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10. GEBF-Tagung 2023 – „Bildung zwischen Unsicherheit und Evidenz“

Ein Einblick in unsere diesjährigen Highlights

Bildnachweis: © Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung | https://digigebf.files.wordpress.com/2022/12/cropped-cropped-logo_gebf_2023-01.png?w=937&h=400

Drei Jahre hat es gedauert, bis die GEBF-Tagung wieder in Präsenz stattfinden konnte. Passend zum 10. Jubiläum lud die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung vom 28. Februar bis 02. März 2023 unter dem Motto „Bildung zwischen Unsicherheit und Evidenz“ zum wissenschaftlichen Austausch ein. Wir waren als Projektteam auch dabei und möchten (wie im letzten Jahr) einige Einblicke in unsere Erlebnisse schildern:

Wie schon im vergangenen Jahr auf der Nachwuchstagung erhielt Philipp in diesem Jahr auf der Haupttagung die Möglichkeit, einen Vortrag über die Pilotierung seines Performanztests für das bildungswissenschaftliche Lehramtsstudium (zur Erfassung von Beratungskompetenz) zu halten und zu diskutieren. Das Thema Performanztests und Simulationen befand sich auf der GEBF in „guter Gesellschaft“, weshalb Philipp vor allem das Symposium „Simulationsbasiertes Lernen an der Hochschule – neue Erkenntnisse aus experimentellen und metaanalytischen Studien“ begeisterte. Die vier Vorträge fokussierten die Rolle von Simulationen in der Hochschulbildung im Medizin- und Lehrkräftebereich und konnten veranschaulichen, wie gut Simulationen auch in der Lehrkräftebildung eingesetzt werden können. Zunächst präsentierte Constanze Richters eine Studie, in der die Frage untersucht wurde, ob bzw. inwiefern strukturierte Reflexion und Kollaborationsskripts den Erwerb kollaborativer Diagnosefähigkeiten in einer medizinischen Simulation unter Berücksichtigung des Vorwissens der Lernenden verbessern können. Danach folgte unter dem Titel „Lernen mit Simulationen: Eine Metaanalyse zur Adaptivität von instruktionaler Unterstützung“ ein Vortrag von Olga Chernikova, die sich in ihrer Metastudie der Umsetzung und den Voraussetzungen von Adaptivitätsstrategien von Simulationen widmet. Den Dritten Vortrag hielt Stephanie Kron. Sie berichtet von ihrer Untersuchung zur Spezifität bzw. Sensitivität von Diagnosen Mathematiklehramtsstudierender in einer simulationsbasierten Lernumgebung. Im letzten Vortrag zur „Förderung von Reanimationsskills durch simulationsbasiertes Lernen: Welche Vorteile bringt der Einsatz von first-person-view-Videos im Debriefing?“ präsentierte Martin Gartmeier die Ergebnisse seiner Forschung zu der Frage, inwieweit Videos aus der first-person-Perspektive zu Veränderungen im Debriefing und zu verbessertem Lernerfolg beitragen können.

