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Täuschen, Schummeln und Betrügen an der Hochschule im Licht der Bildungsforschung – 3/7

In einer Universität entwickeln sich die Talente

Wie überall sonst, wird auch an Universitäten nicht immer ehrlich gespielt bzw. studiert. In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns daher hier im Blog etwas genauer mit dem Täuschen und Betrügen im Studium, häufig zusammengefasst auch unter dem Begriff akademisches Fehlverhalten. Uns interessiert dabei natürlich, welche Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung hierzu vorliegen. Nachdem wir im ersten Beitrag zunächst betrachtet haben, welche Arten des akademischen Fehlverhaltens im Studium vorkommen können, haben wir im zweiten Beitrag ein paar Methoden vorgestellt, wie solches normverletzende Verhalten auch empirisch erhoben werden kann bzw. welche Schwierigkeiten dabei auftreten können.

Wie groß ist das Problem?

In diesem Beitrag soll es nun um die Frage gehen: Wie groß ist das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens bei Studierenden? Welches kommt häufig vor, welches evtl. seltener? Und wie ist es bei Lehramtsstudierenden? Sie sind ja schließlich die Zielgruppe unserer Arbeit in der Nachwuchsforschungsgruppe. Sind sie vielleicht aufgrund ihrer Berufswahl sogar eher vorbildlich, weil sie über eine Art Prüfungsethos als angehende Lehrkräfte verfügen? Diese Fragen deuten es schon an. In diesem Beitrag werden wir etwas differenzierter auf Ergebnisse aus Studien blicken und dabei berücksichtigen, welche Arten des Fehlverhaltens untersucht wurden, welche Studierenden befragt wurden und auch mit welcher Erhebungsmethode.

Generell wird und wurde akademisches Fehlverhalten weltweit schon länger untersucht, wobei die Ergebnisse auch immer wieder in verschiedenen Reviews zusammengefasst wurden (z.B. Ali et al., 2021; Parthner, 2020; Park, 2010). Dabei wird ein mindestens einmaliges akademisches Fehlverhalten im Studium von durchschnittlich ca. 70% (z.B. Whitley, 1998) bis ca. 33% (z.B. Teixeira & Rocha, 2010) aller Studierenden berichtet. Dieser Unterschied ist auch darin begründet, dass sich das Ausmaß erwartbarerweise je nach Täuschungshandlung unterscheidet, wobei sich die meisten Studien auf das Plagiieren in Haus- bzw. Abschlussarbeiten beziehen.

Ein Blick in den eigenen Garten…

Generell ist es aber schwierig, Studien zu akademischem Fehlverhalten aus unterschiedlichen Ländern und Studienkontexten gut miteinander zu vergleichen (vgl. Ison, 2018). Daher blicken wir etwas genauer auf Ergebnisse aus dem deutschsprachigen Sprachraum, genauer Deutschland und der Schweiz. Viele Untersuchungen wurden von Kolleg*innen der ETH Zürich bzw. der Universität Leipzig durchgeführt, oft verbunden mit Methodenstudien (die wir im zweiten Beitrag dieser Reihe schon kurz kennengelernt haben).

Preisendörfer (2008) ließ N = 578 Studierende (hauptsächlich) der Soziologie in Interviews dichotom dazu befragen, ob sie ein bestimmtes Fehlverhalten im Studium schon einmal getan haben (ja oder nein) per RRT und per Direct-Response. Weil letztere Angaben meist höher lagen, nennen wir hier nur die Ergebnisse zum Anteil aus der direkten Befragung in absteigender Reihenfolge: Abschreiben lassen in Klausur (65,7%), selbst in Klausuren abgeschrieben (57,0%), Spickzettel in Klausur verwendet (21,7%), Teilplagiat in Hausarbeit (15,9%), Buch in der Bibliothek versteckt (5,4%), Komplettplagiat in Hausarbeit (1,4%), Seiten aus einem Buch in der Bibliothek gerissen (1,0%). Coutts et al. (2011) befragten Studierende aller Fächer und Studiengänge ebenfalls per RRT und direkt. In der direkten Befragung (N = 829) gaben 12,0% der Studierenden an, schon einmal in Haus- oder Abschlussarbeiten plagiiert zu haben, 19,4% bei anderen schriftlichen Arbeiten. In einer Teilstudie an drei weiteren Universitäten wurden N = 310 auch per Crosswise-Modell befragt, wobei sich ein Ausmaß von 22,3% Teilplagiat und 1,6% größerem Plagiat ergab (vgl. Jann et al., 2012; Sattler, 2008).

