Meidingers 10 Todsünden der Schulpolitik im Licht der Bildungsforschung 3/12 – Teil 2

Todsünde Nr. 2: Ideologien und Visionen bestimmen schulische Reformen

In einer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit dem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung. Dabei betrachten wir, wie Prämissen und Argumentationen im Buch vor dem Hintergrund von Ergebnissen der Bildungsforschung eingeschätzt werden können. Dieser ist der zweite Teil eines Beitrags, der sich mit der zweiten vom Autoren so bezeichneten Todünde beschäftigt. Im ersten Teil wurde die Kernthese des zugehörigen Kapitels genauer betrachtet. Da diese insbesondere am Beispiel der Einführung von Gesamtschulen im deutschen Bildungssystem konkretisiert wird, wurden anschließend theoretische und (ein paar wenige) historische Hintergründe zu Fragen der Gestaltung von gegliederten und aus Gesamtschulen bestehenden Schulsystemen dargestellt. Dieser Beitrag konzentriert sich nun auf die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Schulsystem und insbesondere zur Wirkung von Gesamtschulen. Thesen aus dem Buch werden auch in diesem Teil im Konjunktiv als indirekte Rede wiedergegeben, was keine Zustimmung oder Ablehnung implizieren soll.

Grau ist alle Empirie…

Was ergaben nun diese ersten empirischen Studien zur neu eingeführten integrierten Gesamtschule? Wie bei einem solch komplexen Untersuchungsgegenstand zu erwarten, sind die Ergebnisse ebenfalls komplex und unterscheiden sich je nach untersuchtem Zielbereich, Bundesland und weiterer Faktoren (vgl. zusammenfassend Fend, 1982). Bspw. untersuchten Fend et al. (1976) mit Hilfe einer Befragung von 3750 Schüler*innen der 9. und 10. Schulstufe, 404 Lehrkräften und 548 Eltern aus Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg und Berlin, ob im integrierten Gesamtschulsystem im Vergleich mehr Schüler*innen höhere Schulabschlüsse anstrebten oder welche Rolle Intelligenz in verschiedenen Schulsystem spielte. Grob zusammengefasst ergab sich, dass im Gesamtschulsystem mehr Schüler*innen als Abschluss ein Abitur erwarteten (40% gegenüber 23%, Fend et al., 1976, 141) und dass der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistungen bzw. Leistungsstatus im Gesamtschulsystem im Vergleich niedriger ausfällt (r = .24 gegenüber r = .38, Fend et al., 1976).

Auch im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Beratergruppe zum Gesamtschulversuch von Nordrhein-Westfalen (Kultusminister NRW, 1979) werden umfangreiche Ergebnisse zu Vergleichen zwischen Schüler*innen der beiden Schulsysteme berichtet. Allgemein zusammengefasst zeigte sich, dass bezogen auf fachliche Lernleistungen leistungsschwächere Schüler*innen (definiert anhand der Übergangsempfehlung auf eine Hauptschule) in der 6. Klasse an integrierten Gesamtschulen höhere Leistungen erzielten, als die entsprechende Gruppe im gegliederten System. Bei leistungsstärkeren Schüler*innen (Übergangsempfehlung für Realschule oder Gymnasium) sind die Ergebnisse umgekehrt. Dieses Muster ergab sich allerdings nicht mehr für Schüler*innen in der 9. Klasse, in der die Schüler*innen im gegliederten System höhere Leistungen erzielten (siehe hierzu Kultusminister NRW, 1979, 57ff.). Es wurde allerdings auch eine große Varianz zwischen Schulen innerhalb beider Systeme in den Ergebnissen und auch in den Lerngelegenheiten innerhalb der Schulen für die erfassten Fachleistungen festgestellt. Die Ergebnisse werden zudem in Beziehungen aus Hessen gesetzt, die teils umgekehrte Befunde zeigten. Im Bereich der Lehrkräfte-Schüler*innen-Verhältnisse berichteten Gesamtschüler*innen ein höheres Maß an zugestandener Mitbestimmung durch Lehrkräfte und höhere Selbstständigkeitserwartungen als im gegliederten System. Bei Verstößen gegen schulrelevante Normen (z.B. Störungen etc.) ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Systemen. Bezogen auf schulische Abschlüsse erwarben Schüler*innen an Gesamtschulen zu geringeren Anteilen einen Hauptschulabschluss, dafür aber einen höheren Anteil der Fachoberschulreife (68% gegenüber 50%, Kultusminister NRW, 1979, 43f.). In den Oberstufen der Gesamtschulen erreichte allerdings ein geringerer Anteil an Schüler*innen das Abitur (73% gegenüber 86% an Gymnasien, Kultusminister NRW, 1979, 44f.). Es wird in diesem Zusammenhang aber auch formuliert: „Für die Bewertung der Erfolgsquote in der gymnasialen Oberstufe der Gesamtschule ist zu berücksichtigen, daß [sic!] an Gesamtschulen mehr als ein Drittel der Schüler eines Eingangsjahrgangs in die gymnasiale Oberstufe eintritt, während im traditionellen Schulsystem nur etwas mehr als ein Fünftel aller Schüler eines Eingangsjahrgangs […] in die Oberstufe übergeht.“ (Kultusminister NRW, 1979, 45).

