future visions gefragt wurden. Damit sind Einstellungen und Orientierungen bezogen auf eine (wünschenswerte oder befürchtete) Zukunft gemeint, die auch schon einen Einfluss auf das Handeln in der Gegenwart haben können. Die inhaltsanalytische Auswertung von drei langen offenen Antworten ergab, dass 51% der Studierenden eher neutral, 30% positiv und 19% pessimistisch auf die Welt im Jahr 2040 blicken. Dabei ließen sich ihre Antworten auf sechs Hauptkategorien beziehen: Digitalisierung, Gesellschaft, Wirtschaft, Nachhaltigkeit & Klima, formale Bildung und Konflikte & Krisen. Es ergab sich also ein sehr heterogenes Bild der future visions. Welchen Einfluss diese nun genau auf das Studium und auch das schulische Handeln in der Gegenwart haben, ist Gegenstand weiterer Schritte der Kolleg*innen aus Österreich. Ebenfalls interessant war der Beitrag „Don’t we need two control groups in large Randomized Controlled Trials?“ von Sarah Pariser & André Tricot (2023) von der Université Paris 8 bzw. Université Paul Valéry in Montpellier. Darin beschäftigten sie sich mit der Frage, warum viele in kontrollierten Studien beobachtete Effekte von Lehr-Lern-Innovationen für die Schule verschwinden, wenn sie in größerem Maßstab im Bildungssystem implementiert werden. Sie vermuteten, dass dies daran liegen könnte, dass auch die Lehrkräfte in Kontrollgruppen dieser Studien die typischen Voraussetzungen im Bildungssystem abbilden und daher schon im Studiendesign verschiedene Gruppen berücksichtigt werden sollten, um die Wirkung im Hinblick auf eine mögliche Implementation in die Praxis abzuschätzen. Sie schlugen daher vor, in randomisierten Interventionsstudien zwei Kontrollgruppen zu bilden: eine Gruppe aus (wie üblich) freiwillig teilnehmenden Lehrkräften und eine Gruppe aus unfreiwillig teilnehmenden Lehrkräften. An einer Beispieluntersuchung mit 43 Klassen konnten sie beobachten, dass sich zwischen den Klassen der beiden Arten von Kontrollgruppen tatsächlich unterschiedliche Ergebnisse ergaben, die darauf hinweisen, dass sich Verzerrungen in typischen Interventionsstudien für Lehr-Innovationen in der Schule ergeben. Als Physikdidaktiker freute sich Christoph aber auch über den Vortrag von Benedikt Gottschlich et al. (2023) von der Universität Tübingen, der von einer aufwändigen Interventionsstudie zum kontextorientierten Physikunterricht unter Feldbedingungen berichtete, in der sich aber entgegen der Erwartung kein Vorteil für einen Elektrizitätsunterricht mit Kontexten im Vergleich zu einem Unterricht ohne Kontexte zeigte. Gründe hierfür werden von den Kolleg*innen noch analysiert (ob eine zweite Kontrollgruppe sinnvoll wäre, ist auch hier eine interessante Frage 😉 ).

Wer arbeitet…

Als abschließendes Highlight der EARLI 2023 darf natürlich auch der Gesellschaftsabend nicht unerwähnt bleiben: Vor spektakulärer Kulisse luden die Organisator*innen am Freitagabend in den „Ippikos Members Club“ zu tollem Essen und Kulturprogramm in Form von traditionellen Musik- und Tanzbeiträgen und der Professor*innen-Rockband der gastgebenden Universitäten ein (vielleicht auch eine Idee für die UPB…?). Für uns ein großartiger Abschluss dieser sehr intensiven Konferenzwoche!

Bildnachweis: © Lea Grotegut | Conference Dinner im Ippikos Members Club

Wir bedanken uns herzlich für die tolle Organisation und Umsetzung dieser riesigen EARLI 2023 (darunter die Konferenz-App, Verpflegung, detaillierte Lagepläne und natürlich die Helfer*innen vor Ort!) und ganz besonders für die zahlreichen Vorträge, Anregungen und Diskussionen. Bis zum nächsten Mal!

Vorträge:

  • Daltoé, T., Maier, J., Ruth-Herbein, E., Goellner, R., Trautwein, U. & Fauth, B. C. (2023, 23. August). Classroom Observation Ratings of Teaching Quality – An Investigation of a Teacher Training. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Gisladottir, B., Tengberg, M., Roe, A. & Christensen, A. S. (2023, 23. August). Student Perceptions as Indicator of Teaching Quality: A Report from Nordic Classrooms. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Gottschlich, B., Burge, J.-P., Wilhelm, T., Dopatka, L., Spatz, V., Schubatzky, T.; Haagen-Schützenhöfer, C., Invanjek, L., & Hopf, M. (2023, 25. August). Does using real-world contexts in science teaching improve learning? A field study on electricity. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Grossman, P. (Ed.). (2021). Teaching core practices in teacher education. Harvard Education Press.
  • Hipp, H., Holstein, A., Nückles, M., & Kleinknecht, M. (2023, 24. August). How Can the Acquisition of Core Practices be optimally fostered? A Research Agenda and First Results. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Iluz, S., Yablon, Y. B. (2023, 24. August). Simulation based learning for facilitating understanding of others’ emotions in preservice teachers. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Jaekel, A.-K. & Goellner, R. (2023, 23. August). Students’ Perceptions of Teaching Quality in In-person Classrooms and Distance Education. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Kasperski, R., Hemi, M. (2023, 21. August). The differential effect of simulations on SEL among preservice, beginner, and experienced educators. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Klette, K., Staal Jenset, I. & Brataas, G. (2023, 24. August). Using Core Practices to Improve Connections between Theory and Practice in Teacher Education. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Kraler, C., Bacher, S., & Schreiner, C. (2023, 25. August). Future Vision of Teacher Education Students. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Palinscar, A. S., & Brown, A. L. (1984). Reciprocal teaching of comprehension-fostering and comprehension-monitoring activities. Cognition and Instruction1(2), 117-175. (Online)
  • Pariser, S., & Tricot, A. (2023, 25. August). Don’t we need two control groups in large Randomized Controlled Trials?. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Waege, K., Fauskanger, J. & Mosvold, R. (2023, 24. August). Supporting teachers’ learning through co-planning, rehearsing and co-enacting instruction. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • Westbroek, H., Kaal, A. & Donszelmann,S. (2023, 24. August). A motivational perspective on learning core practices: the case of a Dutch teacher education program. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.
  • White, M. (2023, 23. August). Evaluating the Robustness of Observational Studies’ Results to Rater Error with a Linking Data Set. 20. Biennale Konferenz der European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), Thessaloniki, Griechenland.

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 4/12 – Teil 1

Todsünde Nr. 3: Zu viele unausgereifte Reformen im Bildungssystem

In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Dabei betrachten wir, wie Prämissen und Argumentationen im Buch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Grundsätzlich ist daher hilfreich, das entsprechende Buchkapitel gelesen zu haben, was ich an dieser Stelle ausdrücklich empfehlen möchte. Thesen aus dem Buch werden im Konjunktiv als indirekte Rede wiedergegeben, was keine Zustimmung oder Ablehnung implizieren soll. Der vorherige, zweiteilige Beitrag zu dieser Reihe findet sich hier. An dieser Stelle kann ich auch schon einmal ankündigen, dass auch dieser Beitrag wieder aus zwei Teilen besteht.

Zum Abschied

Bevor wir in diesem Beitrag aber die dritte der vom Autor so bezeichneten zehn Todsünden der Schulpolitik betrachten, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Heinz-Peter Meidinger, nachdem er nicht noch einmal zur Wiederwahl als Präsident des Deutschen Lehrerverbandes angetreten ist, einen etwas ruhigeren Ruhestand bzw. eine hoffentlich entspanntere Zeit zu wünschen. Er bleibt dem Verband als Ehrenpräsident erhalten und ich vermute, dass er sich auch in Zukunft immer mal wieder zu verschiedenen Bildungsthemen öffentlich äußern wird, so wie er das ja auch in seinem Buch schon getan hat. Und auch wir werden diese Blogreihe natürlich fortsetzen.

Nichts funktioniert, nichts wird geprüft

Zusammengefasst äußert Heinz-Peter Meidinger im Kapitel zur dritten Todsünde der Schulpolitik in gewohnt zugespitzter Sprache die Kritik, dass durch Bildungspolitker*innen in Schulen bzw. im Schulsystem in zu kurzer zeitlicher Abfolge zu viele Veränderungen vorgenommen werden, „welche Schulen und Lehrkräften eine kontinuierliche Bildungs- und Erziehungsarbeit unmöglich“ (Meidinger, 2021, 51) mache. Dabei gäbe es kaum erfolgreiche Bildungsreformen, die auch wirklich zu einer Verbesserung geführt hätten. Demgegenüber stünde eine Vielzahl von schlechten Veränderungen und Heinz-Peter Meidinger führt aus: „[…] ja eigentlich ist die bildungsdeutsche Bildungspolitik der Nachkriegsgeschichte nichts anderes als eine Aneinanderreihung mehrheitlich gescheiterter Reformen […]“ (Meidinger, 2021, 52).

Als Gemeinsamkeit gescheiterter Reformen benennt Heinz-Peter Meidinger, dass diese „in aller Regel weitgehend ohne vorherige Erprobung, ohne Modellversuche und Evaluationsphasen sowie ohne Beteiligung von kompetenten Schulpraktikern“ (Meidinger, 2021, 52f.) umgesetzt würden. Unabhängig davon, ob das für spezifische Veränderungen zutrifft oder nicht, würde ich selbstverständlich ebenfalls dafür plädieren, dass Interventionen in der Schule bzw. generell in der Bildung natürlich empirisch auf ihre Wirkung analysiert werden sollten, wie es ja auch in anderen gesellschaftlich relevanten Feldern getan wird (z.B. in der Medizin). Eine solche stärkere Orientierung an wissenschaftlicher Evidenz wird auch erwartungsgemäß mehr oder weniger explizit durch viele Bildungswissenschaftler*innen gefordert, wobei im Detail natürlich diskutiert werden muss, welche Art Evidenz gemeint ist und inwiefern vorliegende Evidenz auch konstruktiv in Bildungspraxis einfließen kann bzw. sollte (vgl. Bauer & Koller, 2023; Besa et al., 2023).