In der Studie von Jerke & Krumpal (2013) wurden (wieder) Soziologiestudierende per Triangularmodell (N = 281) und direkt (N = 101) befragt. Hierbei ergab sich ein Verhaltensausmaß von 18,0% Teilplagiat im TM-Modell (9,9% direkt) und 0,8% Vollplagiat im TM-Modell (0,0% direkt). Nitsche et al. (2014) befragten N = 312 Studierende verschiedener Studienbereiche per TM-Modell an der Hochschule Merseburg und erhielten folgende Ergebnisse: Abschreiben in Klausuren (29%), Verwendung von Spickzetteln (21%), Plagiieren (11%) und Informationsbeschaffung im Internet während Prüfungen (9%). Krohe (2020) berichtet Ergebnisse einer deutschlandweiten, direkten Onlinebefragung von N = 15440 Studierenden verschiedenster Studiengänge. Dabei ergab sich ein Ausmaß von: Abschreiben in Klausuren (27,3%), Nutzung von Spickzetteln (22,9%), Teilplagiat in Hausarbeiten (18,1%), Vollplagiat (4,3%) und Nutzung von Ghostwritern/Mehrfachnutzung der gleichen Arbeit (2,9%).

Die Ergebnisse der vorliegenden Studien variieren durchaus deutlich, es scheint aber schon eine tendenzielle Abstufung des Ausmaßes bestimmter Täuschungsarten zu existieren. Allerdings ermöglichen diese Arbeit es uns nicht, die Frage zu klären, ob das auch für Lehramtsstudierende gilt, oder ob sie sich von Studierenden anderer Studiengänge unterscheiden. Schließlich sollten sie im späteren Beruf in dieser Hinsicht für ihre Schüler*innen auch ein Vorbild sein.

Wie sieht es im Lehramt aus?

Genauere Einblicke ins Lehramt gibt aber eine der wichtigsten Studien zum akademischen Fehlverhalten in Deutschland: FAIRUSE „Fehlverhalten und Betrug bei derErbringung von Studienleistungen: Individuelle und organisatorisch-strukturelle Bedingungen“ (Sattler & Diewald, 2013). Sie hat nicht nur einen sehr umfangreichen Datensatz, sondern betrachtet auch einige Arten des Fehlverhaltens, die bisher noch nicht vorgekommen sind. Ihre unterschiedlichen Ergebnispublikationen (z.B. Patrzek et al., 2015) sind allesamt äußerst lesenswert.

Bildnachweis: © Universität Bielefeld

In der Studie wurden deutschlandweit Studierende an verschiedenen Hochschulen in einem Panel-Design insgesamt zu vier aufeinander folgenden Zeitpunkten gefragt. Die Ergebnisse zum Ausmaß von akademischem Fehlverhalten im Abschlussbericht beziehen sich auf N = 3486 Studierende, die auch beim zweiten Messzeitpunkt an der Befragung teilgenommen haben. Methodisch wurde mit dem Direct-Response-Ansatz gearbeitet, allerdings wurde im Unterschied zu den bisher genannten Arbeiten auf einer 10-stufigen Skala auch nach der Häufigkeit bestimmten Täuschungshandelns innerhalb der letzten sechs Monate gefragt (von noch nie bis mehr als 10-mal). Die Studierenden wurden dabei nur gefragt, wenn sie auch eine Prüfungsleistung erbringen mussten, auf die sich die jeweilige Täuschungshandlung bezieht.

Um nun das Ausmaß von akademischem Fehlverhalten von Lehramtsstudierenden im Vergleich abzuschätzen, habe ich in der folgenden Tabelle (Tab. 1) die Ausmaße aus dem Abschlussbericht von Studierenden, die in der Studie die Studienabschlüsse Lehramt und Lehramtsmaster angegeben haben, eingetragen und sie dem jeweiligen Gesamtdurchschnitt gegenüber gestellt (Sattler & Diewald, 2013, 20-23). Angegeben ist jeweils der prozentuale Anteil Studierender, die ein mindestens einmaliges Täuschungsverhalten genannt haben.