Allein der Blick in diese zwei Publikationen zeigt für die Beurteilung der integrierten Gesamtschule: Es ist kompliziert ;). Es besteht eine große Varianz zwischen Ergebnissen verschiedener Schulen innerhalb beider Systeme, innerhalb einzelner Schulen und in den Systemen einzelner Bundesländer (es gibt also auch Überlappungen zwischen den Schulformen, also dass z.B. an bestimmten Gesamtschulen durchschnittlich höhere Leistungen erzielt wurden, als an bestimmten Realschulen oder Gymnasien). Unterschiede in den Curricula und Lerngelegenheiten erschweren zudem einen guten Vergleich. Im letztgenannten Zitat deutet sich eine Schwierigkeit an, die beim Vergleich verschiedener Schulsysteme immer wieder eine Rolle spielt: Es kommt immer darauf an, mit welchen Voraussetzungen Schüler*innen in verschiedene Schulformen übergehen. Um Gesamtschulen und gegliederte Schulsysteme gut vergleichen zu können, wäre es notwendig, dass sich Schüler*innen in den Voraussetzungen möglichst stark ähneln, weil dann Unterschiede in Lernzuwächsen auch deutlich auf das Schulsystem zurückgeführt werden können (wenn man mal davon absieht, dass es noch andere Einflüsse wie die Ausbildung von Lehrkräften etc. gibt).

Das Problem der Eingangsselektivität

Man spricht hierbei auch von der Eingangsselektivität (vgl. Pfost et al., 2010; Ditton & Krüsken, 2006), was meint, dass Schüler*innen sich schon beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schulform stark in für das Lernen relevanten Merkmalen unterscheiden. Es ist ein gut belegter Befund der empirischen Bildungsforschung, dass die schulische Leistung von Schüler*innen stark mit den von ihnen ‚mitgebrachten‘ Voraussetzungen zusammenhängen (vgl. Renkl, 2020; vgl. Maaz et al., 2007). Dies meint nicht nur die kognitiven Fähigkeiten oder das Vorwissen aus der Grundschule, sondern auch Aspekte wie den sozio-ökonomischen Status der Familie (z.B. über wieviel Geld eine Familie für weitere Bildungsausgaben verfügt, Berufstätigkeit der Eltern), das Bildungsniveau der Familie (z.B. Abschlüsse der Eltern, Zugang zu Bildungsmedien), oder der Migrationsstatus der Familie (z.B. Kenntnis der Unterrichtssprache) (vgl. Watermann & Baumert, 2006).