Heinz-Peter Meidinger nennt eine Reihe von Beispielen für aus seiner Sicht gescheiterte Bildungsreformen, die ohne ausreichende ergebnisoffene, wissenschaftliche Evaluationen umgesetzt worden seien, z.B. die Umstellung der neunjährigen Schulzeit am Gymnasium auf acht Jahre (siehe hierzu auch den ersten Beitrag unserer Blogreihe), die Einführung der Mengenlehre in der Grundschule in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Hamann, 2018) oder die Rechtschreibreform (ich vermute, es ist die von 1996 gemeint, das geht aus dem Text leider nicht eindeutig hervor). Während diese Veränderungen eher kurz angerissen werden, werden drei Beispiele im Kapitel etwas ausführlicher erläutert bzw. argumentiert, warum diese negativ oder schädlich gewesen seien: der methodisch-didaktische Lehransatz „Lesen durch Schreiben“, der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule sowie die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Zuge der sogenannten Bolognareform. Diese drei werden im Folgenden daher auch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung etwas genauer betrachtet.

„Schreiben nach Gehör“ in der Grundschule

Zum ersten dieser drei Beispiele möchte ich vorweg darauf hinweisen, dass ich selbst kein Sprachdidaktiker oder Elementarpädagoge bin. Es ist natürlich dennoch möglich, einen kurzen Überblick über den empirisch-fachdidaktischen Forschungsstand zu geben, auch wenn ich selbst keine vertieften Kenntnisse über die fachdidaktischen Feinheiten von Lehr-Lern-Konzeptionen in dem Feld habe. Mit dem, was in Medienberichten häufig als „Schreiben nach Gehör“ bezeichnet wird, ist meist das methodisch-didaktische Konzept „Lesen durch Schreiben“ gemeint, das in seiner ursprünglichsten Form von dem Schweizer Lehrer Jürgen Reichen konzipiert wurde (Reichen, 1988). Heinz-Peter Meidinger beschreibt die Methode zusammenfassend so, dass „sich Kinder das Schreiben am besten und am leichtesten selbst beibringen könnten“ oder als Methode „[…] mit der von Schülern zunächst alles so geschrieben wird, wie es klingt […]“) (jew. Meidinger, 2021, 54). Diese Beschreibung gibt das Konzept und die damit verbundenen Ziele natürlich nicht vollständig wieder (wobei man berücksichtigen muss, dass das gesamte Kapitel neun Seiten umfasst, auf denen alle drei Beispiele angesprochen werden).

Beispiel für eine Anlauttabelle,
Bildnachweis: Wolfram Esser, Wikipedia (Link)

Worum handelt es sich also beim Konzept „Lesen durch Schreiben“? Auch, wenn man es hier natürlich auch nicht vollständig wiedergeben kann, lässt es sich grundsätzlich als umfassendes didaktisches Konzept für den sprachlichen Anfangsunterricht in der Grundschule verstehen, in dem verschiedene Kompetenzen erworben werden sollen (z.B. Lesekompetenz, Schreibkompetenz). Kennzeichnend für das Konzept in der ursprünglichen Form ist, dass im sprachlichen Anfangsunterricht Schüler*innen Angebote für eine möglichst selbstgesteuerte und individualisierte Auseinandersetzung mit sprachlichen Lerngegenständen gemacht werden sollten, was aber auch nach Reichen (1988) Phasen gemeinsamen Unterrichts im Klassenverband nicht ausschließt (vgl. Lorenz, 2017). Praktisch soll dies möglichst in Form des Werkstattunterrichts stattfinden, also in einer vorbereiteten Lernumgebung (mit Materialien etc.), die von den Schüler*innen relativ selbstständig genutzt wird. Reichen (1988) konkretisiert diese Prinzipien eines offenen, selbstgesteuerten Lernens für den Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben, wobei er annahm, dass Kinder mit adäquaten Hilfsmitteln grundsätzlich selbst Lesen und Schreiben können. Nach dem Prinzip „Lesen durch Schreiben“ soll zuerst das Schreiben gelernt werden, „damit das Lesen sich dann mit der Zeit individuell als dessen Produkt gewissermaßen von selbst einstellt.“ (Lorenz, 2017, 34). Zentrales Hilfsmittel im Unterricht bildet eine Anlauttabelle, bestehend aus Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen und zugehörigen Bildern. Die Bilder sind so gewählt, dass die Bezeichnungen der Bilder mit dem zugehörigen Buchstaben beginnen und der Anlaut der Bezeichnung der Lautung des Buchstaben entspricht. Mit dieser Tabelle werden die Schüler*innen angeleitet, Wörter zu schreiben, indem Sie sie phonetisch schrittweise in einzelne Laute zerlegen (vgl. Funke, 2014). Ein damit verbundenes Ziel ist es auch, dass die Lernenden mit diesem Hilfsmittel selbst bestimmen können, was sie mit welcher Absicht schreiben möchten, und daher schon früh beginnen, selbst motiviert eigene Schriftprodukte zu erstellen.