FehlverhaltenLehramtLehramt
Master
Gesamt
Plagiieren15,6%17,4%18%
Spickzettel benutzen20,0%24,8%17%
Spickzettel mitnehmen33,3%36,2%31%
Abschreiben in Klausuren22,2%39,4%37%
falsches Attest benutzen24,4%11,3%15%
Abschreiben von Arbeitsaufgaben20,0%35,8%35%
Daten fälschen/verändern24,2%12,4%24%
Tab. 1 „Ausmaß akademischen Fehlverhaltens im Lehramt in der FAIRUSE-Studie (Sattler & Diewald, 2013)“

An der Vermutung, dass Lehramtsstudierende sich im Sinne einer pädagogischen Verantwortung schon im Studium vorbildlicher bei Prüfungen verhalten, ist anscheinend nur wenig dran. Auch im Lehramt wird im ähnlichen Ausmaß getäuscht, teilweise sogar mehr. Hierbei muss man aber natürlich beachten, dass sich die Prüfungsformen und damit die möglichen Täuschungshandlungen auch in den studierten Fächern unterscheiden.

Und nun?

Im Studium wird in nennenswertem Umfang getäuscht und betrogen, trotz möglicher Sanktionen und relativ klarer Kommunikation des erwarteten akademischen Verhaltens. Warum sollten sich Studierende im Lehrbetrieb an der Universität auch anders verhalten als zuvor im Lehrbetrieb einer Schule? Festzuhalten ist allerdings auch, dass gute zwei Drittel sich so verhalten, wie es die Hochschulen von ihren Studierenden erwarten. Möchte man dieses Verhältnis hin zu einem größeren Anteil korrekten akademischen Verhaltens ändern, dann muss gefragt werden, was Studierende zum Täuschen bringt, bzw. welche Faktoren und Bedingungen es begünstigen. Diese Fragen werden im nächsten Beitrag dieser Artikelreihe betrachtet. Er wird wieder an dieser Stelle verlinkt, sobald er online ist.

Literatur

  • Ali, I., Sultan, P., & Aboelmaged, M. (2021). A bibliometric analysis of academic misconduct research in higher education: Current status and future research opportunities. Accountability in research, 1-22. (Online)
  • Coutts, E., Jann, B., Krumpal, I., & Näher, A. F. (2011). Plagiarism in student papers: prevalence estimates using special techniques for sensitive questions. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 231(5-6), 749-760. (Online)
  • Ison, D. C. (2018). An empirical analysis of differences in plagiarism among world cultures. Journal of Higher Education Policy and Management, 40(4), 291-304. (Online)
  • Jann, B., Jerke, J., & Krumpal, I. (2012). Asking sensitive questions using the crosswise model: an experimental survey measuring plagiarism. Public opinion quarterly, 76(1), 32-49. (Online)
  • Jerke, J., & Krumpal, I. (2013). Plagiate in studentischen Arbeiten: eine empirische Untersuchung unter Anwendung des Triangular Modells. Methoden, Daten, Analysen (mda), 7(3), 347-368. (Online)
  • Kroher, M. (2020). Akademisches Fehlverhalten: Wie ehrlich berichten Studierende über Täuschungen?. In I. Krumpal, & R. Berger (Hrsg.), Devianz und Subkulturen – Theorien, Methoden und empirische Befunde (S. 207-240). Springer VS. (Online)
  • Nitsche, I., Rittmann, A., & Döpke, J. (2014). „Wirtschaftsethik “praktisch: Wie oft schummeln Studierende an der Hochschule Merseburg?. In A. Frei, & G. Marx (Hrsg.), Fahrrad – Vesper – Finanzwirtschaft Untersuchungen zu Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Eckhard Freyer (S. 11-29). Hochschule Merseburg. (Online)
  • Park, C. (2003). In other (people’s) words: Plagiarism by university students–literature and lessons. Assessment & evaluation in higher education, 28(5), 471-488. (Online)
  • Parnther, C. (2020). Academic misconduct in higher education: A comprehensive review. Journal of Higher Education Policy And Leadership Studies, 1(1), 25-45. (Online)
  • Patrzek, J., Sattler, S., van Veen, F., Grunschel, C., & Fries, S. (2015). Investigating the effect of academic procrastination on the frequency and variety of academic misconduct: a panel study. Studies in Higher Education, 40(6), 1014-1029. (Online)
  • Preisendörfer, P. (2008). Heikle Fragen in mündlichen Interviews: Ergebnisse einer Methodenstudie im studentischen Milieu. ETH Zurich SociologyWorking Paper, (6). (Online)
  • Sattler, S., & Diewald, M. (2013). FAIRUSE – Fehlverhalten und Betrug bei der Erbringung von Studienleistungen: Individuelle und organisatorisch-strukturelle Bedingungen – Schlussbericht zum Projekt. Universität Bielefeld. (Online)
  • Sattler, S. (2008). Plagiate in Hausarbeiten: Erfassung über Direct-Response und Validierung mit Hilfe der Randomized-Response-Technique. In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 (S. 5446-5461). Campus Verlag. (Online)
  • Teixeira, A. A., & Rocha, M. F. (2010). Cheating by economics and business undergraduate students: an exploratory international assessment. Higher Education, 59(6), 663-701. (Online)
  • Whitley, B. E. (1998). Factors associated with cheating among college students: A review. Research in higher education, 39(3), 235-274. (Online)