Die Eingangsselektivität ist im deutschen Schulsystem relativ groß und es bestehen große Unterschiede zwischen den Voraussetzungen von Schüler*innen der verschiedenen Schulformen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der Komposition der Schülerschaft einer Schule oder Schulform (vgl. Baumert et al., 2006). Im IQB-Bildungstrend 2018, der aktuellsten veröffentlichten, auf deutschlandweit repräsentativen Daten für die Sekundarstufe I (bezogen auf die 9. Klasse) beruhenden Untersuchung, wurde bspw. beobachtet, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft an Gymnasien und nicht-gymnasialen Schulformen stark unterscheidet. So hatte an Gymnasien im Jahr 2018 ein Anteil von MW = 27,7% (SD = 19,7%) der Schüler*innen einen Zuwanderungshintergrund (mindestens ein im Ausland geborener Elternteil), an nicht-gymnasialen Schulformen demgegenüber MW = 34,4% (SD = 25,6%) (Schipolowski et al., 2019, 148). Ebenso hatten an Gymnasien MW = 60,8% (SD = 7,4%) der Schüler*innen einen mittleren sozio-ökonomischen Status (erfasst mit dem HISEI (Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status), vgl. Ganzeboom et al., 1992). An nicht-gymnasialen Schulformen betrug dieser Anteil MW = 42,3% (SD = 7,5%).

Seit den ersten Studien zur integrierten Gesamtschule hat sich im deutschen Schulsystem viel verändert. Ihr Anteil ist gestiegen und es wurden eine Reihe größere large-scale-assessments durchgeführt, die es ermöglichen, Unterschiede in Leistungsständen und Lernverläufen zwischen verschiedenen weiterführenden Schulformen zu betrachten. Auf Basis von Daten der BIJU-Studie (Bildungsprozesse und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter), in der von N = 2964 Schüler*innen in der 7. und 10. Klasse mit standardisierten Tests Leistungen im Fach Mathematik und Englisch erfasst wurden, konnten bspw. Köller & Baumert (2001) feststellen, dass sich die Leistungen der Schüler*innen je nach Schulform unterschiedlich entwickeln. Am Gymnasium erreichten Lernende in Klasse 10 die höchsten Werte, lagen aber auch in Klasse 7 schon über den anderen Schulformen. Die Leistungen von Schüler*innen an integrierten Gesamtschulen lagen zwischen denen an Haupt- und Realschulen. Zugleich ergaben sich Unterschiede dahingehend, dass sich auch die Zuwächse an den Schulformen unterschieden, bspw. nahmen die Leistungen im Fach Englisch an Gymnasien auch stärker zu, als an den anderen Schulformen (Baumert et al., 2006). Ähnliche Muster konnten auch in den verschiedenen PISA-Studien beobachtet werden. Bspw. erreichten Schüler*innen an Gymnasien in der PISA-Untersuchung 2012 (N = 5001 15-jährige Schüler*innen, davon ca. 24,3% an einer Form der Gesamtschule) durchschnittlich den höchsten Wert in allen Kompetenzbereichen. Die durchschnittlichen Leistungen von Schüler*innen an Gesamtschulen lagen zwischen den Mittelwerten der Haupt- und der Realschule (z.B. Mathematik: Sälzer et al., 2013b, Naturwissenschaften: Schiepe-Tiska et al., 2013). Auch hier lag – wie schon aus älteren Untersuchungen bekannt – eine starke Varianz der Werte zwischen einzelnen Schüler*innen vor, so dass sich größere Überlappungsbereiche auch zwischen den Schulformen ergaben. In den IQB-Ländervergleichen bzw. Bildungstrends sowie in den PISA-Studien 2015 und 2018 wurden nur das Gymnasium und nicht-gymnasiale Schulformen unterschieden (vgl. hierzu auch Hurrelmann, 2013), wobei Schüler*innen an Gymnasien insgesamt häufiger höhere Kompetenzstufen erreichten (vgl. Reiss et al., 2019; vgl. Reiss et al., 2016; Kölm & Mahler, 2019; Pant et al., 2013). Der von Heinz-Peter Meidinger formulierte „beispiellose Absturz“ (Meidinger, 2021, 39) Baden-Württembergs in nationalen Schulleistungsvergleichen ab 2016 zeigt sich im IQB-Bildungstrend bspw. wie folgt. Der Anteil von Schüler*innen, die den Mindeststandard in Mathematik nicht erreicht hat, sank zwischen den Bildungstrends 2012 und 2018 um ca. 1% und der Anteil, der den Regelstandard erreichte oder übertraf stieg um ca. 2,8% (Kölm & Mahler, 2019, 163f.). Wohl sank aber der Anteil von Schüler*innen an Gymnasien, die den Optimalstandard erreichten (um ca. 5,5%, Kölm & Mahler, 2019, 166). Eine genauere Unterscheidung zwischen Schulformen ist auf Basis der veröffentlichten Daten allerdings nicht möglich.

