„Die können doch alle eh nix!“ vs.
„Ihr habt doch keine Ahnung vom Fach!“
Der Quer- bzw. Seiteneinstieg ins Lehramt wird immer wieder kontrovers diskutiert. Dabei argumentieren die Beteiligten häufig vor dem Hintergrund bestimmter und auch häufig wenig hinterfragter Vorannahmen oder Meinungen. Solche Annahmen zu prüfen, ist auch eine Aufgabe der empirischen Bildungsforschung. In einer kleinen Artikelreihe tragen wir daher einige Erkenntnisse aus der Forschungsliteratur zu Fragen des Quer- und Seiteneinstiegs zusammen. Den ersten Teil dieser Reihe finden Sie hier.
Welche Unterschiede bestehen zwischen Quereinsteiger*innen und grundständig ausgebildeten Lehrkräften?
In einem frisch veröffentlichten Beitrag im Band 6 der Reihe Schulpraktische Studien und Professionalisierung fasst Raphaela Porsch den Stand der empirischen Bildungsforschung zu drei Thesen der Debatten zum Quereinstieg ins Lehramt zusammen (Porsch, 2021). Für alle, die sich für Forschung zum Quereinstieg interessieren, ist dieser Beitrag eine großartige Fundgrube. Daher möchte ich an dieser Stelle schon einmal eine Leseempfehlung aussprechen. Sie unterscheidet dabei drei Thesen, die auch in diesem Beitrag aufgegriffen werden und zu denen ich exemplarisch etwas vertiefter in einzelne Studien schauen möchte.
„These 1: Quer- und Seiteneinsteiger*innen verfügen nicht über ausreichend hohe bzw. günstig ausgeprägte professionelle Kompetenzen“ (Porsch, 2021, S. 210)
Dies ist eine der häufigsten Annahmen zu Lehrkräften mit alternativem Zugang zum Beruf. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Ansicht, dass Quereinsteiger*innen gerade im fachlichen Bereich sogar besser qualifiziert wären, als Lehrkräfte mit grundständigem Lehramtsstudium. Die empirische Prüfung solcher Annahmen ist aber durchaus herausfordernd, da professionelle Kompetenzen eine große Zahl unterschiedlicher Dispositionen bzw. Voraussetzungen betreffen. Der Definition von Baumert & Kunter (2006) folgend bilden z.B. sowohl das professionelle Wissen, als auch Überzeugungen sowie motivationale und volitionale Orientierungen wichtige Bestandteile professioneller Handlungskompetenz von Lehrkräften. Dabei wird das professionelle Wissen in der deutschsprachigen Forschung häufig grob in die drei Dimensionen fachliches Wissen, fachdidaktisches Wissen und pädagogisches Wissen unterschieden (in Anlehnung an z.B. Shulman, 1986). Generell muss man allerdings festhalten, dass eher wenig Untersuchungen vorliegen, die das professionelle Wissen von (angehenden) Lehrkräften untersuchen und dabei einen Vergleich zwischen Personen mit grundständigem und alternativem Zugang zum Lehramt ermöglichen. Wie schon im letzten Beitrag gesehen, liegen auch hier hauptsächlich Ergebnisse zu MINT-Lehrkräften vor.
Eine wichtige Studie hierzu stammt aus dem Projekt COACTIV-R (Cognitive Activation in the Classroom), die es als ein Projekt der Bildungsforschung sogar zu einem Wikipediaeintrag gebracht hat. In diesem Projekt wurden ca. 800 Referendar*innen mit dem Fach Mathematik in den Jahren 2007 und 2009 zu ihrem professionellen Wissen befragt. Dies geschieht mit standardisierten, schriftlichen Leistungstests (im Prinzip sehr gut validierte Aufgaben). Die Ergebnisse finden sich in verschiedenen Publikationen. Dabei konnten keine Unterschiede bezogen auf das fachmathematische und das mathematikdidaktische Wissen zwischen Quereinsteiger*innen und grundständig ausgebildeten Referendar*innen festgestellt werden, allerdings verfügten die Quereinsteiger*innen signifikant über ein etwas geringeres pädagogisch-psychologisches Wissen (Lucksnat et al., 2020). Allerdings muss hierbei beachtet werden, dass die Zahl der Quereinsteiger*innen mit N = 72 zu den grundständigen Lehrkräften von N = 770 eher klein war und die Zahl der Seiteneinsteiger*innen die der Quereinsteiger*innen häufig weit übersteigt (vgl. KMK, 2021). Insofern sagt die Studie eher etwas über die Personen aus, die zumindest die zweite Phase der Lehramtsausbildung absolvieren und nicht über den größten Anteil an Lehrkräften aus einem alternativen Zugang ins Lehramt.
Aber auch bezogen auf Referendar*innen mit dem Fach Physik konnten keine signifikanten Unterschiede im physikalisch-fachlichen und dem physikdidaktischen Wissen festgestellt werden (Oettinghaus, 2016), davon N = 147 Quereinsteiger*innen und N = 221 Referendar*innen mit grundständigem Lehramtsstudium. Auch hier fehlen aber Daten zu Seiteneinsteiger*innen. In beiden Studien wurden ebenfalls keine bedeutsamen Unterschiede bzgl. der motivationalen Orientierungen (z.B. Berufsmotivation) oder Einstellungen (z.B. zum Lehren und Lernen) beobachtet. Insgesamt liegen für eine eindeutige Betrachtung der These noch zu wenige Untersuchungen vor, insbesondere für die Nicht-MINT-Fächer.