Täuschen, Schummeln und Betrügen an der Hochschule im Licht der Bildungsforschung – 2/7

„Everybody lies!“

Ausgehend von einem realen Fall von Notenhandel (siehe den ersten Beitrag dieser Reihe) betrachten wir in einer Beitragsreihe hier im Blog das Täuschen bzw. Betrügen im Studium etwas genauer. Zusammengefasst geht es um unterschiedlichste Formen akademischen Fehlverhaltens von Studierenden und Ergebnisse der Bildungsforschung zu diesem Problemfeld.

Bevor wir einen näheren Blick auf das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens, für uns insbesondere im Lehramtsstudium, werfen, stellen wir uns aber zunächst die Frage: Wie bekommt man eigentlich heraus, wie verbreitet das Schummeln und Täuschen im Studium ist? Schließlich handelt es sich um ein Verhalten, das auch mit empfindlichen Folgen verbunden sein kann (z.B. Exmatrikulation), weshalb es selten direkt mitgeteilt wird und wenn eher hinter vorgehaltener Hand. Welche verschiedenen Methoden werden daher in er empirischen Bildungs- bzw. Sozialforschung angewandt, um akademisches Fehlverhalten zu erfassen?

Wer nicht fragt, der nicht gewinnt…

Der direkteste Weg wäre es, aufgedeckte Fälle akademischen Fehlverhaltens zu erfassen (vgl. Sattler, 2008), indem z.B. Verfahren in Prüfungsausschüssen oder Prüfungsübersichten ausgewertet werden. Dies funktioniert allerdings zum einen nur für genügend „schwere“ Fälle, also akademisches Fehlverhalten, dass auch tatsächlich in zählbaren Sanktionen resultiert (z.B. bei eindeutigen Plagiaten). „Kleinere“ Fälle finden selten Eingang in solche Verfahren. Zum anderen muss akademisches Fehlverhalten hierfür eben erst einmal bekannt sein bzw. aufgedeckt werden. Es ist aber nur plausibel anzunehmen, dass die meisten Fälle von Täuschungen (z.B. Abschreiben in Klausuren, Übernahme kleiner Textpassagen) selten auffallen. Das ist schließlich ein Faktor, warum es überhaupt vorkommt.

Um das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens im Studium genauer abschätzen zu können, wird man daher um eine Befragung von Studierenden kaum herumkommen. Die einfachste Art ist dabei eine Befragung im Direct-Reponse-Verfahren (vgl. Sattler, 2008). Studierende würden hierbei einfach direkt danach gefragt, ob sie z.B. im Verlauf ihres Studiums ein bestimmtes akademisches Fehlverhalten gezeigt haben (z.B. schon mal einen Übungszettel abgeschrieben haben). Dies wäre eine retrospektive Befragung bzgl. des Verhaltens in der Vergangenheit. In einem anderen Ansatz fragt man nach möglichem Verhalten in der Zukunft, also der Bereitschaft von Studierenden evtl. ein bestimmtes Täuschungsverhalten zu zeigen. Beide Befragungsansätze lassen sich dabei sehr differenziert ausformulieren (z.B. „Wie sehr wären sie bereit, innerhalb des nächsten halben Jahres wortwörtliche Übernahmen in einer Hausarbeit nicht zu kennzeichnen, um eine potentiell bessere Note zu erhalten?“) und methodisch unterschiedlich durchführen (z.B. als Fragebogen, als Interview). Ein anderer Ansatz ist es, die Befragten in die Position eines fiktiven Studierenden zu versetzten und ihre Verhaltensbereitschaft an dessen Stelle zu erfragen. Wie bei allen Befragungen hängen die Antworten natürlich auch bei diesem Themengebiet davon ab, wie man genau fragt.