Jana und Christoph haben auf der diesjährigen GEBF-Tagung bei dem Symposium „‚Bedrohung‘ der Testwertinterpretation durch Testmotivation? – Fragen der Validität in der Kompetenzforschung“ mitgewirkt, welches von Daniel Scholl und Christina Watson organisiert wurde. Insbesondere die Diskussion und der Austausch mit den Teilnehmenden des Symposiums waren eines der Highlights von Jana. Darüber hinaus war auch das Symposium „Simulationsbasiertes Lernen und Messen in der Mediziner:innen und Lehrer:innenausbildung“ mit Ann-Kathrin Schindler bzw. Tina Seidel als stellvertretende Chair spannend. Die zwei Beiträge, die sich auf die Lehramtsausbildung bezogen, wurden von Michael Nickl aus der COSIMA-Gruppe und von Florentine Hickethier von der Universität Jena vorgestellt. Nickl et al. konnten in ihren Analysen (zur Erfassung der Diagnosekompetenzen angehender Lehrkräfte mit Hilfe einer videobasierten Simulation) Profile von kognitiven und motivationalen Charakteristika der Diagnostizierenden identifizieren, die sich auf die Qualität des Diagnoseprozesses und die Urteilsakkuratheit auswirken. Hickethier et al. haben die Nützlichkeitsüberzeugungen und die Technologieakzeptanz von Lehramtsstudierenden aus verschiedenen Ländern hinsichtlich einer Virtual Reality Umgebung für Schüler*innen erfasst und konnten Veränderungen durch das eigene Erleben der VR-Umgebung aufzeigen (v.a. eine höhere Intention, VR auch in der eigenen Berufspraxis anzuwenden). VR war generell ein großes Thema auf der diesjährigen GEBF-Tagung – ähnlich wie das Thema ChatGPT. So beschäftigte sich bspw. das Symposium „Unterrichtserleben in Virtual Reality als Chance für die Lehrkräftebildung“ mit virtuellen Unterrichtssimulationen in VR-Umgebungen. Interessant war hier, dass im Vergleich zur Arbeit mit traditionellen Unterrichtsvideos keine empirisch signifikanten Effekte für den VR-Einsatz gefunden werden konnten (mit Bezug auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung und Reflexionsfähigkeiten angehender Lehrkräfte).

Neben den vielen Einzelbeiträgen und Symposien waren die Keynotes der diesjährigen GEBF-Tagung weitere Highlights für Jana. Im Vortrag von Prof. Dr. Gerd Gigerenzer ging es bspw. um die Risikokompetenz und um Bildung im digitalen Zeitalter – mit der klaren Message, dass auch wir Menschen smarter werden müssen, wenn um uns herum alles smarter wird ;-). In der Keynote von Prof. Dr. Monika Waldis ging es um die hohe Bedeutung gesellschaftswissenschaftlichen Wissens insbesondere in Zeiten der Krise und in Zeiten, in denen die Demokratie weltweit unter Druck steht. Prof. Dr. Waldis sieht eine besondere Chance zur Förderung der Demokratiekompetenz (mit der Leitidee der Urteilsfindung und Fähigkeiten des Perspektivwechsels und der Empathie) in Argumentations- und Debattiertrainings als didaktische Interventionen für Schüler*innen.