„These 2: Der Unterricht von Quer- und Seiteneinsteigerinnen weist eine geringere Qualität auf als der Unterricht von traditionell ausgebildeten Lehrkräften und führt zu Nachteilen in der Lernentwicklung bei Schülerinnen.“ (Porsch, 2021, S. 212)
Wurde vorher betrachtet, ob Quer- und Seiteneinsteigende über andere Kompetenzen verfügen, als Lehrkräfte mit Lehramtsstudium, bezieht sich diese zweite These eher auf den Unterricht, der von diesen auch tatsächlich angeboten wird. Es liegen allerdings keinerlei Studien vor, die einen Vergleich der Unterrichtsqualität (z.B. in Videostudien) ermöglichen. Betrachtet man die Leistungen von Schüler*innen, können mit den Ergebnissen der repräsentativen Untersuchungen des IQB-Bildungstrends (vgl. auch den ersten Beitrag) Vergleiche zwischen den Gruppen vorgenommen werden. Für die Fächer Deutsch konnten bzgl. der Sekundarstufe I keine Unterschiede in Schüler*innenleistungen von grundständig ausgebildeten Lehrkräften und Quer- bzw. Seiteneinsteiger*innen beobachtet werden, für das Fach Englisch geringe Unterschiede, wenn die Zusammensetzung der Klassen in Mehrebenenanalysen berücksichtigt wurde (vgl. Stanat et al., 2016). Insgesamt betrug der Anteil von Quer- und Seiteneinsteigenden im Fach Deutsch bundesweit 5,6%, im Fach Englisch 6,8%. Dabei stellte sich aber als methodische Schwierigkeit die Zuordnung befragter Schüler*innen zu Lehrkräften heraus: „Im Fach Deutsch konnten je nach Kompetenzbereich zwischen 57 und 59 Prozent der Schülerinnen und Schüler eindeutig einer Lehrkraft zugeordnet werden. In den Kompetenzbereichen des Fachs Englisch lagen die Zuordnungsquoten bei jeweils 55 Prozent. Erschwert wurde der Abgleich von Schüler- und Lehrerdaten insbesondere durch unvollständige oder inkorrekte Angaben der Lehrkräfte. Auch wurde der Lehrerfragebogen nicht in jedem Fall von der Lehrkraft bearbeitet, die in der jeweiligen Klasse das betreffende Fach auch tatsächlich unterrichtete.“ (Stanat et al., 2016, S. 497) Die Ergebnisse sind daher auch mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Für die Naturwissenschaften und Mathematik konnten ebenfalls keine Unterschiede bei gleicher Analysestrategie und behaftet mit ähnlichen methodischen Schwierigkeiten beobachtet werden (vgl. Stanat et al., 2019, S. 404). Übrigens: fachfremdes Unterrichten hingegen hatte einen negativen Effekt in allen untersuchten Hauptfächern. Bezogen auf die These 2 insgesamt liegen aber zu wenige Ergebnisse vor, um eindeutige Aussagen zu treffen.
Auch wenn eher wenige Studien bezogen auf die Kompetenzen von Quereinsteigenden in Deutschland vorliegen, deutet sich in der Tendenz bisher an, dass kaum Unterschiede zu Lehrkräften mit grundständigem Studium festgestellt werden (über Seiteneinsteiger*innen ist kaum etwas bekannt). Vor dem Hintergrund der Forschungslage könnte man daher auf den Gedanken kommen: „Ist doch alles halb so wild. Scheint doch kein Problem vorzuliegen“. Warum wird der Quereinstieg bzw. eigentlich der Seiteneinstieg dann immer wieder so kontrovers und emotional diskutiert? Diese Frage wird, ebenso wie die dritte These von Porsch (2021), das Thema des dritten Beitrags zum Thema Quereinstieg ins Lehramt bilden. Man findet ihn hier.
Literatur
- Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(4), 469–520. (Online)
- Lucksnat, C., Richter, E., Klusmann, U. & Richter, D. (2020). Unterschiedliche Wege ins Lehramt – unterschiedliche Kompetenzen? Ein Vergleich von Quereinsteigern und traditionell ausgebildeten Lehramtsanwärtern im Vorbereitungsdienst. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 1–16, (Online)
- KMK (2021). Einstellung von Lehrkräften 2020. (Online)
- Oettinghaus, L. (2016). Lehrerüberzeugungen und physikbezogenes Professionswissen. Vergleich von Absolventinnen und Absolventen verschiedener Ausbildungswege im Physikreferendariat. Berlin: Logos.
- Porsch, R. (2021). Quer- und Seiteneinsteiger*innen im Lehrer*innenberuf – Thesen in der Debatte um die Einstellung nicht traditionell ausgebildeter Lehrkräfte. In C. Reintjes, T-S. Idel, Bellenberg, G., & Thönes, K. V. (Hrsg.). Schulpraktische Studien und Professionalisierung: Kohärenzambitionen und alternative Zugänge zum Lehrberuf (S. 207-228). Münster: Waxmann. (Online)
- Shulman, L. S. (1986). Those who understand. Knowledge growth in teaching. Educational Researcher, 15(2), 4–14. (Online)
- Stanat, P., Böhme, K., Schipolowski, S., & Haag, N. (Hrsg.). (2016). IQB-Bildungstrend 2015: sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann. (Online)
- Stanat, P., Schipolowski, S., Mahler, N., Weirich, S., & Henschel, S. (Hrsg.) (2019). IQB-Bildungstrend 2018. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann. (Online)