Generell hat das Direct-Response-Verfahren aber den Nachteil, dass Personen bei Befragungen zu heiklen Verhaltensweisen, bei denen alle Beteiligten wissen, dass man gegen eine soziale (und rechtliche) Norm verstößt, dazu neigen, nicht ehrlich zu antworten (z.B. aufgrund sozialer Erwünschtheit, Schutz des eigenen Selbstbildes, um Interviewer*innen zu gefallen etc.) (vgl. Stocké, 2004). Bei einer direkten Befragung erwartet man daher, dass man das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens eher unterschätzt. Um das etwas zu umgehen, könnten Studierende auch indirekt befragt werden, in dem Sinne, dass sie angeben sollen, ob sie akademisches Fehlverhalten in ihrem Umfeld bei anderen schon beobachtet haben. Dies würde keine Aussage über die eigene Person erfordern. Allerdings hat man hier das Problem, dass zum einen nicht genau das Verhalten einer oder eines Studierenden erfragt wird (z.B. könnten zwei Personen die gleiche Kommilitonin kennen, die plagiiert). Zum anderen kann man vermuten, das viel akademisches Fehlverhalten auch innerhalb der Studierendenschaft unerkannt bleibt, oder man unbewusst dazu neigt, Mitstudierende zu schützen. Daher ist auch hier eher eine Unterschätzung von akademischem Fehlverhalten erwartbar.

Anonymität durch Zufall?

Um die Wahrscheinlichkeit ehrlicher Antworten zu erhöhen, werden verschiedene Befragungsmethoden vorgeschlagen, die meist versuchen, für die Befragten höhere, individuelle Anonymität herzustellen. Bspw. werden bei der Randomised-Response-Technique Fragen zu einem heiklen Verhalten (hier z.B. Schummeln in Klausuren) mit einer Zufallsmechanik mit bekannten Ergebniswahrscheinlichkeiten verbunden (z.B. einem Münzwurf) (Blair et al., 2015). Die Befragten erhalten dabei die Anweisung, bei einem bestimmten Ausgang der Zufallsmechanik die heikle Frage zu beantworten und bei einem anderen Ausgang den Zufallswurf zu wiederholen und das Ergebnis dieses Wurfs einzutragen. Die Idee dahinter ist, dass dadurch, dass nur die befragte Person den Ausgang der Zufallswürfe kennt, Antworten nicht mehr direkt als Schuldeingeständnis einer Person interpretiert werden können. Aufgrund der bekannten Wahrscheinlichkeitsverteilung kann aber der Anteil der „wahren“ Antworten mittels bedingter Wahrscheinlichkeiten berechnet werden. In empirischen Studien hat sich allerdings bisher eher nicht bestätigt, dass mittels dieses Verfahrens ehrlichere Angaben erzeugt werden und Fehlverhaltensraten erweisen sich oft sogar als niedriger (Coutts et al., 2011; vgl. Sattler, 2008). Als Gründe werden z.B. vermutet, dass durch die Komplexität des Verfahrens sogar weniger Vertrauen in die Anonymität der Befragung erzeugt wird (Höglinger et al., 2016). Krumphal & Voss (2020) argumentieren, dass auch theoretisch bei diesem Befragungsansatz Verzerrungen durch unehrliches Antwortverhalten erwartet werden können.

Bildnachweis: © Springer VS

Als weitere Alternativen zu diesem eher komplexen Verfahren wurden das Crosswise-Modell und das Triangular-Modell (Yu et al., 2008) vorgeschlagen. Die Idee hinter diesen Befragungsansätzen besteht darin, eine heikle Frage (z.B. „Haben Sie schon einmal plagiiert?“) mit einer nicht-heiklen Frage zu kombinieren, die nur zwei Antworten zulässt, deren Wahrscheinlichkeit man aufgrund statistischer Vorkenntnisse als bekannt voraussetzen kann (z.B. „Sind sie im Januar, Februar oder März geboren?“). Beim Crosswise-Modell müssen die Befragten beide Fragen kombiniert beantworten: würden sie beide Fragen gleich beantworten, sollen sie bspw. Antwortoption 1 wählen, beantworten sie beide unterschiedlich, Antwortoption 2. Keine der Fragen soll einzeln beantwortet werden, daher wird angenommen, dass die kombinierte Frage per se nicht mehr heikel ist. Aus der Antwortverteilung kann anschließend wieder eine Schätzung der Verteilung des „wahren“ Werts des heiklen Verhaltens berechnet werden. Das Crosswise-Modell erreicht in empirischen Untersuchungen häufig, aber nicht immer höhere Ausmaße von Fehlverhalten als direkte Befragungen (z.B. Jann et al, 2012). Beim Triangular-Modell werden wie zuvor zwei Fragen (heikel und nicht-heikel) kombiniert. Hier ist die Ausfüllanweisung allerdings anders: Würde eine Person beide Fragen verneinen, dann soll bspw. Antwortoption 1 gewählt werden. Würde sie mindestens eine der beiden Frage bejahen, soll die andere Option gewählt werden. Vom Ansatz her also ähnlich, es unterscheidet sich neben den Antwortanweisungen auch in der Art und Weise, wie der „wahre“ Wert der heiklen Frage geschätzt wird. Vergleichende Untersuchungen deuten daraufhin, dass auch das Triangular-Modell ehrlicheres Antwortverhalten als eine direkte Befragung erzeugen kann, aber nicht unbedingt mehr als das Crosswise-Modell (Jerke & Krumphal, 2013; vgl. Coutts et al., 2011). Auf der anderen Seite ist auch dieses Verfahren komplexer als eine direkte Befragung und setzt nicht-heikle Fragen voraus, deren Antwortverteilung innerhalb der befragten Gruppe bekannt ist und die im Befragungsverlauf nicht stärker irritierten. Bei allen angeführten Verfahren muss zudem die Zahl befragter Personen hinreichend groß sein, um nach dem Gesetz der großen Zahl genügend sichere Schätzungen vornehmen zu können.