Christoph lieferte in diesem Jahr zusammen mit Pascal Pollmeier und Tim Rogge einen Beitrag zum Symposium „Eigenvideografie als Professionalisierungstool für Lehramtsstudierende im Praxissemester“, das von Verena Zucker organisiert wurde. Zusammen mit Nicola Meschede berichtete sie von einer Untersuchung zur Frage, welche persönlichen Merkmale Lehramtsstudierender (z.B. Misserfolgserwartung) und Bedingungsfaktoren (z.B. zeitliche Belastung) die Bereitschaft Eigenvideografien im Praxissemester durchzuführen beeinflussen. Dies war insofern interessant, dass es auch die Frage berührt, die wir (also, Pascal, Tim und Christoph) auch in unserer Interviewstudie untersucht haben. Auch die beiden weiteren Vorträge von Robin Junker (in Vertretung für Christina Gippert) und Verena Oestermann berichteten interessante Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Eigenvideografiearbeit zur Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Lehramtsstudierenden. Es war also insgesamt ein rundum gelungenes Symposium. An dieser Stelle daher noch einmal ein herzlicher Dank an Verena als Organisatorin! Ein weiteres Vortragshighlight aus Christophs Sicht war der Vortrag von Șeyma Gülen, die unter dem Titel „Lehramtsstudium – Vorbereitungsdienst – Lehrkräfteberuf, oder? Empirische Ana-
lysen aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) zum post-universitären beruflichen
Verbleib von Lehramtsabsolvent*innen“ auf Basis der umfangreichen NEPS-Daten (N = 2.941 Absolvent*innen gingen in die Untersuchungen ein) Analysen dazu vornahm, wie viele Lehramtsstudierende nach einem Studienabschluss auch wirklich als Lehrkräfte arbeiten (Spoiler: In ihren Analysen sind es 79% ;)). Diese Ergebnisse kommen zur richtigen Zeit und liefern empirisch fundierte, belastbare Daten für die Diskussion um den aktuellen Lehrkräftemangel. Zwei weitere schöne Vorträge betrafen ebenfalls etwas stärker die Themen unserer Nachwuchsforschungsgruppe. Zum einen stellte Sigrid Harendza eine spannende Untersuchung dazu vor, nach welchen Kriterien aus der arbeitsplatzbasierten Beobachtung Ausbilder*innen in praktischen Ausbildungsphasen (z.B. im praktischen Jahr in der Medizinerausbildung) angehenden Ärzt*innen bestimmte Tätigkeiten anvertrauen bzw. bis zu welchem Grad (dies kann bspw. eine Tätigkeit wie das Blut Abnehmen sein). Die empirischen Daten wurden dabei in einer Simulationsumgebung gewonnen, in der umfangreich der erste Arbeitstag in einer Klinik simuliert wurde. Zum anderen berichtete Christoph Kruse unter dem Titel „Wie beurteilen Fach- und Schulleitungen angehende Lehrer:innen im Referendariat?
Erkenntnisse aus einer qualitativ-rekonstruktiven Dokumentenanalyse von schriftlichen Gutachten“ von Analysen von realen Schulleitungsgutachten, die im Rahmen der zweiten Staatsprüfung in NRW angefertigt wurden. Im Zentrum stehen dabei z.B. Fragen danach, welche Kriterien Schulleitungen an die Bewertung anlegen bzw. welche impliziten Orientierungen in den Gutachten deutlich werden. Diese Prüfungsdokumente sind wenig erforscht, sie machen allerdings einen hohen Anteil der Abschlussnote des zweiten Staatsexamens aus. Insofern freut sich Christoph schon auf die weiteren Ergebnisse.

Bildnachweis: © Jana Meier| ein Teil des PERFORM-LA Teams auf dem Gesellschaftsabend
(v. l. Christoph, Jana, Philipp)

Ein weiteres Highlight war natürlich der Gesellschaftsabend, der in der Grand Hall Zollverein® veranstaltet wurde. Wie die GEBF selbst zusammenfasst ist dieser beeindruckende Ort „[…] eine moderne Eventlocation, die auf dem Gelände der ehemaligen Kokerei Zollverein des UNESCO-Welterbes Zollverein liegt. Sie wurde am 12. September 1961 als Sauger- und Kompressorenhalle in Betrieb genommen. Nach über drei Jahrzehnten wurde sie am 30. Juni 1993 stillgelegt. Die Anlage ZOLLVEREIN® Schacht XII war die größte und modernste Steinkohleförderanlage der Welt. Seit 1998 widmet sich die Stiftung Zollverein der Erhaltung und Wiedernutzbarmachung dieses Industriedenkmals.“  

Wir waren auf jeden Fall nachhaltig beeindruckt und hatten viel Vergnügen 😉

Bildnachweis: © Philipp Wotschel |Der direkte Außenbereich
Bildnachweis: © Philipp Wotschel |Ein Einblick in die Halle

Wir freuen uns, auch in diesem Jahr dabei gewesen sein zu können, bedanken uns herzlich für die zahlreichen Vorträge, Anregungen und Diskussionen und sagen bis bald!