Kann „Lesen durch Schreiben“ funktionieren?

Das Konzept wird innerhalb der Sprachdidaktik schon seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts aus theoretischen Gründen kontrovers diskutiert (vgl. Funke, 2014). Das betrifft zum einen die Merkmale der deutschen Sprache selbst. Sie ist keine reine Lautschrift, sondern bedeutungstragende Phoneme werden in der Schriftsprache auch durch abstraktere Lautschemata repräsentiert (Brendel et al., 2011). Dabei kann ein Phonem (also der Laut) auch durch unterschiedliche Grapheme (also dem zugehörigen Schriftausdruck) repräsentiert werden (vgl. Hess et al., 2020). Diese Unterschiede können nicht umfassend in einer Anlauttabelle dargestellt werden. Schüler*innen müssen sie sich daher über die Zeit (bewusst) aneignen, um orthografisch korrekt zu schreiben. Zum anderen bezieht sich ein Teil der Kritik auch auf die Empfehlungen Reichens (1988) zur Umsetzung seines Konzepts selbst. Beispielsweise war für ihn eine korrekte Rechtschreibung im Anfangsunterricht nicht zentral und er empfahl, geschriebene Wörter nur dann zu korrigieren, wenn sie gar nicht lesbar seien oder grobe Lautfehler enthalten; dies auch, um Motivation und Schreibfreude aufrecht zu erhalten (vgl. Lorenz, 2017). Die Schulung der korrekten Rechtschreibung sollte dementsprechend auch erst in der zweiten Klasse beginnen. Demgegenüber wird angenommen, dass die Kinder durch das Fehlen des frühen Einübens korrekter Schreibformen kein korrektes schriftsprachliches, inneres Lexikon aufbauen könnten, und dies auch nicht angeregt würde, da im Anfangsunterricht kaum mit fremden Texten gearbeitet würde (z.B. Dürscheid, 2011). Insbesondere werden Schwierigkeiten für schwächere Schüler*innen mit geringerer phonologischer Bewusstheit auch mit nicht-deutscher Muttersprache vermutet (z.B. Valtin, 1998). Da die Schreib- und Lesekompetenz unabhängig voneinander aufgebaut werden (vgl. Bredel et al., 2011), wird zudem kritisiert, dass zuerst Schreiben gelernt und explizites Lesen lernen bewusst vermieden wird.

Grundsätzlich lässt sich die Arbeit mit Anlauttabellen auch durchaus in Modellen zur Beschreibung des Schriftspracherwerbs von Kindern einordnen. Beispielsweise erfolgt der Aufbau von schriftsprachlichen Fähigkeiten im Modell von Frith (1986) in mehreren Stufen, der mit unterschiedlichen Strategien verbunden ist (vgl. Schründer-Lenzen, 2013). In der ersten Stufe (logografische Strategie) orientierten sich Kinder zunächst an der Oberflächenstruktur der Schriftsprache, indem sie Zeichenfolgen auswendig lernen (z.B. den eigenen Namen). In der zweiten Stufe (alphabetische Strategie) verbinden Kinder die gesprochene Sprache mit der geschriebenen Sprache, indem sie zunächst gesprochene Laute mit unterschiedlichen Buchstaben verbinden. An dieser Stelle können Anlauttabellen verortet werden. Zugleich müssen die Lernenden in dieser Stufe lernen, dass das geschriebene Wort nicht rein der Lautsprache folgt (phonemisches Schreiben), was nach Kritiker*innen im Konzept „Lesen durch Schreiben“ nicht ausreichend gelänge bzw. angestrebt werde. In der dritten Stufe (orthografische Strategie) erkennen Schüler*innen zunehmend schriftsprachliche Strukturen (z.B. Ableitungen von Wortstämmen).

Zusammengefasst wird das Konzept bzw. die Umsetzung in Reinform innerhalb der Sprachdidaktik aus rein theoretischer Sicht schon seit Beginn kritisch diskutiert. Der Entwickler und die Nutzer*innen des Konzepts sehen dies erwartungsgemäß anders und gehen davon aus, dass negative Effekte nicht eintreten, die genannten Schwierigkeiten ausreichend berücksichtigt würden und mögliche Nachteile durch andere Vorteile (z.B. bezogen auf die Schreibmotivation) kompensiert würden (vgl. Reichen, 2006). Entscheidend ist aber auch bei didaktischen Lehr-Lern-Konzepten, wie sie nun tatsächlich wirken bzw. inwiefern die angestrebten Lernziele auch empirisch erreicht werden.