In allen diesen Untersuchungen wird aber auch ein starker Zusammenhang zwischen Schüler*innenleistungen und dem sozio-ökonomischen, familiären Hintergrund festgestellt, wobei ein ’schwächerer‘ Hintergrund mit schwächeren Leistungen einhergeht (z.B. Mahler & Kölm, 2019; Müller & Ehmke, 2013; vgl. Maaz et al., 2007). Dieser starke Zusammenhang zwischen Voraussetzungen und Lernleistungen erschwert und der stark unterschiedliche Anteil von Schüler*innen bzgl. dieser Voraussetzungen auf unterschiedliche Schulformen erschwert den Vergleich der Wirkungen von Gesamtschulen und einem gegliederten Schulsystem. Inwiefern können Unterschiede in Lernleistungen nun hauptsächlich auf die Schulform (und bspw. damit die Zusammensetzung der Schüler*innenschaft nach Fähigkeiten) zurückgeführt werden, wenn andere Einflussfaktoren so ungleich verteilt sind? Baumert et al. (2006) haben bspw. anhand von Querschnitts-Daten der nationalen Erweiterung der ersten PISA-Studie 2000 untersucht, zu welchem Anteil Unterschiede in den Testergebnissen zur Lesekompetenz zwischen Schulen durch Unterschiede auf der individuellen (z.B. kognitive Fähigkeit, sozio-ökonomischer Status) oder auf institutionellen Ebene (z.B. Schulform, mittleres Leistungsniveau einer Klasse) erklärt werden können. Hierfür berechneten sie komplexe Mehrebenen-Regressionsmodelle. Den größten Einfluss auf individueller Ebene hatten dabei die kognitive Grundfähigkeit (positiv), falls in Deutsch nicht Familiensprache war (negativ) und wenn die Eltern über keine Berufsausbildung verfügten (negativ). Auf institutioneller Ebene hatte die mittlere kognitive Grundfähigkeit einer Klasse, aber auch sie Schulform einen signifikanten Einfluss. Unterschiede zwischen Schulen konnten dabei zum größten Teil durch konfundierte Faktoren erklärt werden, also Faktoren, die das Zusammenwirken mehrerer einzelner Variablen betrachtet (z.B. mittleres Fähigkeitsniveau, Schulform, mittleres Bildungsniveau der Eltern). Der ‚reine‘ Anteil der Schulform war eher gering (Baumert et al., 2006, S. 132). Auch hier zeigt sich, dass die Eingangsselektivität von Schulformen einen großen Einfluss darauf hat, wie Ergebnisse von Leistungsvergleichen zwischen Schulen ausfallen.