Vorträge:

  • Gartmeier, M., Soellner, N., Eiberle, M., Haseneder, R., Hinzmann, D., Schulz, C., Rath, S., & Berberat, P. (2023, 01. März). Förderung von Reanimationsskills durch simulationsbasiertes Lernen: Welche Vorteile bringt der Einsatz von first-person-view-Videos im Debriefing? 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Gigerinzer, G. (2023, 28. Februar). Risikokompetenz: Bildung im digitalen Zeitalter. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Gippert, C., Junker, R., Seeger, D., & Holodynski, M. (2023, 01. März). Welche Rolle spielt die Eigenvideografie bei der Förderung der professionellen Unterrichtswahrnehmung von Klassenführung im Rahmen des Praxissemesters? 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Harendza, S., Kadmon, M., Berberat, P., Fincke, F., Gärtner, J., Schick, K. (2023, 28. Februar). Anvertrauen von Verantwortung auf Basis von Arbeitsplatz-basierten Beobachtungen. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen
  • Heitzmann N., Chernikova O., Stadler, M., Holzberger,D., Seidel, T., & Fischer, F. (2023, 01. März). Lernen mit Simulationen: Eine Metaanalyse zur Adaptivität von instruktionaler Unterstützung. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Hickethier, F., Dehne, M. & Gröschner, A. (2023, 28. Februar). Wie nehmen Lehramtsstudierende eine neuartige VR-Umgebung für Schüler:innen wahr? Eine Mixed-Methods-Studie zur Veränderung von Nützlichkeitsüberzeugungen. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Kron, S., Sommerhoff,D., & Ufer, S. (2023, 01. März). Entwicklung diagnostischer Kompetenz zur Dezimalbruchrechnung: Akkuratheit, Sensitivität und Spezifität von Diagnosen in einer simulationsbasierten Lernumgebung. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Kruse, C. (2023, 02. März). Wie beurteilen Fach- und Schulleitungen angehende Lehrer:innen im Referendariat? Erkenntnisse aus einer qualitativ-rekonstruktiven Dokumentenanalyse von schriftlichen Gutachten. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF). Essen.
  • Erfassung von Diagnosekompetenzen in Simulationen: Einfluss der Charakteristika des Diagnostizierenden
  • Nickl, M., Sommerhoff, D., Codreanu, E., Ufer, S. & Seidel, T. (2023, 28. Februar). Erfassung von Diagnosekompetenzen in Simulationen: Einfluss der Charakteristika des Diagnostizierenden. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF). Essen.
  • Oestermann, V., Weyland, U., & Koschel, W. (2023, 01. März). Zur Förderung professioneller Unterrichtswahrnehmung im Praxissemester anhand von Eigen- und Fremdvideos. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF). Essen.
  • Pollmeier, P., Vogelsang, C., & Rogge, T. (2023, 01. März). Zwischen Angst und Vorfreude – Emotionales Erleben Lehramtsstudierender bei der Arbeit mit Eigenvideografien. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF). Essen.
  • Richters, C., Stadler M., Radkowitsch, A., Schmidmaier, R., Fischer, M.R., & Fischer, F. (2023, 01. März). Förderung kollaborativer Diagnosefähigkeiten für Lernende mit unterschiedlichem Vorwissen: Effekte von strukturierter Reflexion und Kollaborationsskripts in einer agentenbasierten medizinischen Simulation. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Waldis, M. (2023, 01. März). Gesellschaftswissenschaftliches Lernen in Zeiten der Krise – Wissensordnungen und Kompetenzen revisited. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Wotschel, P. (2023, 01. März). Beratungskompetent durchs Lehramtsstudium? Entwicklung und Erprobung eines handlungsnahen Prüfungsformates. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF), Essen.
  • Zucker, V., Meschede, N. (2023, 01. März). Was motiviert oder hemmt Studierende, sich im Praxissemester videografieren zu lassen? Eine Untersuchung zur Bedeutung persönlicher Voraussetzungen für die Nutzung von Eigenvideografie. 10. Jahrestagung der Gesellschaft für Bildungsforschung (GEBF). Essen.

Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 2/12

Todsünde Nr. 1: Überforderung von Schule und Lehrkräften

In einer kleinen Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Es geht uns dabei nicht um eine Rezension des Buches, sondern darum, zu schauen, wie Prämissen und Argumentationen vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Nachdem wir im ersten Beitrag Autor und Werk kurz vorgestellt und uns genauer mit der Einleitung beschäftigt haben, wenden wir uns in diesem Beitrag der ersten von zehn Todsünden der Schulpolitik zu; also, Todsünden aus Sicht des Autoren. Um den weiteren Ausführungen folgen zu können, sollte man natürlich das Buch kennen und gelesen haben. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich eine Leseempfehlung aussprechen, auch, wenn man die Ansichten des Autors nicht immer teilt. Zu Beginn noch einmal der Hinweis: Im Folgenden formuliere ich viel im Konjunktiv. Das soll keine Zustimmung oder Ablehnung zu Thesen signalisieren, sondern folgt einfach den Regelungen zur indirekten Rede.

Ziele von Schule – Zu viele oder gerade richtig.?

Im Kapitel zur Todsünde Nr. 1 wird – grob zusammengefasst – dahingehend argumentiert, dass die Schule bzw. die tätigen Lehrkräfte zu viele Aufgaben bzw. Ziele verfolgen würden bzw. sollen. Dies wiederum führe zum einen dazu, dass nicht alle Ziele gleichermaßen erreicht werden können und zum anderen dazu, dass Lehrkräfte stark belastet werden, mit Folgen für die Gesundheit. Als Kernaufgaben der Schule werden „Unterricht, Wissens-, Kompetenz- und Wertevermittlung“ (Meidinger, 2021, 26) genannt, denen exemplarisch zehn weitere Zielerwartungen neben- bzw. gegenübergestellt werden. Darunter eher gesamtgesellschaftliche Zielerwartungen (z.B. Inklusion, Integration), aber auch konkretisierte Ziele eher auf Individualebene (z.B. Medienerziehung, Berufs- und Studienorientierung). Die Gegenüberstellung zu den definierten Kernaufgaben wird dabei leider nicht näher erläutert. Bspw. hat Schule natürlich auch eine Erziehungsfunktion und das Ziel „die Demokratie stärken“ (Meidinger, 2021, 26) kann auch als Teil der Wertevermittlung verstanden werden. Viele dieser genannten Ziele sind in allen Kernlehrplänen der Bundesländer verankert (einige auch schon sehr lange), häufig in den allgemeineren Teilen. Insgesamt wird bzgl. schulischer Ziele aber eine Überfrachtung konstatiert, die im weltweiten Vergleich in Deutschland einzigartig hoch sei. Sie werde insbesondere von zwei Akteur*innen an die Schule herangetragen: Bildungspolitiker*innen und Vertreter*innen der wissenschaftlichen Pädagogik. Gerade Letzteren wird polemisch – es ist ja auch eine Streitschrift – ein „Allmachtswahn“ (Meidinger, 2021, 28) als Motiv zugeordnet, der sich darin ausdrücke, neue Lehrkonzepte zu formulieren, die in der Realität nicht umsetzbar seien. Die empirisch ausgerichtete Erziehungswissenschaft hingegen könne die Umsetzbarkeit und Wirkung von Konzepten prüfen. Diese letzte Aussage ist eine Einschätzung, die ich natürlich teile (schon weil ich selbst in diesem Berufsfeld tätig bin ;)).

Grenzen der Individualisierung?

Als Beispiel für eine solche (positive) empirische Betrachtung von Bedingungen des Lernens, wird aus einer Studie – nach Autorenaussage zur Veränderbarkeit von Lernmotivation aufgrund genetischer Prägung – zitiert, in der geschlussfolgert werden würde, dass Schüler*innen aufgrund individueller Begabungen nicht zu gleichen Leistungen befähigt werden können.