Und nun?

Was lässt sich aus dieser Übersicht an Befragungsansätzen nun schließen? Zum einen, dass es schwierig ist, das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens im Studium zu erfassen. Zum anderen müssen je nach Befragungsansatz die Ergebnisse von Untersuchungen etwas anders interpretiert werden, was natürlich die Vergleichbarkeit erschwert. Das möchten wir aber im folgenden Beitrag tun, in dem wir von Ergebnissen empirischer Untersuchungen zum akademischen Fehlverhalten von Studierenden berichten. Dabei möchten wir – unserem Forschungsinteresse folgend – den Fokus insbesondere auf Lehramtsstudierende legen. Der Beitrag findet sich hier.

Literatur

  • Blair, G., Imai, K., & Zhou, Y. Y. (2015). Design and analysis of the randomized response technique. Journal of the American Statistical Association, 110(511), 1304-1319.
  • Coutts, E., Jann, B., Krumpal, I., & Näher, A. F. (2011). Plagiarism in student papers: prevalence estimates using special techniques for sensitive questions. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 231(5-6), 749-760.
  • Höglinger, M., Jann, B., & Diekmann, A. (2016). Sensitive Questions in Online Surveys: An Experimental Evaluation of Different Implementations of the Randomized Response Technique and the Crosswise Model. Survey Research Methods, 10(3), 171-187.
  • Jann, B., Jerke, J., & Krumpal, I. (2012). Asking sensitive questions using the crosswise model: an experimental survey measuring plagiarism. Public opinion quarterly, 76(1), 32-49.
  • Jerke, J., & Krumpal, I. (2013). Plagiate in studentischen Arbeiten: eine empirische Untersuchung unter Anwendung des Triangular Modells. Methoden, Daten, Analysen (mda), 7(3), 347-368.
  • Sattler, S. (2008). Plagiate in Hausarbeiten: Erfassung über Direct-Response und Validierung mit Hilfe der Randomized-Response-Technique. In K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 (S. 5446-5461). Campus Verlag.
  • Stocké, V. (2004). Entstehungsbedingungen von Antwortverzerrungen durch soziale Erwünschtheit. Ein Vergleich der Prognosen der Rational-Choice Theorie und des Modells der Frame-Selektion. Zeitschrift für Soziologie, 33(4), 303-320.
  • Yu, J. W., Tian, G. L., & Tang, M. L. (2008). Two new models for survey sampling with sensitive characteristic: design and analysis. Metrika, 67(3), 251-263.

Täuschen, Schummeln und Betrügen an der Hochschule im Licht der Bildungsforschung – 1/7

Titel, Thesen, Temperamente

Bildnachweis: © Universität Duisburg-Essen

Anfang Oktober 2021 sorgte ein besonders plakativer Fall von Prüfungsbetrug bzw. Notenhandel an der Universität Duisburg-Essen für Schlagzeilen in der Medienlandschaft, aber auch für interessante Diskussionen innerhalb der akademischen Welt. Eine Mitarbeiterin des zentralen Prüfungsamtes soll gegen die Annahme von Geld die Noten von Studierenden in der zentralen Prüfungsdatenbank verändert haben, natürlich zum besseren. Der Spiegel berichtet vom „Markt der Möglichkeiten“ (Olbrisch, 2021) und listet Beispielpreise auf (z.B. 50 Euro für eine Erhöhung der Notenstufe). Möglich war dies alles, weil die Mitarbeiterin an der richtigen Stelle im System zuständig war: bei der Eingabe der Noten in die zentrale Datenbank, die von den Fakultäten an das Prüfungsamt übermittelt wurden. Manipulationen an dieser Stelle fallen von sich aus kaum auf und so ist es nicht verwunderlich, dass die Untersuchung erst auf einen anonymen Hinweis hin begonnen werden konnte.