Wie kann man das nun überprüfen?

Heinz-Peter Meidinger beschreibt die Auswirkungen des Konzepts „Lesen durch Schreiben“ als äußerst negativ und kritisiert: „30 Jahre lang wurde die Wirksamkeit nie in einer umfassenden Studie überprüft […].“ (Meidinger, 2021, 55). Erst Prof. Dr. Una Röhr-Sendlmeier habe 30 Jahre nach praktischer Einführung des Konzepts eine solche Studie durchgeführt. Vermutlich bezieht sich Heinz-Peter Meidinger hier auf die Ergebnisse der Promotion von Dr. Tobias Kuhl (2020), einem (nun ehemaligen) Doktoranden von Frau Röhr-Sendlmeier. Das lässt sich allerdings nur aus der Beschreibung der Studie durch Heinz-Peter Meidinger schließen, da leider im Kapitel keine Quellenangabe gemacht wird.

Zunächst ist anzumerken, dass auch schon zuvor empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit des Konzepts durchgeführt und veröffentlicht wurden (Funke, 2014). Um die Ergebnisse solcher Studien besser interpretieren zu können, ist es hilfreich, typische Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die bei empirischen Wirksamkeitsuntersuchungen solch umfassender didaktischer Lehr-Lern-Konzepte auftreten können. Das betrifft zum ersten die Frage, woran man Erfolg oder Misserfolg erkennen kann. „Lesen durch Schreiben“ ist mit verschiedenen Zielen verbunden (z.B. Erwerb von Schreib- und Lesefähigkeit, Erhöhung der Schreibmotivation). Es muss also meist die Veränderung verschiedener Merkmale von Schüler*innengruppen geeignet erfasst werden. Zum zweiten bezieht sich das Konzept „Lesen durch Schreiben“ auf einen relativ langen Zeitraum, der zudem im Konzept selbst nicht genau abgegrenzt wird. Für eine Untersuchung muss daher geklärt werden, welche Gruppen von Schüler*innen wie lange eigentlich betrachtet werden sollen. Geht es bspw. nur um das erste Schuljahr oder muss eigentlich die gesamte Grundschulzeit betrachtet werden? Sollen Schüler*innen an der weiterführenden Schule untersucht werden? Je länger eine Untersuchung dauert, desto schwieriger ist sie natürlich praktisch durchführbar. Das ist insbesondere deshalb bedeutsam, da man zur Beurteilung der Wirksamkeit natürlich genügend Schüler*innen braucht, damit bei der erwartbaren Streuung überhaupt Durchschnittsunterschiede zwischen Gruppen festgestellt werden können. Zum dritten geht es auch häufig um die Frage, im Vergleich zu was eine Lehr-Lern-Konzeption wirksam ist. Beispielsweise werden Schüler*innen mit Hilfe des Konzepts „Lesen durch Schreiben“ wahrscheinlich mehr Schreib- und Lesefähigkeiten lernen, als wenn sie gar keinen Unterricht erhielten. Daher geht es auch meist um die Frage, ob der Ansatz wirksamer ist im Vergleich zu anderen möglichen Konzepten. Als Vergleichskonzept zu „Lesen durch Schreiben“ dient häufig Unterricht, in denen so genannte Fibeln eingesetzt werden (z.B. die Piri-Fibeln des Klettverlags, explizit nur als Beispiel erwähnt – nicht als Werbung oder Empfehlung). Dabei handelt es sich um Lehrtexte bzw. Unterrichtsmaterialien, die im Sinne eines Lehrgangs sachlogisch, kleinschrittig strukturiert sind und bei dem sich im zugehörigen Unterricht – zugespitzt formuliert – alle Kinder zu gleichen Zeiten mit den gleichen Materialien beschäftigen. Zum vierten besteht natürlich die Frage, wie genau, umfangreich und auch von den Konzeptentwickler*innen intendiert eine Konzeption auch wirklich im Unterricht durchgeführt wird. Werden z.B. nur einzelne Elemente übernommen oder wird einem Konzept vollständig gefolgt? Werden evtl. sogar verschiedene Konzepte vermischt, was im schulischen Unterricht eher der Regelfall zu sein scheint, insbesondere auch im Anfangsschreibunterricht (vgl. Bremerich-Vos & Wendt, 2019). Davon ist abhängig, ob bestimmte Wirkungen auch wirklich einer Konzeption zugeschrieben werden können oder nicht. Und zum fünften muss bei derartigen Vergleichen sichergestellt werden, dass andere Einflussfaktoren auf das Lernen (z.B. Vorwissen, Erstsprache der Schüler*innen) kontrolliert werden, um abschätzen zu können, welchen Effekt eine Methode bzw. ein Konzept allein hat (diese Schwierigkeiten spielte auch in unserem vorherigen Beitrag zu dieser Reihe eine große Rolle).