„Schüler sind mit individuellen Begabungen ausgestattet, und es wird nicht möglich sein, sie durch Fördermaßnahmen auf breiter Basis zu gleichen Leistungen zu befähigen.“

(Spinath, Spinath & Borkenau, 2008, 114)

Leider ist im Text keine Quellenangabe zum Zitat enthalten. Die Möglichkeiten der Onlinesuche führen zu Spinath et al. (2008), einem Kapitel im als Lehrbuch angelegten Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Um diese Aussage etwas genauer einordnen zu können, lohnt ein Blick in das gesamte Kapitel, aus dem das Zitat stammt. Dort werden Forschungen von sozialen und genetischen Determinanten zur Lernfähigkeit von Schüler*innen zusammengefasst. In solchen verhaltensgenetischen Studien wird analysiert, zu welchen Anteilen Unterschiede in der oben beschriebenen Lernfähigkeit von Menschen durch genetische (also feste Anlagen einer Person) oder soziale (also Erfahrungen und Einflüsse des Umfelds) Einflussfaktoren erklärt werden können. Methodisch werden Zwillings- oder Adoptionsstudien durchgeführt, bei der unter verschiedenen Annahmen genetische und soziale Einflüsse kontrolliert werden können. Dabei fassen Spinath et al. (2008) den Einfluss genetischer Determinanten aus Studien auf die allgemeine kognitive Fähigkeit mit ca. 50% zusammen. Die soziale Umwelt hat also einen vergleichbaren Einfluss. Die Bedeutung genetischer Determinanten nimmt über die Lebensspanne allerdings zu. Wichtig ist: mit solchen Anteilen von Varianzkomponenten können Aussagen über Unterschiede zwischen Personen gemacht werden, nicht über Fähigkeiten einer einzelnen Person. Zugleich sind diese Anteile nicht konstant. Spinath et al. (2008) nennen die Körpergröße als Beispiel, die stark genetisch bestimmt ist: „Obwohl die Körpergröße innerhalb einer Kohorte hochgradig genetisch determiniert ist, wurden die Menschen unter sich verbessernden Umweltbedingungen immer größer.“ (Spinath et al.,2008, 113), wobei irgendwann aufgrund der beschränkten Verbesserbarkeit der Umweltbedingungen eine bisher unbekannte Grenze vermutet werden kann. „Analog dazu gilt für die Lernfähigkeit, dass derzeit keine Aussagen darüber möglich sind, wo die Grenzen der Verbesserung durch geeignete Interventionen liegen.“ (Spinath et al.,2008, 113)

Im Kontext des Textes wird dieser Bezug zur Wissenschaft hergestellt, um „die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen“ (Meidinger, 2021, 29), wobei nicht ganz deutlich wird, ob dies eher bezogen auf erzieherische oder lernunterstützende Tätigkeiten gemeint ist. Das obige Zitat wird weitergeführt mit: „Stattdessen gilt es, die vorhandenen Stärken durch individuell angemessene Maßnahmen so zu fördern, dass es allen Schüler möglich wird, ihre Potenziale bestmöglich auszuschöpfen. Ziel von schulischen […] Lernprozessen sollte demnach nicht die Egalisierung des Leistungsniveaus sein, sondern das Hervorbringen von durchaus unterschiedlichen Leistungen auf möglichst hohem Niveau“ (Spinath et al., 2008, 114). Diese individuell angemessenen Verfahren können sich natürlich auf unterschiedliche Kontexte beziehen (z.B. Maßnahmen im Unterricht, Maßnahmen auf Ebene des Schulsystems). Aus Verhaltensgenetischen Studien ergibt sich also nicht direkt eine bevorzugte Handlungsweise, sondern dort sind viele normative Entscheidungen zu treffen.

Welcher Schluss aus diesem Forschungsbeitrag für die Argumentation im Rahmen der Streitschrift gezogen werden soll, bleibt ein wenig unklar. Interpretieren lässt es sich als ein Argument gegen die Forderung eines gemeinsamen Unterrichts von Schüler*innen sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen, als Gegenposition zum vorher benannten „Allmachtswahn“ von Pädagog*innen. Dies ist allerdings eine Interpretation meinerseits und wird im Text nicht explizit formuliert. Die Quelle bezieht sich jedenfalls weniger auf (eher affektive) Lernmotivation, sondern auf (kognitive) Lernfähigkeit.