Dieser Fall ist ein zugegebenermaßen drastisches Beispiel dafür, dass auch an Hochschulen, die aufgrund ihres wissenschaftlichen Selbstanspruchs auch öffentlich oft als Orte hoher Integrität und Redlichkeit betrachtet werden bzw. werden wollen, Betrug und Täuschungen vorkommen. Dies gilt insbesondere für Prüfungen. Von einem erfolgreichen Bestehen von Prüfungen im Studium hängt für Studierende schließlich viel ab: von der Möglichkeit ein Studium überhaupt beenden zu können bis hin zu besseren Einstellungschancen im Berufsleben. Der berichtete Fall an der Universität Duisburg Essen hat daher auch unangenehme Folgen für Studierende, die ihren Studienabschluss womöglich unrechtmäßig „erkauft“ haben und sich mit ihren Zeugnissen vielleicht schon erfolgreich beworben haben. Wichtig: Der Fall hätte sich auch an anderen Hochschulen ereignen können bzw. solche Fälle kommen weltweit immer wieder vor. Es ist also kein Problem, dass nur einzelne Universitäten betrifft. Uns liegt es fern, unseren Kolleg*innen in Duisburg bzw. Essen Vorwürfe zu machen.

Wir als Forschungsgruppe, die sich mit Prüfungen beschäftigt, haben den Fall in der Kaffeepause auch schon rege diskutiert: „Wie oft kommt so etwas vor? Was bringt Studierende darauf solch einen Handeln einzugehen?“ In einer Beitragsreihe in unserem Blog möchten wir diesen Fragen etwas genauer nachgehen und dabei insbesondere Ergebnissen der Bildungsforschung darstellen.

Worum geht es überhaupt?

Generell werden Täuschungen und Betrug bei Prüfungen in der internationalen Forschung häufig unter den Begriffen academic misconduct, academic malpractice oder academic dishonesty zusammengefasst (z.B. Krou et al., 2021; Ali et al., 2021; Awasthi, 2019), im Deutschen häufig als akademisches Fehlverhalten übersetzt (z.B. Kroher, 2020). Im Glossary for Academic Integrity definieren Tauginienė et al. (2018) academic misconduct als:

„Any action or attempted action that undermines academic integrity and may result in an unfair academic advantage or disadvantage for any member of the academic community or wider society.“

(Tauginiené et al., 2018, S. 8)

Akademisches Fehlverhalten bezieht sich also auf Handlungen, die gegen eine Norm des integren Verhaltens in der akademischen Gemeinschaft verstoßen, verbunden mit dem Ziel, sich unfaire Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Diese Definition ist sehr breit und hat Ähnlichkeiten zu weiteren Begriffen (z.B. academic fraud). Die Handlungen müssen dabei nicht erfolgreich sein, um als Fehlverhalten zu gelten. Neben Fehlverhalten als Wissenschaftler*in (wobei hier der Begriff scientific misconduct präziser ist; Gross, 2016) kann dies auch Fehlverhalten im Studium bezeichnen, also z.B. Versuche, sich bei Prüfungen mit unfairen Mitteln Vorteile gegenüber Mitstudierenden zu erlangen. Da es um Normen der Institution Hochschule geht, lässt sich nur schwer vollständig angeben, welche denkbaren Handlungen alle unter solches Fehlverhalten fallen. Häufig werden sie beschrieben in Dokumenten, die von Universitäten selbst herausgegeben werden, um die akademische Norm zu kommunizieren. Die ehrwürdige University of California in Berkeley nennt Fehlverhalten in folgenden Kategorien (UC, 2021):