Grau ist alle Empirie…

Was liegen denn nun für empirische Ergebnisse zu „Lesen durch Schreiben“ vor? Funke (2014) betrachtet in einer sorgfältigen Metaanalyse die Ergebnisse von 16 Untersuchungen, die in zwischen 1985 und 2010 durchgeführt wurden, sich auf die Klassenstufen 1 bis 4 beziehen, als Vergleichsmaßstab Fibelunterricht nutzen und in denen Ergebnisdaten zu Lese- und/oder Schreibkompetenzen vorliegen. Für die Rechtschreibleistung am Ende von Klasse 1 ergab sich eine kleine Effektstärke von d=0.28 (SD=0.09) zugunsten des „Lesen durch Schreiben“-Konzepts. Grundsätzlich lässt sich aber beobachten, dass die Effekte in den jeweiligen Studien stark schwanken (mal zeigten sich bei „Lesen durch Schreiben“ Vorteile, mal gerade umgekehrt). „Die in den verschiedenen Stichproben gefundenen Effekte weichen so stark voneinander ab, dass man sie nicht als zufällige Varianten einer gemeinsamen Wirkgröße von ein- und derselben Ausprägung auffassen kann.“ (Funke, 2014, 27f.) Für die Klassen 2 bis 4 ergab sich eine homogenere kleine Effektstärke von d=-0.26 (SD=0.05) für die Rechtschreibleistung, also ein Nachteil für „Lesen durch Schreiben“. Generell wurden nur bei wenigen Studien die Voraussetzungen kontrolliert. Werden nur diese Studien einbezogen, ergibt sich kein signifikanter Effekt (d=-0.09. SD=0.15, p=0.57). Bzgl. der Leseleistung am Ende von Klasse 1 ergab sich eine kleine Effektstärke von d=-0.27 (SD=0.14), bezogen auf die Klassen 2-4 d=-0.05 (SD=0.09). Zusammengefasst ergab sich also insgesamt kein konsistentes Bild: Beim Lesen in den Klassen 2-4 keine Unterschiede, beim Schreiben Nachteile mit kleinem Effekt. Die Ergebnisinterpretation ist aber durch verschiedene Faktoren eingeschränkt. Neben der schon erwähnten fehlenden Kontrolle der Eingangsvoraussetzungen wurden unterschiedliche Erhebungsinstrumente genutzt und die Zuordnung der untersuchten Klassen erfolgte über Auskünfte der Lehrkräfte; es ist also nicht ganz klar, wie genau die Methoden auch tatsächlich umgesetzt wurden. „Denkbar ist auch, dass Lesen durch Schreiben-Lehrkräfte ihrem schulischen Umfeld nach keine Zufallsauswahl darstellen.“ (Funke, 2014, 36).

Es liegen seitdem auch aktuellere Analysen vor. Beispielsweise untersuchte Lorenz (2017) auf Basis von repräsentativeren Daten aus der Videostudie im Fach Deutsch des Projekts PERLE, inwiefern Zusammenhänge zwischen dem Einsatz des Konzepts „Lesen durch Schreiben“ und der Rechtschreibleistung von Schüler*innen in Klasse 1 bestehen. Basis sind freie Texte bzw. Briefe , die von N=508 Schüler*innen verfasst und hinsichtlich bestimmter Fehlerarten (z.B. bei der Groß- und Kleinschreibung) analysiert wurden. Die Schüler*innen wurden in vier Gruppen eingeteilt, die sich danach unterscheiden, wie sehr das Konzept „Lesen durch Schreiben“ nach Selbsteinschätzungen der unterrichtenden Lehrkräfte im Unterricht eine Rolle spielte (Stufen: dominant, wichtig, untergeordnet, keine Rolle). In differenzierten Mehrebenenanalysen ergab sich: „Kinder, in deren Deutschunterricht „Lesen durch Schreiben“ eine größere Rolle spielt, schreiben insgesamt einen höheren Anteil ihrer Wörter orthographisch falsch.“ (Lorenz, 2017) Diese Ergebnisse wurden mit einer verbesserten Analyse auch in Hess et al. (2020) berichtet. Auch die Ergebnisse einer Simulationsstudie mit Hilfe neuronaler Netze bestätigen die Nachteile des Konzepts in der Tendenz, wobei allerdings der zurückhaltende Umgang mit Fehlerkorrekturen nach den Empfehlungen von Reichen in den Vordergrund gestellt wurde und nicht die Arbeit mit der Anlauttabelle (Born et al., 2022).

Worauf bezieht sich Heinz-Peter Meidinger?