Arbeitszeit von Lehrkräften

Als weiteres und das für die im Kapitel thematisierte Todsünde eigentlich bestimmende Beispiel empirischer Bildungsforschung wird im Beitrag auf die Arbeitsbelastung bzw. genauer die Arbeitszeit von Lehrkräften im deutschen Bildungssystem Bezug genommen. Wir fokussieren für diesen Blogbeitrag auch auf die Arbeitszeit, weil im Text zugleich angemerkt wird, dass gerade die Arbeitszeit von Lehrkräften von Seiten der Landesregierungen in Deutschland bisher nicht angemessen untersucht werde, weshalb dies von Lehrerverbänden angestoßen werden müsse. Ein aktuelles Beispiel sei die vom deutschen Philologenverband initiierte LaiW-Studie (Lehrerarbeit im Wandel), die wir später noch genauer betrachten werden.

Die Arbeitszeit von Lehrkräften und auch ihr Belastungserleben wurden schon häufiger empirisch untersucht. Schaarschmidt et al. (2007) berichten bspw. basierend auf Wochenstundenangaben von N = 4181 Lehrkräften verschiedener Schulformen aus Nordrhein-Westfalen eine durchschnittliche Gesamtarbeitszeit von 62,2 Stunden für Vollzeitlehrkräfte und 49,5 Stunden für Teilzeitlehrkräfte. Hardwig & Mußmann (2018) fassen umfangreich Zeiterfassungsstudien zusammen, die zwischen 1958 und 2016 in Deutschland durchgeführt wurden. Zugleich existieren auch aktuellere Ergebnisse aus dem Raum Frankfurt (Mußmann et al., 2020). Grob zusammengefasst, stellten alle diese Untersuchungen fest, dass Lehrkräfte im Mittel mehr Arbeitszeit aufwenden, als es gemäß ihrer Dienstaufgaben bzw. vertraglichen Situation vorgesehen ist, wobei natürlich Abweichungen zwischen einzelnen Untersuchungen und Gruppen von Lehrkräften bestehen.

Die LaiW-Studie ist aber insofern bemerkenswert, als bundesweit vergleichend Daten von insgesamt ca. N = 16.000 erhoben wurden (von Januar 2018 bis Mai 2018) und die Erfassung von Arbeitszeitdaten methodisch relativ präzise erfolgte. Dabei wurden zwei Erfassungsmethoden kombiniert, ein Onlinefragebogen zur Einschätzung der Gesamtarbeitszeit einer Woche (viermal) und ein tägliches Protokoll der Arbeitszeit nach vordefinierten Tätigkeiten über einen Zeitraum von vier Wochen (Kreuzfeld, Felsing & Seibt, 2022). Methodisch interessant ist ebenfalls, dass daneben auch eine app-basierte Erfassung erprobt wurde (Felsing et al., 2019). Für Vollzeitlehrkräfte ergab sich eine durchschnittliche Wochengesamtarbeitszeit von 45.2 Stunden, für Teilzeitlehrkräfte von 36,5 Stunden (für eine bereinigte Stichprobe von N = 6109; Kreuzfeld, Felsing & Seibt, 2022; DPhV, 2020). Die Daten beziehen sich, gemäß dem beauftragenden Verband, allerdings nur auf Gymnasiallehrkräfte.

Wichtig ist zu allen diesen Studien anzumerken, dass innerhalb der Gruppe der Lehrkräfte ebenfalls große Unterschiede existieren (in der LaiW-Studie gaben bspw. 45% der Befragten wöchentliche Arbeitszeiten von über 45 Stunden an, DPhV, 2020). Diese Arbeitszeiten sind im weltweiten Vergleich allerdings nicht unbedingt herausragend hoch. Für die Schweiz ergeben sich bspw. ähnliche durchschnittliche Gesamtwochenarbeitszeiten (Brägger & Schwendimann, 2022), in England etwas höhere (Walker et al., 2019). Hohe Arbeitszeiten gehen mit hohem Belastungserleben einher, welches in vielen der erwähnten Studien ebenfalls erhoben wurde. Es lohnt sich daher, auf diese einen näheren Blick zu werfen. Aus Gründen des Umfangs können wir die Ergebnisse hierzu allerdings nicht umfassend beschreiben, auch weil die Anzahl entsprechender Untersuchungen größer ist als vergleichbare Arbeitszeituntersuchungen (siehe z.B. Rothland, 2007).