Ein Blick in noch aktuellere Analysen

Die Frage danach, ob ein gegliedertes Schulsystem gegenüber einem System aus Gesamtschulen bessere Lernleistungen erzeugt, wurde auch in noch aktuelleren Untersuchungen erneut betrachtet. Esser & Seuring (2020) analysierten, ob innerhalb der deutschen Bundesländer Schulsysteme nach ‚Schärfe‘ der Verteilung von Schüler*innen nach Leistungen bzw. Leistungsfähigkeit nach der Grundschule auf weiterführende Schulformen (operationalisiert nach der Verbindlichkeit der Übergangsempfehlung) Unterschiede hinsichtlich der Lernleistungen bestehen. Vermutet wurde auf Grundlage des komplexen MoAbiT (Model of Ability Tracking, Esser, 2016), dass innerhalb der Schulformen im Vergleich insgesamt höhere Leistungen erzielt werden und dass die Unterschiede zwischen Schüler*innen aufgrund der Voraussetzungen (z.B. sozio-ökonomischer Hintergrund) durch die Differenzierung nicht zunehmen. Grundlage bildeten Daten einer (nicht-repräsentativen) Kohorte Schüler*innen (N = 2662, 13 Bundesländer) in der National Educational Panel Study (NEPS, Blossfeld et al., 2011), deren Leistungen im Lesen und in Mathematik erfasst wurden. Grob zusammengefasst berichten die Autoren auf Basis komplexer hierarchischer Regressionsmodelle, dass ihre Annahmen zutreffen, und kognitive homogenere Schulformen einen Vorteil für die Leistungsentwicklung bilden.

Wurde nun gezeigt, dass gegliederte Schulsysteme vorteilhafter sind als Gesamtschulsysteme? Heisig & Matthewes (2022) argumentieren, dass dies nicht geschlossen werden kann, da kein Schulsystem mit Gesamtschulen mit gegliederten Systemen verglichen wurde, sondern verschiedene gegliederte Schulsysteme untereinander. Sie können allerdings auf Basis desselben Datensatzes und denselben Analysemethoden die Ergebnisse von Esser & Seuring (2020) nicht replizieren. Der Grund hierfür ist auch hier (unter anderem) wieder die Eingangsselektivität verschiedener Schulformen, deren Kontrolle in der Erststudie auch Heisig & Matthewes (2022) kritisieren. Als zentrales Maß der Fähigkeit wurden Maße der kognitiven Fähigkeit zu Beginn von Klasse 5 verwendet. Wurde aber zusätzlich kontrolliert, dass sich Grundschüler*innen in Bundesländern mit unterschiedlich ’strikten‘ Verteilungen nach Fähigkeiten auf weiterführende Schulformen schon vor dem Übergang unterscheiden, dann ließen sich die Ergebnisse von Esser & Seuring (2020) nicht mehr replizieren. Grundschüler*innen unterscheiden sich zwischen den Bundesländern stark bzgl. ihrer Kompetenzen im Lesen und in Mathematik, was auch wiederum mit dem sozio-ökonomischen Hintergrund zusammenhängt (Stanat et al., 2022). Lorenz & Lenz (2022) nutzten die repräsentativen Daten der IQB-Bildungstrends 2015 und 2018 (N = 28.625 Schüler*innen (Deutsch) bzw. 20.772 Schüler*innen (Mathematik)) und versuchten die Ergebnisse von Esser & Seuring (2020) ebenfalls zu replizieren. Sie kamen zu folgendem Ergebnis: „Allerdings unterschied sich die kognitive Homogenität nur in der Stichprobe aus dem Jahr 2015 signifikant zwischen den Systemen. Ein (scheinbar systembedingter) Leistungsvorteil in den Bundesländern mit einer strikten Leistungsdifferenzierung konnte wiederum nur für die Stichprobe aus dem Jahr 2018 und den Kompetenzbereich Mathematik festgestellt werden.“ (Lorenz & Lenz, 2022). Effekte ließen sich also nur teilweise zeigen, wobei die Mechanismen des MoAbiT nicht bestätigt werden konnten. Zusätzlich sehen Lorenz & Lenz (2022) die Tendenz, dass leistungsschwächere Schüler*innen in ’strikt‘ differenzierenden Systemen weniger von einer kognitiven Homogenisierung profitieren, und sie weisen auf die Unterschiede zwischen den Voraussetzungen in den Bundesländern hin.