  • Cheating (z.B. Abschreiben in Klausuren, Prüfungen für jemand anderen ablegen)
  • Plagiarism (z.B. Kopieren von Passagen anderer Werke in Hausarbeiten)
  • Course Materials (z.B. Verstecken von Büchern in der Bibliothek vor Mitstudierenden)
  • False Information and Representation, Fabrication or Alteration of Information (z.B. Fälschen von Attesten)
  • Theft or Damage of Intellectual Property (z.B. Zerstören von Arbeitsergebnissen Mitstudierender)
  • Alteration of University Documents (z.B. Fälschen von Zeugnissen bei Bewerbungen)
  • Disturbances in the Classroom (z.B. fälschlicherweises Aktivieren des Feueralarms)

Die FAIRUSE-Studie, die an der Universität Bielefeld durchgeführt wurde und in dieser Artikelreihe noch häufiger auftauchen wird, untersuchte bspw. folgende Arten akademischen Fehlverhaltens (Sattler & Diewald, 2013, S. 18):

  • Plagiieren
  • unerlaubte Hilfsmittel in Klausuren verwenden
  • unerlaubte Hilfsmittel in Klausuren mitnehmen
  • Abschreiben in Klausuren
  • Attest und Ausreden zur Verschiebung von Prüfungen oder Abgabefristen
  • Abschreiben von Arbeitsaufgaben (z.B. Protokolle, Übungszettel)
  • Daten fälschen/verändern

Der oben beschriebene Fall an der Universität Duisburg-Essen würde in diesem Sinne eher nicht als akademisches Fehlverhalten bezeichnet bzw. wird in der Forschung eher unter einem anderen Stichwort betrachtet. Es ist ein Beispiel für academic corruption. Dabei wird eine Position der Autorität bzw. mit einer bestimmten Macht oder Kompetenz ausgenutzt, um persönliche – meist finanzielle – Vorteile zu erlangen (vgl. Rumyantseva, 2005).

In dieser Reihe möchten wir genauer beleuchten, wie groß das Ausmaß akademischen Fehlverhaltens von Studierenden – insbesondere im Lehramtsstudium – eigentlich ist. Zunächst sollte aber der Frage nachgegangen werden, wie man das überhaupt feststellen kann. Schließlich handelt es sich um Handlungen, die die wenigsten Menschen bereitwillig zugeben. Im nächsten Beitrag werden daher Ansätze beschrieben, wie in der Bildungsforschung akademisches Fehlverhalten erfasst werden kann. Er befindet sich hier.

Literatur

  • Ali, I., Sultan, P., & Aboelmaged, M. (2021). A bibliometric analysis of academic misconduct research in higher education: Current status and future research opportunities. Accountability in research, 28(6), 372-393. (Online)
  • Awasthi, S. (2019). Plagiarism and Academic Misconduct: A Systematic Review. DESIDOC Journal of Library & Information Technology39(2), 94-100. (Online)
  • Gross, C. (2016). Scientific misconduct. Annual Review of Psychology67, 693-711. (Online)
  • Kroher, M. (2020). Akademisches Fehlverhalten: Wie ehrlich berichten Studierende über Täuschungen?. In I. Krumpal, & R. Berger (Hrsg.), Devianz und Subkulturen – Theorien, Methoden und empirische Befunde (S. 207-240). Springer VS. (Online)
  • Krou, M. R., Fong, C. J., & Hoff, M. A. (2021). Achievement motivation and academic dishonesty: A meta-analytic investigation. 33, 427–458. (Online)
  • Olbrisch, M. (2021, 06. Oktober). Notenmanipulation an der Uni Duisburg-Essen – Markt der Möglichkeiten. spiegel.de (Online)
  • Rumyantseva, N. L. (2005). Taxonomy of corruption in higher education. Peabody Journal of Education80(1), 81-92. (Online)
  • Sattler, S., & Diewald, M. (2013). FAIRUSE – Fehlverhalten und Betrug bei der Erbringung von Studienleistungen: Individuelle und organisatorisch-strukturelle Bedingungen – Schlussbericht zum Projekt. Universität Bielefeld. (Online)
  • Stiles, B. L., Wong, N. C. W., & LaBeff, E. E. (2018). College cheating thirty years later: The role of academic entitlement. Deviant Behavior39(7), 823-834. (Online)
  • Tauginienė, L., I. Gaižauskaitė, I. Glendinning, J. Kravjar, M. Ojsteršek, L. Ribeiro, T. Odiņeca, F. Marino, M. Cosentino, & S. Sivasubramaniam (2018). Glossary for Academic Integrity – ENAI Report 3G. European Network for Academic Integrity. (Online)
  • University of California (Hrsg.) (2021, 04. November). Definitions & Examples of Academic Misconduct. University of California, Division of Student Affairs. (Online)