Fazit

Was lässt sich hieraus nun bzgl. der Thesen aus dem Buch schließen? Insgesamt ist es empirisch gut belegt, dass Lehrkräfte in Deutschland häufig höhere wöchentliche Gesamtzeiten arbeiten, als vorgesehen, was zu hohen Belastungen führt. Insofern ist diese Prämisse für die formulierte Todsünde Nr. 1 der Überlastung von Lehrkräften auch empirisch gut fundiert und es stimmt, dass diese Untersuchungen fast nur von Lehrerverbänden angestoßen wurden. Die Aussage der zu großen Anzahl unterschiedlicher Zielerwartungen und -vorgaben an Lehrkräfte bzw. an die Schule ist aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung schwierig zu betrachten, da diese These im Text wenig mit Bezug zu empirischen Aussagen formuliert wird (es bleibt eher eine normative Einschätzung). Auch aus dem impliziten Bezug zu verhaltensgenetischen Studien wird keine konkretere Aussage abgeleitet. Die zweite Todsünde wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er findet sich hier.

Literatur:

  • Brägger, M., & Schwendimann, B. A. (2022). Entwicklung der Arbeitszeitbelastung von Lehrpersonen in der Deutschschweiz in den letzten 10 Jahren. Prävention und Gesundheitsförderung17(1), 13-26. (Online)
  • Deutscher Philologenverband (Hrsg.) (2020). Arbeitsbelastung, Zufriedenheit und Gesundheit von Lehrkräften an Gymnasien. Presse-Konferenz in Berlin, 09.03.2020. (Online)
  • Felsing, C., Kreuzfeld, S., Stoll, R., & Seibt, R. (2019). App-basierte vs. geschätzte Ermittlung der Arbeitszeit von Gymnasiallehrkräften. Prävention und Gesundheitsförderung14(3), 281-289. (Online)
  • Hardwig, T., & Mußmann, F. (2018). Zeiterfassungsstudien zur Arbeitszeit von Lehrkräften in Deutschland. Konzepte, Methoden und Ergebnisse von Studien zu Arbeitszeiten und Arbeitsverteilung im historischen Vergleich. Expertise im Auftrag der Max-Träger-Stiftung. Georg-August-Universität Göttingen. (Online)
  • Kreuzfeld, S., Felsing, C., & Seibt, R. (2022). Teachers’ working time as a risk factor for their mental health-findings from a cross-sectional study at German upper-level secondary schools. BMC public health22(1), 1-12. (Online)
  • Meidinger, H.-P. (2021). Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift. Claudius Verlag.
  • Mußmann, F., Hardwig, T., Riethmüller, M.m Klötzer, S., & Peters, S. (2020). Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Lehrkräften an Frankfurter Schulen 2020. Georg-August-Universität Göttingen. (Online)
  • Rothland, M. (2007). Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Springer VS. (Online)
  • Schaarschmidt, U., Fischer, A., Sieland, B., Rahm, T., & Tarnowski, T. (2007). Die Arbeitszeit der Lehrerinnen und Lehrer in Nordrhein-Westfalen – Ergebnisse und Vorschläge der Projektgruppe QuAGiS zur Entwicklung eines zukunftsfähigen Arbeitszeitmodells. Projektgruppe QuAGiS (Qualität, Arbeit und Gesundheit in Schulen) des VBE NRW. (Online)
  • Spinath, F. M., Spinath, B., & Borkenau, P. (2008). Soziale und genetische Determinanten der Lernfähigkeit. In W. Schneider, & M. Hasselhorn (Hrsg.), Handbuch der Pädagogischen Psychologie (S. 105-115). Hogrefe.
  • Walker, M., Worth, J., & Van den Brande, J. (2019). Teacher workload survey 2019. Research Brief. Department of Education. (Online)