In der von Heinz-Peter Meidinger erwähnten Untersuchung von Kuhl (2020) wurden mit einem hohen methodisch-organisatorischem Aufwand drei Lehr-Lern-Konzepte für den Sprachanfangsunterricht betrachtet. Neben dem Fibelunterricht und „Lesen durch Schreiben“ auch „Graf Orthos Rechtschreibwerkstatt“, das kurz zusammengefasst einige Ideen von „Lesen durch Schreiben“ übernimmt, umfangreiche Selbstlernmaterialien bereitstellt (insbesondere mit Abschreibübungen), dies mit vielen individualisierten Lernphasen verbindet und in Klasse 1 ebenfalls bewusst wenige Fehlerkorrekturen einsetzt. Neben der Rechtschreibleistung wurden hier auch weitere mögliche Wirkungen der Konzepte (z.B. die Beschäftigung mit Schreiben oder Schrift in der Freizeit) untersucht. Basis bilden Daten von N=3084 Kindern von zwölf Schulen „im Umkreis von 50 km um Bonn“ (Kuhl, 2020, 84), wobei für die Längsschnittstudie zur Rechtschreibleistung Datensätze von N=284 Schüler*innen herangezogen wurden (es wurde auch eine Querschnittsuntersuchung durchgeführt). Insbesondere liegen zu diesen Schüler*innen auch Ergebnisse zu den Eingangsvoraussetzungen in die Grundschule vor (z.B. zur phonologischen Bewusstheit, Familiensprache). Von dieser Gruppe wurde ab Ende des ersten Schuljahres jedes Halbjahr bis zum Ende von Klasse 3 standardisiert die Rechtschreibleistung mit Hilfe der Hamburger Schreib-Probe 1 -10 (May, 2013) erfasst. Die Datenerhebung begann im Jahr 2013 und erstreckte sich dementsprechend über mehrere Schuljahre. Die Zuordnung der Schüler’*innen zu den untersuchten Konzepten erfolgte schulweise auf Basis von Angaben der Lehrkräfte und den in der Schule vorhandenen Materialien. Hierzu führt Kuhl (2020) aus: „Jede Schule hatte sich bereits vor der Akquise zur Studienteilnahme dafür entschieden, den Unterricht nach einem gemeinsamen Leitmedium zu gestalten. Es konnte davon ausgegangen werden, dass der Unterricht in der Realität graduell anders durchgeführt wurde, als er in der Theorie von den Entwicklern der verschiedenen didaktischen Ansätze erdacht worden war. […] Dennoch wurde der Unterricht durch die Entscheidung der Schule für einen spezifischen didaktischen Ansatz als Leitmedium maßgeblich geprägt. Deshalb erschien die Zuordnung des Unterrichts einzelner Schulen zu einer Didaktik als sinnvoll.“ (Kuhl, 2020, 71f.). Es wurde bewusst auf Unterrichtsbeobachtungen verzichtet.

Unterschiede zwischen den drei Gruppen wurden mittels Kovarianzanalysen mit Messwiederholung analysiert, wobei die Eingangsvoraussetzungen als Kovariate berücksichtigt wurden. Dabei ergaben sich große Unterschiede zwischen den drei Konzeptionen (F(2,277)=39.93, p<.001, η²=.247). Die Ergebnisse von Schüler*innen, die nach der Rechtschreibwerkstatt oder „Lesen durch Schreiben“ unterrichtet wurden, unterschieden sich nicht signifikant voneinander. Die Schüler*innen im Fibelunterricht allerdings erzielten mit jeweils großen Effekten bessere Rechtschreibleistungen im Vergleich zu den anderen beiden Konzepten zu allen fünf Messzeitpunkten. Am schwächsten Schnitt insgesamt die Rechtschreibwerkstatt ab. Die Unterschiede zwischen Fibelunterricht und „Lesen durch Schreiben“ verringerten sich im zeitlichen Verlauf etwas. Diese Unterschiede wurden auch in der Querschnittsuntersuchung bestätigt. Bezüglich der anderen untersuchten Variablen zeigten sich im Querschnitt dazu bspw. keine Unterschiede in der Lesemotivation oder der Schreibfreude zwischen den Gruppen. Insgesamt zeigt die Untersuchung also einen Vorteil von Fibelunterricht, für dessen Einsatz sich Kuhl (2020) in der Dissertation auch stark ausspricht, teilweise mit aus meiner Sicht überzogenen negativen Wertungen zu didaktischen Konzepten im Allgemeinen und den Fähigkeiten von Lehrkräften. Insbesondere halte ich es für durchaus sinnvoll, wenn Evaluationen im schulischen Setting auch von Pädagog*innen geplant und durchgeführt werden (vgl. Kuhl, 2020, 143), da auch beim Einsatz von Psycholog*innen und Sozialwissenschaftler*innen ein Priming basierend auf persönlichen Erfahrungen stattfinden kann. Die Forderung nach einer stärkeren Evidenzbasierung von schulischem Handeln und der forschungsbasierten Ausbildung von Lehrkräften teile ich aber ausdrücklich.