Fazit

Was kann die empirische Bildungsforschung nun zur Gesamtschule sagen? Ist ein Schulsystem aus Gesamtschulen, also einer Schulform nach der Grundschule für alle Schüler*innen, einem gegliederten System überlegen? Oder ist sie in den Worten von Heinz-Peter Meidinger „umfassend und klar gescheitert“ (Meidinger, 2021, 38). Trotz vieler komplexer Analysen und umfangreicher Untersuchungenn lässt sich dies nicht pauschal mit ‚Nein‘ oder ‚Ja‘ beantworten.

Ein Grund hierfür ist eher forschungsmethodischer Natur. Um Unterschiede zwischen Schulsystemen eindeutig auf die Schulformorganisation zurückführen zu können, müssten im idealen Fall zwei Gruppen von Schüler*innen unterschieden werden, die in der Verteilung möglichst aller lernrelevanten Einflussfaktoren (z.B. kognitive Fähigkeiten, sozio-ökonomischer Hintergrund, Familiensprache) hinreichend gleich sind, sich aber nur darin unterscheiden, in was für einem schulischen System sie in ihrer Schullaufbahn unterwegs sind (und auch dann müssten die zur Verfügung stehenden Lerngelegenheiten, Ausbildung der Lehrkräfte u.v.a hinreichend ähnlich sein). Eine solche Studie bzw. eine solche Ausgangslage wird sich aber unter Realbedingungen kaum herstellen lassen. Solange Gesamtschulen neben den traditionellen Schulen des dreigliedrigen Schulsystems bestehen, wird es aufgrund vieler Gründe so gut wie immer dazu kommen, dass sich bzgl. der Voraussetzungen der Schüler*innen unterschiedliche Verteilungen in verschiedenen Schulformen ergeben und daher eine gewisse Eingangsselektivität bestehen bleiben. Das hat auch damit zu tun, dass mit unterschiedlichen Schulabschlüssen auch bei sonst vergleichbaren Lernleistungen der Schüler*innen stark unterschiedliche weitere Lebenschancen einhergehen (z.B. Schuchart, 2007) und dies den Beteiligten auch bewusst ist.

Ein anderer Grund liegt darin, dass die vorliegenden Forschungsergebnisse auch darauf hindeuten, dass es für die Förderung inhaltsbezogener Kompetenzen weniger auf die äußere strukturelle Gestaltung von Schule ankommt, sondern auf die innere Gestaltung, also darauf, was konkret mit den Schüler*innen im Unterricht gemacht wird. Anders gesagt, es hat einen größeren Effekt, wenn die konkreten Lerngelegenheiten einer konkreten Klasse möglichst qualitätsvoll sind (vgl. Gräsel & Göbel, 2022), als wenn das gesamte System einer bestimmten Struktur folgt. Das soll nicht bedeuten, dass das Schulsystem keine Rolle spielt, es existieren nur eine Menge anderer Stellschrauben, an denen ebenfalls gedreht werden könnte, um Lernleistungen zu verbessern, die nicht auf der obersten Strukturebene liegen. Oder wie Hattie (2002) es formuliert: „Good teaching can occur independently of the class configuration or homogeneity of the students within the class.“ (Hattie, 2002, 449)

Einen bestimmten, positiven Effekt hat die Einführung von Gesamtschulen bzw. die damit verbundenen Untersuchungen und Diskussionen allerdings auf jeden Fall ergeben. Durch sie wurden auch affektiv-emotionale Aspekte der Schule (z.B. Leistungsangst, Schulstress) in der empirischen Bildungsforschung stärker untersucht und insbesondere auch in anderen Schulformen in den Fokus genommen (vgl. Mattes, 2017). Die dritte Todsünde der Bildungspolitik wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er wird an dieser Stelle verlinkt, sobald er online zugänglich ist.

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