Es handelt sich insgesamt um eine aufwändige und sorgfältig durchgeführte Studie mit hoher methodischer Qualität in der Durchführung. Dennoch hat auch diese natürlich einige Limitationen, die die Aussagekraft ihrer Ergebnisse einschränken. Diese liegen insbesondere in der Gelegenheitsstichprobe (was nachvollziehbarerweise mit erhebungsökonomischen Gründen zusammenhängt), der Zuteilung der Schüler*innen zu den einzelnen Konzepten und darin, dass keine genauen Informationen zur Umsetzungstreue der Konzepte vorliegen. Kuhl (2020) argumentiert hierzu: „Es ist anzunehmen, dass sich nicht jeder Lehrer streng an die Vorgaben des Leitmediums gehalten hat und Material, das er als didaktisch sinnvoll erachtet hat, in seine Unterrichtsplanung und -durchführung einfließen ließ. Das Unterrichtsgeschehen unterschied sich demnach graduell zwischen den Klassen – auch innerhalb einer Schule. Dennoch haben sich die Lehrer oder der Rektor für ein Leitmedium entschieden, welches in sämtlichen Klassen einer Schule eingesetzt wurde und den ‚Kurs‘ des Unterrichts maßgeblich bestimmt hat.“ (Kuhl, 2020, 146). Diese Annahme ist nachvollziehbar, aber wird hier natürlich nicht empirisch genauer unterlegt. Es bleibt daher leider unklar, wie Rechtschreibunterricht nach der Anfangsphase in den untersuchten Grundschulen stattgefunden hat. Auch sind die Schüler*innen nicht gleichmäßig über die einzelnen Konzepte verteilt (bspw. im Längsschnitt folgendermaßen: Fibel: N=84 ; Lesen durch Schreiben: N=79, Rechtschreibwerkstatt: N=121), wobei die Unterschiede im Querschnitt noch größer sind. Daneben diskutiert bspw. Brügelmann (2020) auch weitere Aspekte der Studie kritisch, wie z.B. die nicht klare konzeptionelle Unterscheidung der verwendeten Ansätze, eine fehlende Auswertung auf Klassenebene, um den Faktor der Lehrkräfte zu kontrollieren, und, dass die Ergebnisse nicht auf die bundesdeutsche Normierung der Hamburger Schreibprobe bezogen würden: „Nach diesem bundesweit repräsentativen Maßstab entsprechen ‚Lesen durch Schreiben‘-Kinder in Kuhls Studie schon zum Ende des Anfangsunterrichts und über die Grundschulzeit hinweg der bundesdeutschen Norm. Sogar der Anteil besonders leistungsschwacher Schüler*innen ist niedriger als in der Bonner Gesamtstichprobe – besonders auffällig in Klasse 1 und 2. Die ‚Ausreißer‘ bilden die (zusammengefassten) Fibel-Klassen (nach oben) und die Rechtschreibwerkstatt-Klassen (nach unten).“ (Brügelmann, 2020, 3).

Und was heißt das jetzt?

Die vorliegenden Ergebnisse sprechen eher dafür, dass der Ansatz „Lesen durch Schreiben“ keine Vorteile, sondern tendenziell Nachteile gegenüber anderen Schreiblernansätzen im Anfangsunterricht hat. In diesem Sinne würde auch ich eher empfehlen, andere Ansätze im Schreibanfangsunterricht zu wählen, wobei – wie schon erwähnt – ich hierzu kein ausgewiesener Experte bin. Hier stimme ich Heinz-Peter Meidinger explizit zu. Allerdings zeigen die vorliegenden Ergebnisse auch nicht, dass Probleme mit der Rechtschreibleistung am Ende der Grundschule allein auf den Einsatz des Konzepts „Lesen durch Schreiben“ zurückgehen, was er – auch außerhalb seines Buches – anscheinend so interpretiert (z.B. hier). Ob ein Verbot von Methoden, wie im Kapitel zustimmend beschrieben, sinnvoll ist, sei einmal dahingestellt (Was soll denn auch genau verboten werden? Die Nutzung von Anlauttabellen, oder dass Rechtschreibfehler nicht korrigiert werden?). Aus Sicht der empirischen Bildungsforschung sei aber zumindest darauf hingewiesen, dass auch die Wirkungen anderer Lehr-Lern-Konzepte selten empirisch geprüft werden und so gut wie fast alle Konzepte „ohne jegliche empirische Evidenz und Erprobung eingeführt und nie evaluiert […]“ (Meidinger, 2021, 56f.) werden. Insofern könnte man die oben beschriebenen Untersuchungen auch als eine erfolgreiche Evaluation von Fibelunterricht interpretieren. Einführung von Konzepten bedeutet an dieser Stelle, dass entsprechende Materialien zur Nutzung im Unterricht zugelassen werden. Aufgrund der Autonomie von Lehrkräften ist der Einsatz spezifischer Lehr-Lern-Konzepte im Detail derzeit nicht vorschreibbar. Und welche Materialien auch außerhalb geschlossener Lehrwerke oder Konzepte von Lehrkräften tatsächlich eingesetzt werden, ist noch einmal eine ganz andere Frage.

Um diesen schon recht umfangreichen Blogbeitrag nicht zu sehr in die Länge zu ziehen, werden wir die anderen beiden von Heinz-Peter Meidinger genannten Beispiele für seine Todsünde Nr. 3 im zweiten Teil dieses Beitrags betrachten. Er wird an dieser Stelle verlinkt, sobald er online ist.

Literatur:

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